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Veröffentlicht am 13.04.2022

Bienenzucht in Zeiten des Krieges

Graue Bienen
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Ein starkes und eindrinliches Buch zum Konflikt vor dem Krieg: Mit "Graue Bienen" hat der russischsprachige ukrainische Shriftsteller Andrej Kurkow das Porträt eines Einzelgängers in einem weitgehend verlassenen ...

Ein starkes und eindrinliches Buch zum Konflikt vor dem Krieg: Mit "Graue Bienen" hat der russischsprachige ukrainische Shriftsteller Andrej Kurkow das Porträt eines Einzelgängers in einem weitgehend verlassenen Dorf zwischen den Linien des Konflikts in der Ostukraine und einer Gesellschaft zwischen Misstrauen und Auflösung gezeichnet. Frührentner Sergej Sergejitsch, einst Bergarbeiter in Donbas, nun Hobbybienenzüchter, ist einer der beiden letzten Einwohner eines aus nur drei Straßen bestehenden Dorfs in der grauen Zone zwischen prorussischen Separatisten und ukrainischer Armee. Bis aus Paschko, mit dem er seit Schultagen ein angespanntes Verhältnis hat, haben alle anderen das Dorf verlassen.

Paschko hält es mit den Separatisten, word von ihnen auch mit Lebensmitteln versorgt, während sich Sergej nicht sonderlich um Politik kümmert, allerdings als russischen Sergej und nicht als ukrainischen Serhej identifiziert. Viel wichtiger ist ihm, dass seine sechs Bienenvölker ausschwärmen können und nicht durch die Kriegshandlungen bedroht werden. Und auch der tote Soldat, den er im Winter auf einem nahen Feld sieht, rührt Sergej an. Ihm ist gleichgültig, wessen Uniform der Tote trägt - er kann doch nicht einfach so liegen bleiben.

Die Sorge um die Bienen ist es denn auch, die Sergej im Frühjahr aus dem Dorf treibt, er lädt die Bienenstöcke in seinen Zhiguli aus Sowjetzeiten und fährt durch russische und ukrainische Checkpoints auf der Suche nach einem Ort, wo seine Bienen friedlich ausschwärmen und Nektar sammeln können. Doch der Konflikt folgt ihm: In einem Dorf wendet sich die Stimmung gegen ihn, als ein im Donbas getöteter Soldat beigesetzt wird und ein traumatisierter Kriegsveteran nicht nur Sergej, sondern auch dessen Bienen attackiert. Auf der Krim, wo er einen befreundeten Bienenzüchter besuchen will, erlebt er die Einschüchterungsversuche der russsischen Behörden gegen die Krimtataren.

Ein wenig erinnert Sergej an einen ukrainischen Forrest Gump: Ein Mann, der seine Bienen liebt, aber im Umgang mit seinen Mitmenschen überfordert ist. An der fehlenden Kommonikation ging einst seine Ehe zugrunde und auch in der Gegenwart gibt es immer wieder Situationen, wo ihm die Worte oder das Gespür für die Lage abgehen. Sergej ist ein einfacher, auch einfach gestrickter Mann mit funktionierendem moralischen Kompass - in Zeiten eines blutigen Konflikts nicht die besten Voraussetzungen. Wenn er instrumentalisiert werden soll oder plötzlich das Interesse des russischen Inlandsgeheimdienstes FSB erregt, ist Sergej eine Art reiner (wenn auch dem Wodka zugeneigter) Tor, der dann doch noch weitgehend unbeschadet die Krise übersteht.

Dabei wird Sergej nie ins Lächerliche gezogen, wie Kurkow überhaupt langsam und ruhig erzählt, mit einer Geduld, wie sie auch der Bienenzüchter braucht. Gerade durch den Verzicht auf Pathos und Drama wirkt "Graue Bienen" beeindruckend. Er zeigt eine Gesellschaft unter dem Einfluss des Konflikts, der dem aktuellen Krieg in der Ukraine vorausging, die Teilung der Menschen in "Wir" und "Die anderen", die sichtbaren und die unsichtbaren Grenzen, über die nur die Bienen ohne Lebensgefahr fliegen können. Aus heutiger Sicht nimmt "Graue Bienen" viel vorweg von dem jetzigen Krieg, zeigt dabei aber nicht die spektakulären und dramatischen Seiten, sondern die kleinen Orte, die ebenso unwiederbringlich verändert werden. Unbedingt lesenswert.

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Veröffentlicht am 05.04.2022

Die Rückkehr der Wölfe

Wo die Wölfe sind
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Kaum eine der Neuerscheiungen des vergangenen Jahres hat mich so fasziniert wie "Zugvögel" von Charlotte McConnaghy - da war es ein klarer Fall, unbedingt auch ihren neuen Roman "Wo die Wölfe sind" lesen ...

Kaum eine der Neuerscheiungen des vergangenen Jahres hat mich so fasziniert wie "Zugvögel" von Charlotte McConnaghy - da war es ein klarer Fall, unbedingt auch ihren neuen Roman "Wo die Wölfe sind" lesen zu wollen. Eindringliche Naturbeschreibungen, das Überleben bedrohter Tierarten und der leidenschafttliche, auch mal verbissene Einsatz von charismatischen Einzelgängerinnen und starken Frauengestalten prägen auch dieses Buch. Gleichzeitig gibt es deutliche Unterschiede.

Die Ich-Erzählerin Inty ist die Tochter einer australischen Polizistin und eines kanadischen Aussteigers und "Pferdeflüsterers". Und sie leidet an einem seltenen Phänomen, er Mirror-touch-Synästhesie: Was einem anderen Wesen geschieht, kann sie spüren, wenn sie ihm in die Augen blickt. Durchaus traumatisch, wenn sie etwa als Achtjährige den Tod eines Kanninchens erlebt. Wichtigste Bezugsperson ist Intys Zwillingsschwester Aggie, mit der sie ein symbiotisches Verhältnis hat. Doch während früher Inty die Introvertierte war und die erlebnishungrige Aggie im Vordergrund stand, ist Aggie nun buchstäblich verstummt und so unsichtbar geworden, dass ich mich über lange Strecken des Buches gefragt habe, ob sie tatsächlich existiert, oder nur ein Produkt von Intys Einbildung ist. Schließlich war bereits der Vater psychisch krank.

In der Erzählgegenwart ist Inty Biologin und Leiterin eines Ansiedlungsprojekts für Wölfe im schottischen Hochland. Wer die Diskussionen um die Rückkehr der Wölfe hierzulande verfolgt, weiß: Kaum ein Tier polemisiert so sehr wie der Wolf. Es gibt Menschen, die sind fasziniert von den scheuen Vettern domestizierter Hunde - und es gibt Menschen, die Wölfe buchstäblich verteufeln. Eine Erfahrung, die auch Inty meint. Während sie und ihre Teamkollegen davon überzeugt sind, dass die Ansiedlung der Wölfe gleich mehrere ökologische Probleme und Herausforderungen wieder ins rechte Lot rücken kann, sind die örtlichen Bauern, allen voran die Schafhalter, wenig begeistert von den neuen Mitbewohnern in den Wäldern.

Als ein Farmer tot aufgefunden wird, eskaliert die Situation. Werden die Wölfe jetzt buchstäblich Freiwild? Und wer ist die Bestie - Mensch oder Tier? Dabei muss sich Inty auch eigenen Abgründen aus der Vergangenheit stellen. In ihrer Parteilichkeit für die Wölfe steht sie der aufgeladenen Empörung der Dorfbewohner nicht nach, droht alle professionelle Distanz zu verlieren. Voller Gewalt ist aber nicht nur die Wildnis - das Buch enthält einige harte Szenen, in denen die "Bestie Mensch" ungeschönt gezeigt wird.

Vielleicht liegt es an den unterschiedlichen Spezies - da Seeschwalbe, hier Wolf, dass "Zugvögel" deutlich poetischer wirkt als "Wo die Wölfe sind mit seiner teils sehr düsteren und rauen Stimmung. Überzeugend und beeindruckend sind auch hier wieder die Naturszenen. Auch über die Wölfe und ihre Sozialordnung hat die Autorin ausführlich recherchiert. Spannend, faszinierend, emotional aufgeladen und mit teils gebrochenen, vielschichtigen Figuren.

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Veröffentlicht am 26.03.2022

Der lange Schatten des Kriegs gegen den Terror

Der Mann aus dem Schatten
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David Lagercrantz ist ein Autorenname, der für exzellente schwedische Kriminalliteratur steht - schließlich hat er nach dem Tod von Stieg Larssen die "Millenium"-Reihe um die geniale Hackerin Lisbeth Salander ...

David Lagercrantz ist ein Autorenname, der für exzellente schwedische Kriminalliteratur steht - schließlich hat er nach dem Tod von Stieg Larssen die "Millenium"-Reihe um die geniale Hackerin Lisbeth Salander vollendet. Mit "Der Mann aus dem Schatten" hat Lagercrantz nun den Auftakt einer neuen, ganz eigenen Reihe aufgelegt, der Spannung und politische brisantes Geschehen miteinander verbindet.

Einen ziemlich genialen, wenn auch komplizierten Protagonisten hat auch diese geplante Triologie. Hans Rekke, Philosoph, Reederssohn aus reichem Haus, ehemals musikalische Wunderkind und, so weiß die Stockholmer Polizei, gilt als Verhörspezialist. Daher macht sich eine kleine Ermittlergruppe auf in Rekkes Villa im Nobelviertel, unter ihnen auch Micaela Vargas, die eigentlich Streifenpolizistin ist. Dass sie in die Kripo-Ermittlungen nach dem Tod eines Schiedsrichters eingebunden wird, hat vor allem einen Grund: Sie wuchs als Tochter chilenischer Einwanderer im gleichen Vorstadtviertel auf, aus dem auch der Hauptverdächtige stammt. Der häufig betrunkene, aggressive Mann hatte auf dem Spielfeld einen heftigen Streit mit dem später erschlagen aufgefundenem Schiedsrichter, einem Flüchtling aus Afghanistan. Eine naheliegender Verdächtiger - aber auch der Täter?

Bald schon allerdings ist Micaela kein Mitglied der Sonderkommission mit. Ihre Neugier, den Täter zu finden, ist geblieben. Die Versuche, Kontakt zu Rekke aufzunehmen, scheitern, bis sie ihn eines abends zufällig und unter dramatischen Umständen wiedertrifft. Sie muss erkennen: Der mit allen Privilegien aufgewachsene Rekke hat eine ganze Reihe von Problemen, insbesondere eine bipolare Störung und Medikamentensucht. Doch selbst in einer schwer depressiven Phase hat der Mann mit dem blitzschnellen Blick fürs Detail seine Fähigkeiten nicht verloren. Er stellt etwas fest, das den ganzen Fall auf den Kopf stellt.

Denn wie die rechtsmedizinischen Aufnahmen der Leiche des Schiedsrichters zeigen, wurde dieser zwar zweifellos gefoltert - nicht aber, wie behauptet, von den Taliban. Vielmehr sieht Rekke Hinweise auf die "verschärften Verhörmethoden" der Amerikaner in den "black sites" der CIA etwa im Irak, aber auch in befreundeten Ländern.

Die Handlung von "Der Mann aus dem Schatten" spielt im Jahr 2003 - der "Krieg gegen den Terror" nach den Terroranschlägen vom 11. September ist im vollen Gang. Die Vorgänge etwa im Gefängnis Abu Ghoreib sind der Öffentlichkeit noch nicht bekannt, doch Rekke hat als Professor an einer US-Universität mit Sicherheitsdiensten zusammengearbeitet, um die Glaubwürdigkeit von Geständnissen zu beurteilen, die durch verschäfte Verhörmethoden, sprich Folter, zustande gekommen sind.

Heiligt der Zweck die Mittel? Was wusste, was billigte die Regierung des liberalen Schwedens, als das angebliche Taliban Opfer ins Land kam? Welche Rolle spielte der Tote im Afghanistan der Taliban, und warum fiel er durch besondere Aggressivität gegen Musiker auf? Micaela Vargas und Hans Rekke ermitteln parallel zu den offiziellen Ermittlern, ohne deren Wissen und lösen dabei nicht nur diplomatische Irritationen aus.

Die Spannung und die Dichte des Plots steigern sich zunehmend. Dabei bringt Lagercrantz auch die moralischen Konflikte bei der Terrorbekämpfung zur Sprache. Der gelernte Journalist hat offenbar gut recherchiert, sowohl zum Vorgehen der Taliban nach dem Abzug der sowjetischen Truppen als auch zum Vorgehen der US-Sicherheitsdienste gegen verhaftete Terrorverdächtige. Die Fragwürdigkeit der Verhöre und von Einrichtungen wie Guantanamo wird ebenso herausgearbeitet wie das Komplizentum westlicher Regierungen, die gar nicht so genau wissen wollten, wie Informationen zustande kamen.

"Nach dem 11. September hatte es nur noch Schwarz oder Weiß gegeben, und er war wahrhaftig nicht der Einzige, der sich dem Druck gebeugt hatte. Nur wenige seiner Kollegen in Europa hatten sich widersetzt. Was tun wir nicht alles. um den Terrorismus zu bekämpfen? Alles! hatten sie wie gehorsame Soldaten geantwortet. Doch hinterher war man immer schlauer. Damals war das Gefühl, sich in einer akuten Notlage zu befinden, so übermächtig, dass es vernünftig schien, nicht so pingelig zu sein."

Mir Rekke und Vargas hat Lagercrantz zwei sehr gegensätzliche, aber auch sympatische Ermittler geschaffen: Die toughe Micaela, die sich aus eigener Kraft hochgearbeitet hat, als Frau in der nach wie vor männlich geprägten Polizei behaupten muss und ihren Instinkten vertraut, der labile Rekke, der zwar alles zu haben scheint, aber in eine tiefen Krise steckt und für den die Arbeit an dem Fall auch ein Stück Wiedergewinn seines seelischen Gleichgewichts ist. Der nächste Band kann für mich gar nicht schnell genug kommen.

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Veröffentlicht am 02.02.2022

Gelungenes lyrisches Doppel

Wir haben keine andre Zeit als diese
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Früher habe ich Lyrik lieber gelesen - aber die audiobooks, die ich in jüngster Zeit kennengelernt habe, ermutigen mich, auch ganz ohne Buch den Text auf mich einwirken zu lassen - und nun habe ich mit ...

Früher habe ich Lyrik lieber gelesen - aber die audiobooks, die ich in jüngster Zeit kennengelernt habe, ermutigen mich, auch ganz ohne Buch den Text auf mich einwirken zu lassen - und nun habe ich mit "Wir haben keine andere Zeit als diese" ein besonders gelungenes Doppel anhören Können: Die Gedichte von Mascha Kaleko, gesprochen von Katharina Thalbach.

Liebe und Sehnsucht, Exil, Fremdheit und Heimweh, Aufbruch und Rebellion - Kalekos Gedichte mögen aus der Zeit der Weimarer Republik und dem Exil nach der Flucht vor den Nazis stammen, viele ihrer Texte sind zeitlos. Mal ironisch, mal sehnsüchtig, mal verträumt, mal aufbegehrend - das klingt nicht nur in den Texten durch, sondern auch in der Interpretation durch Katharina Thalbach. Ihre etwas rauhe, tiefe Stimme hat eine große Bandbreite. Mal kratzt sie, mal ist sie weich, ganz unterschiedliche Stimmungen lässt sie allein durch Ausdruck und Stimmlage entstehen.

Nur eine Stunde 42 Minuten ist dieses Hörbuch lang, man kann es also auch gut in einer abendlichen Session, gewissermaßen als Lyrikabend, genießen. Und bedauert am Ende, dass es schon vorbei ist.

Veröffentlicht am 29.01.2022

Fremdheit, Ankommen, Rückkehr

Der Erinnerungsfälscher
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Mit gerade mal 125 Seiten ist "Der Erinnerungsfälscher" von Abbas Khider ein schmaler Band, aber die Geschichte von Said Al-Wahid hat es in sich. Mitten im Alltag kommt die Nachricht des Bruders - die ...

Mit gerade mal 125 Seiten ist "Der Erinnerungsfälscher" von Abbas Khider ein schmaler Band, aber die Geschichte von Said Al-Wahid hat es in sich. Mitten im Alltag kommt die Nachricht des Bruders - die Mutter liegt im Sterben. Das würde vermutlich bei jedem eine ganze Achterbahn der Gefühle in Gang setzen, doch im Falle des Erzählers liegen die Dinge noch ein wenig komplizierter: Die Mutter ist in einem Krankenhaus in Bagdad, er selbst als mittlerweile deutscher Staatsangehöriger in Berlin. Dank einer Lesereise ist der Autor praktischerweise in der Nähe des Frankfurter Flughafens und seinen Pass hat er zum Glück immer dabei: Ein Überbleibsel der Zeit der Flucht und der langen Jahre als Asylbewerber, als er stets dokumentieren musste, wer er war und die Aufenthaltsgenehmigung ein zentrales Stück seiner Existenz war. Die Fremde, so heißt es in dem Buch, ist eine Fahrt auf einer verflixt langen Straße, die sich in Serpentinen schlängelt und ins Nichts führt.

Während Said Reisepläne umschmeißt, einen Flug bucht und sich auf die Reise macht in das Land, das er vor 20 Jahren verlassen hat, blickt er zurück in die Vergangenheit seiner Familie, ihrer Tragödien, seiner Flucht und das lange Ankommen in Deutschland, das auch nach so langer Zeit immer wieder in Frage gestellt wird, wenn ein Polizist nach seinem Ausweis fragt, wenn ihn misstrauische Blicke streifen, wenn es wieder einmal einen islamistischen Anschlag gab.

Wieviel Abbas Khider steckt in Said Al-Wahid? Die Beschreibung der Romanfigur ähnelt dem Bild des Autors auf dem Schutzumschlag des Buches, beide sind Schrifsteller, beide kommen aus dem Irak. Das Nervenflattern in Ausländerbehörden, die Auseinandersetzung mit einer Bürokratie, deren Sprache schon Muttersprachler vor Herausforderungen stellt, die Erfahrung von Fremdheit - das ist geradezu kollektives Gedeächtnis all derer, die entwurzelt wurden und in einem neuen Land einen Neuanfang machen müssen.

Der Titel des Buchs bezieht sich auf eine Besonderheit Saids: Er leidet unter einer Erinnerungsstörung. An vieles aus seiner Vergangenheit, an alte Freunde oder Nachbarn kann er sich nur vage Erinnern. Wenn er autobiografisch angehauchte Texte schreibt, muss er die Lücken seiner Erinnerung mit seiner Vorstellungskraft füllen. Ist es ein neurologisches Problem oder ist die Last der Vergangenheit so groß, dass die Tilgung von Erinnerungen eine Art Selbstschutz ist? Saids Vater ist als Staatsfeind hingerichtet worden, der soziale Tod traf die ganze Familie. Die Schwester und ihre Familie kamen bei einer Bombenexplosion ums Leben. Die Zahl seiner Toten übertrifft die Zahl seiner Lebenden.

Auf der Reise in den Irak erlebt Said die Unterschiede, die sein roter deutscher Reisepass macht, der ihm Türen öffnet, die ihm mit dem blauen Flüchtlingspass oder gar mit dem irakischen versperrt waren. Den Pass trägt er nicht nur immer und überall bei sich, er ließ ihn sogar vor den Bundestagswahlen erneuern, für alle Fälle: "Er hatte Angst, dass sein Pass nach den Wahlen nicht mehr verlängert werden könnte. Said wollte auf alles vorbereitet sein, mit einem Pass, der zehn Jahre lang gültig war."

Das Buch zeigt auch die wachsende Kluft zwischen denen, die gegangen sind und jenen, die geblieben sind. Saids Bruder ist zwar jünger, doch er erlebt ihn gealtert. Das Leben im Irak, die Erfahrung des Bürgerkriegs, der amerikanischen Besatzung, der letzten Jahre des Regimes von Saddam Hussein haben Spuren hinterlassen. Trotz aller Unsicherheiten und Probleme ist es Said, der nach den Jahren der Flucht das bequemere Leben hat. Diese Rückkehr ist keine Heimkehr.

Schnörkellos und eindringlich geht es in diesem Buch um die Erfahrung von Fremdheit, um das Ankommen im mehrfachen Sinn, um Wurzeln und Identität, um die Folgen von Gewalterfahrung und familiären Trauma, ganz ohne Betroffenheitslyrik und Sentimentalität.

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