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Veröffentlicht am 14.03.2021

Ruhiher Klosterroman - Einsichten eines Mönches

Aus der Mitte des Sees
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Es gibt Bücher, die überraschen durch Stille und Unaufgeregtheit - und je mehr man sich auf sie einlässt, desto mehr geben sie zurück. "Aus der Mitte des Sees" von Moritz Heger ist so ein Buch. Stille ...

Es gibt Bücher, die überraschen durch Stille und Unaufgeregtheit - und je mehr man sich auf sie einlässt, desto mehr geben sie zurück. "Aus der Mitte des Sees" von Moritz Heger ist so ein Buch. Stille ist gewissermaßen Bestandteil des Genius Loci, spielt die Handlung doch in einem Benediktinerkloster in der Eifel. Für Bruder Lukas, mit etwa 40 Jahren nicht mehr wirklich jung, aber auch noch nicht alt, ist der zum Kloster gehörende Vulkansee Ruhe- und Rückzugsort. Hier pflegte er mit seinem Mitbruder Andreas schwimmen zu gehen, mit dem er vor 16 Jahren in den Orden eintrat. Nicht nur das gemeinsame Noviziat verband - die beiden waren die jüngsten Mönche, Zeichen, dass das Kloster noch lebendig war, obwohl alle anderen Mönche schon deutlich älter waren.

Doch jetzt ist Lukas alleine - Andreas verliebte sich in eine Frau, verließ das Kloster, seit kurzem ist er Vater und zu Beginn des Romans zögert Lukas mit dem Schreiben seiner Antwort an die junge Familie, fast als wolle er Andreas für seinen Treuebruch bestrafen. In dem ruhig erzählten Roman folgen die Leser Lukas in seiner Alltagsroutine und zu seinen Auszeiten am Steg. Die täglichen Gebetszeiten, das "Ora et labora" prägen den Klosteralltag im 21. Jahrhunderten ebenso wie einst im Mittelalter. Manches hat sich allerdings geändert. Es gibt einen Freundeskreis zum Erhalt der Basilika und zahlende Gäste, die im Kloster für ein paar Tage Rückzug aus ihrem Alltag suchen. Lukas ist der Gastbruder und damit für die Besucher zuständig.

Ausgerechnet in den Tagen, an denen er mit sich ringt, was und wie er Andreas antworten will, wie er zu dem einstigen Mitbruder, ehemaligen oder immer-noch-Freund steht, tritt mit der Schauspielerin Sarah eine Frau in sein Leben. Keines von den Kloster-Groupies, die gerne mal einen Mönch verführen wollen. Und doch macht sie ihn neugierig, will er sich auf sie einlassen, mehr, als die Regeln erlauben. Ist für Lukas eine Liebe möglich, wie Andreas sie gefunden hat? Oder fühlt er sich an sein Gelübde gebunden, gerade in einer Zeit, da die Überalterung der Mönchsgemeinschaft die Zukunft in Frage stellt und er die Möglichkeit hätte, als Prior und rechte Hand eines neuen Abtes Verantwortung zu übernehmen?

Der Mönch in der Lebensmitte und Lebenskrise - sein langjähriger Mentor liegt nach einem Schlaganfall im Sterben, Sarah lässt ihn eine neue Lebendigkeit spüren und steht zugleich für Möglichkeiten, die ihm auch Angst machen - hadert nicht mit seinem Leben, aber es spürt eine Nachdenklichkeit, die auch die Sprache des Buches prägt. Wenn ein Buch introvertiert sein kann, dann ist "Aus der Mitte des Sees" dies. Damit hat, meine ich, der Autor eine sehr angemessene Sprache für seinen Klosterroman gefunden, denn Kontemplation gehört schließlich auch zu Leben in der Klausur.

Zugleich gibt Heger, der sich regelmäßig eine Auszeit im Kloster gönnt, Einblicke in eine Lebenswirklichkeit, die sich seit vielen Jahrhunderten nur wenig verändert hat. Das Schwimmen im See verbildlicht auch das Getragen-werden durch den Glauben der Mönche, die Schwärze des Wassers in der Nacht die Ängste und Zweifel. Dieses Buch ist wie eine Pause im hektischen Alltag und spricht gerade durch seine ruhige Art um so deutlicher.

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Veröffentlicht am 25.02.2021

Der Hass der Ungeliebten

Rattenkönig
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Pascal Engman hat als Journalist gearbeitet - das wird in seinem Kriminalroman "Der Rattenkönig" nicht nur an der realistischen Schilderung von Redaktionsabläufen deutlich, er weiß auch, wie man einen ...

Pascal Engman hat als Journalist gearbeitet - das wird in seinem Kriminalroman "Der Rattenkönig" nicht nur an der realistischen Schilderung von Redaktionsabläufen deutlich, er weiß auch, wie man einen komplexen Sachverhalt mit einem Spannungsbogen aufbereitet, der die Leser fesselt. Nachdem er sich in seiner vorherigen Romanen etwa mit Rassismus und rechtsextremen Milizen befasst hat, geht es in seinem neuen Roman um Hass auf Frauen und die sogenannten Incels - Männer, die unfreiwillig zölibatär sind, weil sie bei Frauen nicht punkten können. Aus Frustration und Minderwertigkeitsgefühlen, Scham und Unzulänglichkeitsgefühlen entwickelt sich bei ihnen Hass mit Gewalt- und Allmachtfantasien.

Wie schon im Vorgängerroman "Feuerland" führt Engman die schwedische Kommissarin Vanessa Franck und den ehemaligen Elitesoldaten Nicholas Paredes zusammen - beide Einzelgänger, bei Menschen, denen es schwer fällt, sich anderen zu öffnen und die in Chile bei einem gemeinsamen Einsatz unbedingtes Vertrauen zueinander entwickelt haben.

Vanessa ermittelt in einem Frauenmord - die Sache scheint klar: Der ehemalige Lebensgefährte der Toten, ein inhaftierter Gewalttäter, hatte der Frau nach Bekanntgabe der Trennung gedroht, er werde sie umbringen. Am Tattag hatte er Freigang - und in seiner Zelle, an seinen Schuhen, wurden Blutspuren gefunden. Er hatte Motiv und Gelegenheit, die Tat passt zu seinem vergangenen Verhalten - doch dann meldet sich bei Vanessa eine junge Journalistin, die in der Tatnacht Opfer einer Gruppenvergewaltigung wurde und beim Haftprüfungstermin in dem Mordverdächtigen einen der Täter erkannt hat. An die Öffentlichkeit will sie mit dieser Information auf gar keinen Fall - Vanessa muss nun ermitteln, ohne ihre Quelle zu offenbaren. Ein Jugendfreund von Nicholas, der in der gleichen JVA einsitzt, soll Angaben zu möglichen Feinden im Gefängnis machen. Doch dann erhält Nicholas Informationen, die dem Fall eine ganz neue Richtung geben...

Und noch ein Frauenmord in einem ganz anderen Milieu wirft Fragen auf. Auch hier gibt es einen offensichtlichen Tatverdächtigen, und auch hier stößt Vanessa auf Widersprüche, die ihre Vorgesetzten zunächst nicht akzeptieren wollen.

In verschiedenen Handlungssträngen thematisiert Engman immer wieder Gewalt gegen Frauen, toxische Beziehungen, Ausnutzung von Machtpositionen, aber auch den ganz alltäglichen Sexismus im Arbeitsleben. Der überbordende Hass, der zu einem dramatischen und blutigen Finale führt, ist da nur die Spitze des Eisbergs.

Mit "Der Rattenkönig" steht Engman in bester Tradtion anspruchsvoller Schwedenkrimis, in denen Spannung und Gesellschaftskritik verknüpft werden. Ein Cozy Krimi ist sein Buch ganz sicher nicht - manche Szenen sind hart und schmerzhaft zu lesen, gerade weil sie Vorgänge beschreiben, die eben nicht (nur) Ausgeburt der Phantasie eines Autors sind, sondern ebenso gut in einem Zeitungsbericht gefunden werden können. Da passt es, dass den verschiedenen Buchabschnitten Zitate anonymer Frauenhasserinnen vorangestellt sind, bei denen nicht klar ist, ob sie fiktiv sind oder aus einem einschlägigen Internetmanifest stammen.

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Veröffentlicht am 21.02.2021

Zu schön, um wahr zu sein

Der Weltreporter
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Journalistennachwuchs wird schon ganz zu Beginn eingeschärft: Wenn eine Geschichte zu schön ist, um wahr zu sein, dann stimmt sie meistens auch nicht. Also Vorsicht, sorgfältig recherchieren und Fakten ...

Journalistennachwuchs wird schon ganz zu Beginn eingeschärft: Wenn eine Geschichte zu schön ist, um wahr zu sein, dann stimmt sie meistens auch nicht. Also Vorsicht, sorgfältig recherchieren und Fakten checken. Denn wer auf einen Fake reinfällt oder gar eine Fälschung verbreitet, macht sich nicht nur selber zum Gespött, sondern gibt denen Aufwind, die auch heute wieder laut und oft "Lügenpresse" schreien.

Dass auch gestandene Profis dem Sog der zu schönen als wahrscheinlichen Geschichte erliegen können, das hat das Beispiel des "Stern" und der gefälschten Hitler-Tagebücher ebenso bewiesen wie zuletzt der große Sündenfall beim "Spiegel" mit dem als Edelfeder gehypten Claas Relotius. Der schrieb zwar schön, gab aber leider Phantasiewerke als echte Reportagen aus. Seitdem kennt man in der Branche den Begriff "das ist wohl eher geclaast", wenn eine Geschichte mal wieder zu schön klingt, um wahr zu sein.

Mit seinem Buch "Der Weltreporter" ging "Welt"-Korrespondent Hannes Stein einen ganz anderen Weg: Er schrieb nämlich gleich einen Roman. Über den Journalisten Bodo von Unruh, der bei einem Nachrichtenmagazin arbeitet, das nicht mit Spesenkosten für große Exklusivreportagen geizt. Und Bodo von Unruh, so heißt der schon etwas angejahrte Starreporter, liefert grandiose Entdeckungen: Im tiefsten brasilianischen Urwald findet er die Überreste einer bajuwarischen Rätemonarchie, bei der Ursozialismus und Verehrung der Wittelsbacher Hand in Hand gehen. Ganz nebenbei muss auch noch die Geschichte vom traurigen Schicksal des Märchenkönig Ludwig II. umgeschrieben werden. Oder die utopische Stadt im fernen Sibirien, abgeschottet hinter Mauern, wo eine künstliche Intelligenz den Alltag steuert. Der Indianerstamm, der den ansonsten aus dem Gedächtnis der Amerikaner getilgten 45. Präsidenten verehrt, der als Hologramm weiterhin verspricht, Amerika wieder groß zu machen.

"Der Weltreporter" spielt in einer nicht allzu fernen Zukunft, Nummer 45 ist bereits Geschichte, doch es gibt noch Menschen, die sich an die Tragödien und Irrwege des 20. Jahrhundert erinnern. Derzeit haben die meisten allerdings andere Probleme: Eine Krankheit grassiert, nur ein verschwindend kleiner Teil der Bevölkerung ist immun. Auch Weltreporter Bodo von Unruh hat das exklusive orangene Kärtchen, dass ihm Immunität bescheinigt und erlaubt, überhaupt ohne Tests und Quarantäne im Ausland unterwegs zu sein.

Auch Julia, Philosophiestudentin mit einer Vorliebe für Stoiker, gehört zu den Wenigen, die die Krankheit nicht mehr fürchten müssen. Die beiden lernen sich in einer Hotelbar kennen, aus einem One night Stand wird eine Liebesbeziehung, unterbrochen von den Pausen, wenn Bodo für seine Reportagen unterwegs ist, ob nun nach Afghanistan, wo Drogenlords im Hindukusch eine afghanische Eidgenossenschaft geschaffen haben, in einen indischen Ashram oder zu einem britischen Literaturwissenschaftler, der den Beweis liefert, dass Shakespeare in Wahrheit eine italienische Jüdin war.

Exklusivgeschichten am laufenden Band also, die Liebesgeschichte bildet die Klammer zwischen den Texten. Dann aber gibt es einen Zwischenfall, der Julias Argwohn weckt. Ist Bodo ehrlich zu ihr? Ist er überhaupt ehrlich? Wieso eigentlich ist der angeblich so menschenscheue Fotograf, mit dem er seine Reportagereisen macht, nie aufzufinden, obwohl er im gleichen Haus wie Bodo lebt? Die Studentin entwickelt detektivischen Spürsinn, um der Wahrheit auf die Spur zu kommen.

Manchmal kann ein Journalist die schönsten Geschichten schreiben, wenn er sich nicht an die Tatsachen halten muss, sondern nach Herzenslust der Fabulierlust nachgehen kann - in einem Roman eben. Hannes Stein macht davon reichlich Gebrauch und hatte wohl auch viel Spaß dabei. Dass die Welt, in der die Handlung spielt, von einer globalen Pandemie geprägt ist, sei nur Zufall, versichtrt der Autor in seinem Vorwort. Es sei alles schon vor einem Jahr fertig gewesen. Ehrlich?

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Veröffentlicht am 20.02.2021

Tundra-Geheimnisse

Das Verschwinden der Erde
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Es ist nicht ganz einfach Julia Philipps´ Romandebüt "Das Verschwinden der Erde" gattungstechnisch einzusortieren: Literarischer Thriller, wie der Klappentext verspricht? Oder doch eher ein Episodenroman, ...

Es ist nicht ganz einfach Julia Philipps´ Romandebüt "Das Verschwinden der Erde" gattungstechnisch einzusortieren: Literarischer Thriller, wie der Klappentext verspricht? Oder doch eher ein Episodenroman, der den Blick auf das Leben von Frauen im Fernen Osten Russlands lenkt, eine Zustandsbeschreibung der postsowjetischen Gesellschaft, ausgerechnet von einer Amerikanerin, die zuvor ein bißchen für die Moscow Times bloggte? Der Titel erinnert jedenfalls an ein Lied von Wladimir Wyssotzki, dem Sänger und Schauspieler mit der markant-rauen Stimme und poetischen Texten, in denen es mal um Krieg, mal um Berge und Wildnis ging.

Wenn dieses Buch ein Thriller ist, dann keiner der vordergründigen Sorte. Ein Kriminalfall bildet gewissermaßen die Klammer der Handlung, die sich über ein Jahr hinweg erstreckt, mit jedem für jeweils einen Monat gewidmeten Kapitel, das eine Frauenfigur ins Zentrum rückt. Manche Nebenfigur oder in einem Satz erwähnte könnte in einem anderen Kapitel im Mittelpunkt stehen.

Es ist August und in den Sommerferien, als die beiden Schwestern Aljona und Sofija verschwinden, mitten in der Stadt Petropawlowsk auf der Halbinsel Kamtschatka, die jahrelang militärisches Sperrgebiet war. Der Leser weiß mehr als die Figuren des Romans, die grübeln, was wohl aus den Mädchen geworden ist: Sie stiegen zu einem Fremden ins Auto, einem Mann, der Aljonas Handy an sich nahm, als sie ihre Mutter anrufen sollte. Keine Ausgangslage, die Optimismus auslöst - schon gar nicht, da die Mädchen verschwunden bleiben.

Um Verluste und Verlustängste geht es auch in anderen Kapiteln - toxische Beziehungen, ein verschwundener Hund, eine Frau zwischen zwei Männern, gesundheitliche Sorgen. Manche sehnen sich nach der guten alten Zeit des sowjetischen Imperiums mit seinen klaren Regeln, andere nach dem traditionellen Leben und der Pflege ihrer Identität. Die indigene Bevölkerung der Taiga, die teilweise noch immer mit den Rentierherden im Sommer eine nomadische Lebensweise hat, wird von den Russen als fremd wahrgenommen. Der innerrussische Rassismus ist spürbar.

Zu den eindrücklichsten Passagen von "Das Verschwinden der Erde" gehören die Landschaftsbeschreibungen von Taiga und Tundra, von der Küste, von dem, was von der indigenen Kultur überdauert hat. Doch es gibt nicht nur die große Leere der Landschaft, sondern auch die große innere Leere vieler der Figuren, die nach Orientierung und Sicherheit suchen, die sich teils selbst verleugnen, die durch Schicksalsschläge ins Straucheln geraten.

Erst im vorletzten Kapitel geht es um Marina, die Mutter der verschwundenen Mädchen und erst hier, kurz vor dem Ende, konfrontiert die Autorin ihre Leser mit dem Schmerz und der Hilflosigkeit einer Frau, die jeden Tag damit rechnen muss, dass ein Polizist anruft, um vom Fund der Leichen ihrer Kinder zu berichten - und die dennoch hoffen will. Es ist zugleich das für mich eindrucksvollste Kapitel, in dem sich die russische und die indigene Bevölkerung am ewenischen Neujahrsfest Nurgenek begegnen, in der Nacht, in der traditionellen Legenden zufolge die Toten unter den den Lebenden wandelt.

Julia Philipps schreibt klar und präzise, lässt ihren Frauenfiguren einen Rest von Geheimnis und auch das Ende, das hier natürlich nicht verraten werden soll, lässt verschiedene Interpretationen zu. Ihr Debüt macht auf jeden Fall neugierig auf mehr.

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Veröffentlicht am 14.02.2021

Von Rasse, Klasse und Frausein

Mädchen, Frau etc.
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Mit "Mädchen, Frau, etc" lässt Bernardine Evaristo Leser bzw in diesem Fall Hörer in das schwarze Leben in Großbritannien blicken. In zwölf Frauenportraits bringt die britische Schriftstellerin Lebenswirklichkeiten ...

Mit "Mädchen, Frau, etc" lässt Bernardine Evaristo Leser bzw in diesem Fall Hörer in das schwarze Leben in Großbritannien blicken. In zwölf Frauenportraits bringt die britische Schriftstellerin Lebenswirklichkeiten überwiegend schwarzer Frauen (ebenfalls nur überwiegend, es gibt auch eine nicht-binäre Figur) und schafft es dabei, trotzdem einen roten Faden im Erzählfluss und einer übergreifenden Handlung zu halten. Denn teils sind die Frauen durch Freundschaft oder Verwandtschaft miteinander verbunden, teils finden sie sich am selben Ort wieder, bei der Premiere der "Amazonen von Dahomey" im National Theatre.

In der fast 14-stündigen Hörbuchfassung gibt Constanze Becker all diesen Frauen ihre Stimme, mit angenehmer Zurückhaltung aber auch - das ist sicherlich auch ein Problem der "Übersetzbarkeit" - ohne ihre soziale und regionale Herkunft in der Darstellung zu erfassen. Denn im britischen Englisch zeigt ja oft schon der Akzent, wie ein Gesprächspartner sozial einzuordnen ist - und angesichts der unterschiedlichen Migrationsgeschichte der Frauen bleiben Patois, Pidgin usw, die noch in der Sprache mitschwingen, ungehört.

Regisseurin und Autorin des erwähnten Stücks ist Amma, die auch die Protagonistin des ersten Kapitels ist: Schwarz und lesbisch, sah sie über lange Jahre ihre Rolle vor allem im Protest gegen das Establishment, mit der Inszenierung im Nation Theatre ist sie dort selbst angekommen, so gerne sie sich auch nonkonformistisch-bohemehaft gibt. Ein weiter Weg vom Sozialwohnungsviertel Peckham und der Gesamtschule, wo auch andere der porträtierten Frauen aufwuchsen, so wie Ammas Freundin Shirley, eine desillusionierte Lehrerin, die trotzdem immer wieder vielversprechende Schüler fördert, um ihnen den Weg zu einer guten Universität oder Ausbildung zu ebnen.

Eine von ihnen ist die Finanzexpertin Carole, die es mit Ehrgeiz, harter Arbeit und Talent zur Vizedirektorin geschafft hat - ein Erfolg auch für ihre aus Nigeria eingewanderte und früh verwitwete Mutter Bummi, deren Mathematikstudium in Großbritannien nicht anerkannt wurde. Für die intelligente und tatkräftige Frau blieb nur die Arbeit als Putzfrau, bis sie sich schließlich mit einem eigenen Reingungsbetrieb selbständig macht.

Wie als Kontrapunkt zu urbanem schwarzen Leben gibt es noch mehrere Frauen aus einer Familie in Nordengland, fast schon an der Grenze zu Schottland. Als ein Farmersohn sich in ein früh verwaistes Dienstmädchen mit afrikanischem Vater verliebt, begründen die beiden eine neue Dynastie schwarzer Landbewohner.

Die Atemlosigkeit der Erzählung spiegelt sich in einem Staccato-Satzbau wieder, der über weite Abschnitte buchstäblich ohne Punkt und Komma zurechtkommt. Gleichzeitig schafft es Evaristo, auf jeweils wenigen Buchseiten lebensnahe Frauenfiguren mit Tiefe, Persönlichkeit und Individualität zu entwickeln. Sie mögen Gruppen verkörpern - alleinerziehende Mutter, Künstlerin, Arbeiterin, Karrierefrau, mögen in schwierigen sozialen Verhältnissen leben oder einen steilen Aufstieg erlebt haben, in einer glücklichen oder in einer toxischen Beziehung leben, hetero, lesbisch oder queer-divers.

Was die meisten von ihnen dabei eint, ist die Erfahrung von Rassismus und sich als Frau in einer Gesellschaft durchsetzen zu müssen, in der viele Männer keineswegs von alten Rollenmodellen und-verständnissen Abstand nehmen wollen -sei es im Lehrerzimmer oder in der Business-Etage. Nur die junge Generation, verkörpert in Ammas Tochter Yazz und ihren Freundinnen und Morgan, nach dem harten Weg von Megan zur nicht-binären Selbstidentifikation gelangt und nun einflussreich für Trans-Themen auf social Media, stehen für die jüngere Generation, für die schon viel erkämpft worden ist und die als BiPoc eher einen Hype erleben, sofern sie den privilegierten Hintergrund von Yazz haben. Es gibt eben auch immer die soziale Perspektive - auch wenn das in manchen Diskussionen gerne vergessen wird. Schwarze Erfahrung aus Großbritannien und in den USA, Migrationsgeschichten aus Westafrika und aus der Karibik, unterschiedliche feministische Entwürfe oder traditionelles Rollenverständnis - "Mädchen, Frau, etc" zeigt weibliche und schwarze Vielfalt in der modernen Gesellschaft.

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