Profilbild von frenx

frenx

Lesejury Star
offline

frenx ist Mitglied der Lesejury

Melde dich in der Lesejury an, um dich mit frenx über deine Lieblingsbücher auszutauschen.

Anmelden

Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 22.12.2023

Zum 100. Geburtstag von Plinio Martini

Requiem für Tante Domenica
0

Plinio Martinis Buch „Requiem für Tante Domenica“ ist ein Buch, das durch seine sprachliche Versiertheit durchaus Akzente setzt. Allerdings merkt man dem Inhalt in jeder Zeile das ursprüngliche Erscheinungsjahr, ...

Plinio Martinis Buch „Requiem für Tante Domenica“ ist ein Buch, das durch seine sprachliche Versiertheit durchaus Akzente setzt. Allerdings merkt man dem Inhalt in jeder Zeile das ursprüngliche Erscheinungsjahr, 1977, an. Das Buch erschien nun beim Limmat-Verlag anlässlich des 100. Geburtstages des Autors in einer Neuauflage.

Es ist der 19. März 1962. Tante Domenica ist gestorben. Der Ich-Erzähler, ihr Neffe Marco, reist zur Beerdigung an. Mit 26 Jahren hat er den Ort verlassen. Nur weg „vom Dorf, von den Glocken, von den Kruzifixen“ wollte er. Was ihm während der Totenwache und der Totenmesse nun, wo er zurückgekehrt ist, durch den Kopf geht, davon – und nur davon – handelt das „Requiem für Tante Domenica„.

Marco erinnert sich dabei an seine Tante – und auch an seine Jugendliebe Giovanna. Immer wieder wandern die Gedanken des Neffen vom lateinischen Text der Messe hin zu dem, was er in seiner Tessiner Heimat erlebt und erfahren hat. Es ist dabei vor allem die Armut und die katholische Enge, die in dem Roman thematisiert ist.

Der Pfarrer am Ort ist zugleich der Sittenwächter. Und Tante Domenica, die es zur Religionslehrerin bringt, unterstützt ihn wo sie nur kann. Marco entflieht diesem zutiefst konservativen Katholizismus. Zunächst ins Internat, dann in die Freiheit.

Voll Spott und Ironie sind Marcos Gedanken, wenn er etwa vom Schwingel mittelalterlicher Mystik, von der Dauer des Fegefeuers oder darüber spricht, wie unzüchtig Fahrradfahren ist. Zugleich aber schaut Marco liebevoll zurück auf seine Tante, die ihrerseits viele Entbehrungen mitmachen musste.

Heute, wo der Vatikan die Segnung homosexueller Paare gestattet, mag „Requiem für Tante Domenica“ wie ein Relikt aus längst vergangenen Tagen stammen, das die Doppelbödigkeit und die Radikalität der katholischen Morallehre aufzeigt. Ob sich freilich so viel geändert hat, manchmal mag man daran zweifeln.

Sprachlich ist das Buch sehr ambitioniert. Lange Schachtelsätze und ellenlange Aufzählungen erschweren das Lesen ungemein, zeugen aber zugleich vom literarischen Können des Plinio Martini. Dies gilt auch für die häufigen Verweise auf die lateinischen Texte der Totenmesse, die in großen Teilen aber übersetzt werden.

Fazit: „Requiem für Tante Domenica“ ist ein Kleinod der 70er Jahre, das bei aller fehlenden Aktualität in seinem literarischen Anspruch durchaus noch lesenswert ist.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 18.11.2023

Das Böse in mir

Unter Wahnsinnigen
0

Florian Schroeder begibt sich auf Reisen, quer durch Deutschland. Ganz unterschiedliche Leute trifft er, teilweise auch mehrfach, über Jahre. Menschen, die eher am Rand der Gesellschaft stehen. Menschen, ...

Florian Schroeder begibt sich auf Reisen, quer durch Deutschland. Ganz unterschiedliche Leute trifft er, teilweise auch mehrfach, über Jahre. Menschen, die eher am Rand der Gesellschaft stehen. Menschen, die so etwas wie das Böse verkörpern könnten. Er besucht einen Holocaust-Leugner im Gefängnis, begleitet einen Sexualstraftäter auf seinem Freigang, besucht NATO-Soldaten in Litauen, spricht mit Psychologen und fragt nach der Bedeutung der KI und was die Letzte Generation umtreibt. .

Schroeder selbst sieht sein Buch als „Zustandsbeschreibung unserer Zeit“. Das ist sehr hochgegriffen. Zu hoch. Schroeder greift durchaus aktuelle Themen auf, manchmal fragend, manchmal urteilend, manchmal auch ratlos. Er spricht mit Rechtsradikalen, kritisiert die seiner Meinung nach inhumane und sinnlose Sicherheitsverwahrung, fragt nach Gefahr und Nutzen der KI. Aber eine Zustandsbeschreibung Deutschlands wird damit mitnichten. Zu punktuell sind dafür die Ausführungen – etwa über die apokalyptische Weltsicht.

Das soll aber nicht heißen, dass Schroeders Begegnungen mit ganz unterschiedlichen Menschen nicht interessant wären. Im Gegenteil. Sie sind oft spannend zu lesen, man spürt, dass Schroeder ein guter Zuhörer ist.

Schroeders „Unter Wahnsinnigen“ ist aber auch keine Buch, das sich mit dem Bösen als solchem auseinandersetzt. Viel eher ist es ein Buch, das den Blick auf das wirft, was am Rand unserer Gesellschaft abläuft. Themen, die wir eher vermeiden, als dass wir den Fokus darauf setzen wollen. Schroeders Theorie, die dahintersteckt, ist einfach: Er glaubt, dass wir Dinge als „böse“ kategorisieren, um uns nicht mit ihnen beschäftigen zu müssen.

Das Böse ist für Schroeder folglich keine religiöse Instanz, sondern eine soziologische oder psychologische, zum Teil auch eine philosophische. Es verwundert nicht, dass der studierte Philosoph Schroeder sich vielfach auf Philosophen bezieht – bis er schließlich in seinem Nachwort bei Niklas Luhmann landet und bei dessen Forderung nach Emanzipation von der Vernunft. Vernunft, sagt Schroeder, sei zu berechnend, zu kalt.

Um zu dieser Erkenntnis zu kommen, ist Florian Schroeder eine Art inneren Pilgerweg gegangen. Das Böse in sich selbst erkennen, das ist das Ergebnis dieses Pilgergangs. Es gilt zu lernen, damit umzugehen. Denn nur dann verliere es seine dämonische Kraft.

Florian Schroeder begibt sich auf Reisen, quer durch Deutschland. Und doch landet er schließlich bei sich selbst.

Veröffentlicht am 30.10.2023

Pabst bleibt blass und konturlos

Lichtspiel
0

So richtig warm geworden bin ich mit Daniel Kehlmanns neuem Roman „Lichtspiel“ nicht. Das Buch über den Filmregisseur G.W. Papst hat mich nur an wenigen Stellen in seinen Bann gezogen.

Das liegt zum einen ...

So richtig warm geworden bin ich mit Daniel Kehlmanns neuem Roman „Lichtspiel“ nicht. Das Buch über den Filmregisseur G.W. Papst hat mich nur an wenigen Stellen in seinen Bann gezogen.

Das liegt zum einen daran, dass „Lichtspiel“ nicht durchgängig im Sinne einer Biographie erzählt wird. Pabst steht eher beispielhaft für die Frage, wie man als Künstler im Dritten Reich überleben konnte. Nur so lassen sich die Wechsel in der Erzählperspektive erklären, die Kehlmann immer wieder in seinen Roman eingebaut hat.

Hinzu kommt manches, das literarisch überhöht erzählt wird wie etwa die Flucht aus Prag. Der Weg zum Bahnhof wird mithilfe von Filmeinstellungen erzählt. Das mag originell sein, wirkt aber sehr abgehoben im Vergleich zu dem klassischen Erzählen, das ansonsten das Buch weistestgehend prägt. Problematisch sind auch die starken Übertreibungen, die immer wieder den Erzähler übermannen. So wird die Verwandlung, die der Nationalsozialismus bei den einfachen Angestellten Pabsts nicht nur bei einer Figur, sondern gleich bei allen Personen durchexerziert. Sie alle lassen sich plötzlich von Pabst nichts mehr sagen, sondern verhalten sich ihm gegenüber respektlos, ja sogar aggressiv. So gut die Idee dahinter: es ist dann doch einfach zu viel.

Und wenn es am Ende des Buches um Pabsts unvollendet gebliebenen Film „Der Fall Molander “ geht, wechselt der Roman zum reinen Künstlerroman. Hier entfernt sich Kehlmann zudem weit von den historischen Tatsachen. Während „Der Fall Molander“ tatsächlich ungeschnitten im Prager Filmarchiv lagert, wird er bei Kehlmann zum Opfer einer Verwechslung und schließlich zu einer Art Racheakt an Pabst. Wobei zum Schluss hin sich zudem noch die Frage stellt, was denn nun die „Realität“ sein soll und was vielleicht auch Hirngespinste sind.

Losgelöst von historischen Tatsachen, wird aus Pabst am Ende des Buches fast schon ein Rebell, der aus der Filmvorlage eines durchschnittlichen NS-Schriftstellers in seiner Verfilmung ein geniales Meisterwerk fabriziert. Glaubt Pabst zumindest. Immer deutlicher wird, dass Pabst eher aus der Zeit gefallen ist, der Tonfilm eher schlecht für seinen künstlerischen Ansatz war.

Insgesamt bleibt Pabst in „Lichtspiel“ eher blass und konturlos. Einer, der nur dann aufblühte, wenn er am Drehen war. Der mit Schauspielern umzugehen wusste, ihr Talent aus ihnen herauskitzelte. Aber eben auch einer, der apathisch war, die politische Lage nicht durchschaute. Einer, dem es nicht gelang, angemessen mit seinem Sohn zu reden. Der sich in den USA wegen seines schlechten Englisch nicht durchsetzen konnte. Der sich von seiner Frau Trude herumdirigieren ließ.

Von dem Regisseur, der die USA verlässt, in Österreich aufgrund des Kriegsbeginns hängenbleibt und sich mit dem Staat zu arrangieren hat, ist am Schluss nur noch ein Gescheiterter übrig. Einer der glaubt, mit dem verlorenen Film seines größten Erfolgs beraubt zu sein. Einer, so muss man vermuten, der sich selbst belügt.

Seltsam in der Schwebe – vielleicht weil es kein historischer Fakt ist – bleibt Pabsts großer Sündenfall: beim „Molander“ fallen die Wehrmachtssoldaten aus und Pabst lässt für seine große Saal-Szene KZ-Häftlinge bringen. Sein Assistent greift ihn dafür an, ist sich aber später nicht mehr sicher, ob es denn wirklich so war. Will man „Lichtspiel“ als Roman über die Möglichkeiten eines Künstlers in einer Diktatur lesen, so ist gerade diese Stelle äußerst dürftig.

Etwas schade ist, dass Pabsts Nachkriegsfilme („Es geschah am 20. Juli“ und „Der letzte Akt“) in Kehlmanns Buch kaum eine Rolle spielen. Bei Kehlmann hat man den Eindruck, dass Pabst nach dem 2. Weltkrieg eher dahinvegetiert als dass er noch aktiv arbeitet. Hier ist eine Chance vertan, G.W. Pabst etwas vielschichtiger darzustellen.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 08.10.2023

Essayistische Suche nach der Heiterkeit

Über die Heiterkeit in schwierigen Zeiten und die Frage, wie wichtig uns der Ernst des Lebens sein sollte
0

Axel Hacke ist kein heiterer Mensch – obwohl er viele erheiternde Texte schreibt. Aber er wäre es gerne. „Ich möchte ein heiterer Mensch sein“, sagt Axel Hacke von sich selbst. Deshalb hat er sich mit ...

Axel Hacke ist kein heiterer Mensch – obwohl er viele erheiternde Texte schreibt. Aber er wäre es gerne. „Ich möchte ein heiterer Mensch sein“, sagt Axel Hacke von sich selbst. Deshalb hat er sich mit der Frage beschäftigt, was Heiterkeit ist und wie man sie lernen kann. Herausgekommen ist Hackes neues Buch: „Über die Heiterkeit in schwierigen Zeiten und die Frage, wie wichtig uns der Ernst des Lebens sein sollte„.

Axel Hacke nähert sich in seinem Buch der Heiterkeit essayistisch. Er umkreist den Begriff immer wieder mit literarischen Bezügen, philosophischen Aussagen und eigenen Überlegungen. So fällt es am Ende gar nicht leicht, zu sagen, zu welchen Schlüssen Hacke gekommen ist.

Als mögliche Synonyme zu Heiterkeit nennt Hacke Lebensfreude, Selbstvergessenheit und Gelassenheit. Überhaupt sieht er in Heiterkeit eher eine Lebenseinstellung als nur eine vorübergehende Stimmung. Und ja, Hacke glaubt daran, dass Heiterkeit erlernt werden kann. Als großen Lehrmeister der Heiterkeit sieht er Vicco von Bülow. Loriot habe es wie kein anderer geschafft, die bornierte Ernsthaftigkeit der Gesellschaft zu untergraben.

Den anderen großen Lehrmeistern der Heiterkeit, Thomas Mann, Ror Wolf und das Lach-Yoga, sei dies nicht in dem Maße gelungen wie Loriot. Dabei sieht Hacke in der Heiterkeit auch eine Ernsthaftigkeit – die allerdings nicht an die Oberfläche kommt. So sei Heiterkeit als Distanz zu sich selbst immer auch eine Art Spiel. Ein Spiel, das letztlich auch dazu diene, sich von Erwartungen und Selbstüberforderungen freizumachen. Sogar eine „subversive Power“ kann Hacke in der Heiterkeit erkennen.

Robert Lembkes heiteres Beruferaten „“Was bin ich?“ also eine subversive Fernsehsendung? Nun ja, aus heutiger Sicht vielleicht schon. Eine Quiz-Sendung, bei der die Befragte nur mit Ja oder Nein antwortet, die immer nach dem gleichen Schema abläuft – sie hätte heute etwas Subversives an sich.

Wer von Axel Hacke einen Lebensratgeber erwartet, der einen aus dem Trübsinn in die Heiterkeit führt, wird von Hackes Buch enttäuscht sein. Wer Freude daran hat, sich auf die Suche nach der Bedeutung von Heiterkeit in unterschiedlichen Zusammenhängen zu machen, wird bei Axel Hacke fündig werden.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
Veröffentlicht am 17.09.2023

Actionreiches Sci-Fi-Jugendbuch

Ocean City – Jede Sekunde zählt
0

„Ocean City“ ist ein actionreiches Jugendbuch, das in einer Zukunft spielt, in der Zeit die maßgebende Währung ist.

Jackson und Crockie gehen beide in die Clark Kellington Highschool, eine Eliteschule. ...

„Ocean City“ ist ein actionreiches Jugendbuch, das in einer Zukunft spielt, in der Zeit die maßgebende Währung ist.

Jackson und Crockie gehen beide in die Clark Kellington Highschool, eine Eliteschule. Sie sind beste Freunde, obwohl sie doch sehr unterschiedlich sind: Jackson ist eher ein verantwortungsvoller, durchschnittlicher Schüler, während Crockie eher ein unangepasster Einzelgänger ist. Oder um es mit dem Buch zu sagen: „Crockie hatte meistens die Körperspannung eines Schnürsenkels“.

Sie wohnen beide in „Ocean City“, einer Großstadt, die auf einer schwimmenden Insel gebaut ist. Über 15 Millionen Menschen wohnen in Ocean City, das nur 6000 Quadratkilometer groß ist.

Die Menschen tragen Decoder in ihren Armen, in denen ihre Daten gespeichert sind – allen voran die Zeitdaten. Spazierengehen? Zeitverschwendung. In der Stadt bummeln? Das tut nur, wer es sich leisten kann. „Entwickle ein vernünftiges Zeitgefühl“, fordert Jacksons Vater von seinem Sohn. Die Generalsekretärin der Zentralbank ist die Herrn über alle Zeitkonten von Ocean City. Sprich: das gesamte Wirtschaftssystem basiert auf Zeit. Bezahlt wird in Minuten und Sekunden.

Kein Wunder daher, dass Jackson und Crockie Ärger bekommen, als sie einen Transponder bauen, mit dem sie Zutritt in das Zeitsystem bekommen und Zeit verschenken können. Bald schon ist ihnen ein Sonderkommando auf den Fersen, und eine turbulente Verfolgungsjagd beginnt. Und Jackson läuft zudem die Zeit davon. Er muss den versteckten Transponder finden. Überhaupt ist das Buch ziemlich actionreich, denn bald schon geht es um Leben und Tod. Die Regierung sieht in den jugendlichen Zeitdieben Terroristen und auch eine Widerstandsgruppe interessiert sich schnell für die beiden.

An manchen Stellen überfordern die vielen Namen der Figuren einen ein wenig, auch das Zeitsystem, das als Wirtschaftssystem fungiert, wird nicht ausführlich dargestellt. Dafür gibt es mit Jackson und Crockie zwei sehr sympathische Hauptfiguren, wenn auch eine vorübergehend von der Bildfläche verschwindet…

Zu den Stärken des Buches gehört, dass es einige Figuren gibt, die zunächst für den Leser undurchschaubar sind. Zum einen dauert es eine Weile, bis preisgegeben wird, ob sie zu den Guten oder Bösen gehören, zum anderen gibt es auch Figuren, die eben nicht in dieses Schwarz-Weiß-Schema passen. Etwas schade ist, dass das Buch sehr abrupt endet – man muss den zweiten Band lesen, um zu erfahren, wie einzelne Handlungsstränge ausgehen. Da hätte man sich doch einen nicht ganz so offenen Schluss gewünscht.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere