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Veröffentlicht am 02.02.2024

Weiterleben nach dem Anschlag

43 Kugeln und 9 Rosen
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Es gibt Daten, die brennen sich ins Gedächtnis ein - der 11. September, der Tag des Mauerfalls. Aber eben auch der 19. Februar, der Tag des Terroranschlags von Hanau. Vielleicht nicht so global, aber für ...

Es gibt Daten, die brennen sich ins Gedächtnis ein - der 11. September, der Tag des Mauerfalls. Aber eben auch der 19. Februar, der Tag des Terroranschlags von Hanau. Vielleicht nicht so global, aber für die Menschen im Rhein-Main-Gebiet war es ein Tag, der das Gefühl von Sicherheit in der multikulturellen Gesellschaft der Region nachhaltig erschüttert hat. Das gilt um so mehr für Menschen wie Said Etris Haschemi: Er überlebte den Anschlag in der Arena-Bar schwerverletzt, sein jüngerer Bruder Nesar wurde getötet, ebenso wie acht andere junge Menschen an den beiden Tatorten. Sein Buch "Der Tag, an dem ich sterben sollte", ist eine Auseinandersetzung mit dem Anschlag und seinen Folgen, mit den Fragen der Angehörigen und Freunde, die im Untersuchungsausschuss des hessischen Landtags nicht zu ihrer Zufriedenheit beantwortet wurden.

Hashemi hat mit der Initiative 19. Februar zusammengearbeitet, und das merkt man dem Buch teilweise an - immer dann, wenn Aktivist*innensprech und -dialektik die Erzählung überlagert. Viel eindringlicher sind die Teile des Buches, in denen er seine Erinnerungen an den Anschlag, die Zeit im Krankenhaus, die Trauer und das Trauma im Hanauer Stadtteil Kesselstadt schildert, in dem die Opfer lebten, in dem der Täter lebt und wo der Vater des Täters noch immer mit seinem aggressiven und feindseligem Verhalten Angehörige der Familien bedrängt. Das macht klar - Überleben heißt nicht einfach weiterleben, das ist unmöglich.

Hashemi zeigt die Verletzungen der Familien, die nicht nur Kinder, Geschwister, Freunde verloren haben, sondern sich auch von der Polizei und den Behörden im Stich gelassen fühlten. Ob das nun an rassistischen Grundhaltungen lag, wie die Initiative gerne unterstreicht, oder an schlichter Überforderung in einer Situation, wie sie auch die Polizisten und Rettungsdienste vor Ort noch nicht erlebt haben, macht für die Betroffenen vermutlich keinen Unterschied. Im Umgang mit den Familien ließen es die Behörden in der Tatnacht und den Tagen danach wohl an Sensibilität fehlen. Und manche Clashs waren vermutlich unüberwindbar - hier die Staatsanwaltschaft, die die Leichen für Obduktionen beschlagnahmte, da religiöse Vorschriften des Islam, dass Tote eigentlich innerhalb von 24 Stunden beigesetzt werden müssen.

Und immer wieder geht es auch um den Untersuchungsausschuss, im dem Hashemi und viele Angehörige Dauerbesucher waren, wo sie sich dem Narrativ von einem psychisch kranken Einzeltäter entgegenstellten, wo sie Versäumnisse wie den nicht besetzten Notruf und den verschlossenen Notausgang in der Arena-Bar anprangerten. Dass zumindest ein Teil der Toten unter anderen Umständen Flucht- und Überlebenschancen gehabt hätte, muss gerade für die betroffenen Familien extrem bitter sein.

Mit seinem Buch gibt Hashemi einen Eindruck vom davor und danach in seinem Leben, aber auch dem vieler migrantischer Menschen in Hanau und Region. Ein wenig geht es auch um migrantische Biografien, Ausgrenzungserfahrungen und Selbstbehauptung. Das Buch erscheint nur wenige Wochen vor dem vierten Jahrestag des Anschlags, an dem es nicht nur in Hanau heißen wird: Say their names.

Veröffentlicht am 29.01.2024

Liebe, Magie, Besessenheit

Love Will Tear Us Apart
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Es geistert wieder dämonisch in Manchester: Mit "Love will tear us apart" hat C.K. McDonnell den dritten Teil seiner Urban Fantasy Saga über die exzentrischen Macher der Zeitung "The Stranger Times" geschrieben ...

Es geistert wieder dämonisch in Manchester: Mit "Love will tear us apart" hat C.K. McDonnell den dritten Teil seiner Urban Fantasy Saga über die exzentrischen Macher der Zeitung "The Stranger Times" geschrieben - und er wird den Erwartungen seiner Fans erneut gerecht. Es hilft sehr, die Vorgängerbände gelesen zu haben und sowohl den Mitarbeiterstab wie auch die Abenteuer der "Stranger Times"-Belegschaft mit übernatürlichen Wesen zu kennen. Ist das nicht der Fall, könnte manches etwas verwirrend sein. Wobei: Verwirrung gehört für die Protagonisten doch eigentlich zum Alltag, haben sie es doch regelmäßig teils mit Spinnern, teils mit Wesen zu tun, die nicht ganz von dieser Welt sind. Mal ganz abgesehen von Mitarbeitern, die nur noch als Geister in der Redaktion herumspuken!

Diesmal ist die Redaktion, wenn schon nicht kopf- , dann vor allem führungslos. Hanna, die stellvertretende Chefredakteurin und bislang Garantin für eine gewisse Stabilität, hat kurzfristig gekündigt. Vincent, der reizbare, cholerische Chefredakteur, ist noch launischer als sonst, wobei ständiger Schlafmangel noch dazu beiträgt. Vor allem aber ist er regelrecht besessen von der Vorstellung, dass seine tote Frau gar nicht tot ist und er sie aus einer schlimmen Lage befreien muss. Wie weit würde er dafür gehen? Und was geht in einem Selbstoptimierungs-Retreat vor sich, in dem Hanna zu Gast ist, um vielleicht ihrem Ex-Mann doch noch eine Chance zu geben?

Ein verschwundener Verschwörungstheoretiker, ein Wellness-Tempel mit Gehirnwäsche und Sehnsüchte nach Unsterblichkeit sind nur einige Herausforderungen, denen sich das Team der "Stranger Times" diesmal stellen muss. Stella, jüngstes Mitglied der Redaktion, steht dabei vor ganz besonderen Herausforderungen wie auch Einsichten über sich selbst. Werden alle Geheimnisse gelüftet? Da ein vierter Band in Aussicht steht, hat McDonnell wohl noch einige Ideen in petto. So viel darf verraten werden: Langweilig wird es mit dem schrägen Personal und britischem Humor der Romanreihe auch diesmal nicht.

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Veröffentlicht am 26.01.2024

Mord in der Algonquin Bay

Kanadische Wälder
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Die Inuit mögen eine große Zahl von Wörtern über Schnee, Eis und Winter haben, aber Giles Blunt schafft es auch ohne das indigene Vokabular, in seinem Kriminalroman die Bilder einer eisigen kanadischen ...

Die Inuit mögen eine große Zahl von Wörtern über Schnee, Eis und Winter haben, aber Giles Blunt schafft es auch ohne das indigene Vokabular, in seinem Kriminalroman die Bilder einer eisigen kanadischen Winterlandschaft an den großen Seen Ontarios erstehen zu lassen. Sein Buch "Kanadische Wälder" ist von Nebel, Eisregen und einem harschen Winter in Algonquin Bay geprägt. Der Polizist John Cardinal muss sich hier nicht nur mit den Missetaten des "dümmsten Gauners aller Zeiten" herumschlagen, sondern auch mit der Sorge um einen herzkranken Vater, der sich als ziemlich beratungsresistent gegenüber medizinischen Ratschlägen erweist, und der Sorge um seine psychisch kranke Ehefrau, der er Belastungen ersparen will.

Das überschaubare Kleinstadtleben erfährt aber nicht nur durch den Wintereinbruch eine Wende, sondern auch durch die angefressenen Leichenteile, die in den Wäldern gefunden wurden. Hungrige Bären haben sich offenbar aus dem Winterschlaf aufgerappelt, doch bei dem Toten handelt es sich nicht um einen verlorenen Wanderer oder Jäger, sondern offenbar um ein Mordopfer.

Die Ermittlungen bringen Cardinal nicht nur in Kontakt zur ungeliebten Konkurrenz der Mounties, als sich herauskristallisiert, dass der Tote Amerikaner ist. Auch der kanadische Geheimdienst mischt plötzlich mit und scheint die Ermittlungen der örtlichen Polizei vor allem zu behindern. Cardinals Kollegin ermittelt unterdessen in einem Vermisstenfall und plötzlich steht die Frage im Raum, ob die beiden Fälle womöglich in Verbindung zueinander stehen.

Einziger Hinweis auf ein mögliches Tatmotiv beim Fall des Amerikaners ist ein Negativ aus den 1970-er Jahren, das zur Separatistenbewegung in der Provinz Quebec in jener Zeit, führt, zu Terrorzellen und Entführungen. Doch warum wird das 30 Jahre später wieder wichtig?

"Kanadische Wälder" ist mehr als nur ein Krimi, das Buch erklärt auch viel über Kanada, den alten Widerstreit zwischen Anglo- und Francophonen, die Gegensätze zwischen Provinz und Großstadt, zwischen Kanadiern und US-Amerikanern. Cardinal ist ein komplexer Charakter, ein eigentlich anständiger Mann, der aber auch einen schweren Fehler gemacht hat und noch immer mit den Folgen hadert. Hinzu kommt die Beschreibung des Eissturms, der Algonquin Bay in Dunkelheit und Kälte legt, und in dem Cardinals Heim zur Zufluchtsstätte von Nachbarn ohne Strom und Heizung wird, die sich um den Holzofen der Cardinals scharen. Das trägt zu einer ganz besonderen Atmosphäre dieses Buchs bei. Es handelt sich um den zweiten Band einer Reihe, doch auch mit Rückgriffen auf die Vergangenheit lässt es sich als Standalone gut lesen.

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Veröffentlicht am 23.01.2024

Ermittlungen in Kanadas wildem Westen

Blutrodeo
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Cowboys gibt es nicht nur in Colorado oder Montana. In Kanada ist Calgary geprägt von Menschen, die den Business-Anzug gerne gegen Westernboots und Cowboyhut austauschen - nämlich wenn in der Ölstadt in ...

Cowboys gibt es nicht nur in Colorado oder Montana. In Kanada ist Calgary geprägt von Menschen, die den Business-Anzug gerne gegen Westernboots und Cowboyhut austauschen - nämlich wenn in der Ölstadt in der Provinz Alberta die Stampede, das jährliche Superrodeo stattfindet. Hier ermittelt auch der Ermittler Ted Garner in seinem neuen Fall und Frauke Buchholz´ zweitem Kanada-Krimi, "Blutrodeo".

Der Fall, um den es geht, stellt RCMP-Ermittlerin Sam Stern vor Rätsel: Zwei todkranken alten Männern wurde brutal die Kehle durchgeschnitten. Wer hat ein Interesse daran, Menschen zu ermorden, die ohnehin bereits mit einem Bein im Grab stehen? Garner soll mit einem Täterprofil die Ermittlungen unterstützen - das passt der ehrgeizigen Polizistin gar nicht. Und auch Garner ist nicht so wirklich teamfähig - sprich, die Zusammenarbeit der beiden ist von wechselseitigem Misstrauen und eher kratzbürstigem Umgangston gekennzeichnet.

Spielten im ersten Band der Reihe um den Profiler die Lebensbedingungen der Indigenen in Kanada eine große Rolle, geht es hier vor allem um den Umgang mit der Umwelt und der Ausbeutung der Ressourcen, die Auswirkungen von Fracking - wobei es hier dann auch wieder um die gesundheitlichen Folgen für die Menschen in den Reservationen zumindest am Rande geht. Das persönliche emotionale Gepäck des Ermittlerteams spielt ebenfalls eine Rolle, auch das nicht ganz einfache Verhältnis Garners zu seinem Vater. Denn da alle Hotels in Calgary während der Stampede ausgebucht ist, muss er notgedrungen beim "Colonel" in dessen entlegener Hütte unterkommen.

Die Leser - in diesem Fall Hörer - erfahren die Handlung aus der wechselnden Perspektive der Ermittler, aber auch durch Zeitsprünge verschiedener Personen. Erst nach und nach fügen sich die Puzzleteile zusammen, welche Rolle diese Menschen für die Geschichte spielen. Dabei legt Buchholz auch einige Fährten, die zunächst auf Irrwege führen. Auch das Motiv für die Mordfälle gibt lange ein Rätsel auf. Ist ein Serientäter zugange? Sind die Morde Werk eines Psychopathen? Handelt es sich um grausame Rache, oder ist die Mordmethode Ablenkung, um das eigentliche Tatmotiv zu verbergen? Es bleibt spannend bis zu einem dramatischen Showdown. Dabei sorgt Sprecherin Brigitte Carlsen für eine lebendige Interpretation der Protagonisten.

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Veröffentlicht am 20.01.2024

Sechs Stoffe, die die Welt veränderten

Material World
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Mit seinem Buch "Material World" schickt Ed Conway seine Leser auf eine ebenso informative wie faszinierende Zeitreise durch Erdzeitalter und Technikgeschichte. Darüber hinaus philosophiert er über die ...

Mit seinem Buch "Material World" schickt Ed Conway seine Leser auf eine ebenso informative wie faszinierende Zeitreise durch Erdzeitalter und Technikgeschichte. Darüber hinaus philosophiert er über die Eingriffe des Menschen in Ökosysteme, über die Herausforderungen des Klimawandels und das Gut oder Böse neuer Technologien - kurzum, ein gewaltiger Rundumschlaf. Dass es ihm dabei gelingt, Platitüden zu vermeiden oder ins allzu Allgemeine abzugleiten, ist ihm hoch anzurechnen.

Conway gibt zu - er ist ein Mensch der immateriellen Welt, einer, der Technologien und Materialien unserer Alltagsgeräte ganz selbstverständlich nutzt, ohne mit deren Herstellung zu tun zu haben. Anders als viele andere hat er aber offensichtlich gründlich darüber nachgedacht - das Ergebnis ist dieses Buch.

Sand, Salz, Kupfer, Eisen, Öl und Lithium - das sind die sechs Stoffe, die laut Conway die menschliche Zivilisation entscheidend vorangetrieben haben - also keineswegs nur die wertvollen Rohstoffe, sondern auch eher vernachlässigte oder zumindest heutzutage als völlig gewöhnlich betrachtet werden.

Beim Lesen wird allerdings klar, dass die Auswahl einer Logik folgt. Conway besucht Bergwerke, Fabriken, Labore, schilder Lieferketten und zeigt die Abhängigkeit von Rohstoffquellen auf. Auch mit Blick auf die globalisierte Welt, auf Abhängigkeiten von Lieferungen - man denke nur an die ersten Monate der Covid-19-Pandemie! - ist sein Buch teils Mahnung, teils eye-opener. Dieses Buch wird sowohl denen gefallen, die sich für Technik- und Wissenschaftsgeschichte interessieren, als auch denjenigen, die sich fragen, wie wir verantwortlich den Umgang mit Rohstoffen und Energieträgern für künftige Generationen angesichts der Herausforderungen des Klimawandels angehen. Viel Stoff zum Nachdenken!