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Veröffentlicht am 23.06.2022

Gerald der Gütige

Das Geheimnis der verborgenen Bibliothek
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„Manchmal wünschte sich Zoe, genauso zu sein wie andere junge Frauen, die die Erwartungen ihrer Eltern erfüllten. Aber Zoe war anders.“ (S. 16) Vor ein paar Jahren wurde Zoe von ihrem Vater aus der der ...

„Manchmal wünschte sich Zoe, genauso zu sein wie andere junge Frauen, die die Erwartungen ihrer Eltern erfüllten. Aber Zoe war anders.“ (S. 16) Vor ein paar Jahren wurde Zoe von ihrem Vater aus der der Familie ausgeschlossen, weil sie sich offen zu ihrer Homosexualität bekannte, inzwischen ist sie eine erfolgreiche Debütautorin. Als sie jetzt ihre Promotion in Geschichte nachholen will, schlägt ihre Professorin ihr ausgerechnet ihren Vorfahren Gerald Farwell als Thema vor. Der Pfarrer wird auch Gerald der Gütige genannt und heute noch als Held verehrt, aber niemand weiß mehr, worauf sich dieser Ruf begründet. Zudem wurde er 1839 in Liverpool ermordet und das Verbrechen anscheinend nie aufgeklärt.

Liverpool 1893: Inspector Thomas Young von der Metropolitain Police wird geschickt, um Gerald Farwells Tod aufzuklären, dem Bruder des Earl of Wooverlough. Bei seinen Ermittlungen stößt er auf eine Mordserie an Prostituierten, welche die örtliche Polizei nicht untersucht (es sind ja „nur“ Huren und „Wer mit dem Feuer spielt, darf sich nicht wundern, wenn er verbrennt.“ (S. 93)), und auf Madeline Brown, die Geliebte eines reichen Mannes, die als Einzige auf die Aufklärung dieser Taten dringt und bereits eigene Nachforschungen angestellt hat.
Liverpool ist zu dieser Zeit eine der größten Hafenstädte und damit ein Sammelbecken für die verschiedensten Auswanderer. Nicht wenige Frauen landen in der Prostitution, um die Überfahrt oder ihr Leben hier zu finanzieren.

Madeline hat schon früh einen Verdacht, wer der Mörder ist, aber da sie es nicht beweisen kann und ihr niemand glauben würde, behält sie dieses Wissen für sich. Sie ist eine sehr intelligente Frau und Verführerin und spielt ihre Reize aus, um zu bekommen, was sie will – nicht nur bei ihrem Gönner, sondern auch bei Inspector Young. Dabei gibt sie immer nur soviel preis, wie unbedingt nötig ist. Aber sie ist auch sehr warmherzig und großzügig und sich ihrer privilegierten Stellung als Geliebte nur eines Mannes gegenüber den Straßenhuren bewusst. Darum unterstützt sie diese, wo es nur geht und setzt sich auch so vehement für Suche nach dem Täter ein.

Zoe wollte nie wieder etwas mit ihrer Familie zu tun haben, aber das Thema und der ungeklärte Mord reizen sie dann doch. Zudem will sie ihre Professorin beeindrucken, die sie sehr anziehend findet. Die beiden begeben sich zusammen auf Spurensuche nach Wooverlough Court und decken dabei mit Hilfe einer vergessenen geheimen Bibliothek nicht nur die Morde an den Huren und Gerald Farwell, sondern auch noch aktuelle Geheimnisse auf.

Felicity Whitmore hat mich wieder von Anfang bis Ende gut unterhalten. Geschickt baut sie auf beiden Zeitebenen Spannung auf und lässt Liverpool und das Anwesen Wooverlough Court (den Stammsitz von Zoes Familie) damals und heute vor dem Auge des Lesers lebendig werden.

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Veröffentlicht am 20.06.2022

Der Supper-Club auf den Klippen

Fishergirl's Luck
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„… jetzt gehe ich auf die vierzig zu, habe keinen Partner, keine Kinder, und mein Zuhause ist ein Schuhkarton, in dem ich nicht auf Dauer leben kann.“ (S. 144) Zwanzig Jahre hat Köchin Anna ihr Leben und ...

„… jetzt gehe ich auf die vierzig zu, habe keinen Partner, keine Kinder, und mein Zuhause ist ein Schuhkarton, in dem ich nicht auf Dauer leben kann.“ (S. 144) Zwanzig Jahre hat Köchin Anna ihr Leben und ihre Karriere nach ihrem Freund Geoff ausgerichtet und sich ihm in allem untergeordnet. Als sie sich endlich von ihm trennt, will sie einen kompletten Neuanfang und kauft in Crovie an der Steilküste Schottlands ein winziges Häuschen, ohne es je zuvor gesehen zu haben, nur weil ihre Eltern dort glückliche Flitterwochen verlebt haben, wie ein altes Foto beweist. Die ehemalige Scheune Fishergirl's Luck wurde von der Vorbesitzerin in den 1940er Jahren umgebaut, hat eine lange Geschichte und viele Stürme überstanden – und ist ziemlich abgewohnt. Am liebsten würde Anna sie sofort wieder verkaufen, zumal sie fast ihre ganzen Ersparnisse und das Erbe ihrer Eltern dafür ausgegeben hat, aber sie war in 5 Jahren die einzige Interessentin …
Doch schnell fühlt sie sich ihrem Häuschen wohl und irgendwie behütet. Die raue Landschaft verzaubert sie und ihre Nachbarn nehmen sie in die Gemeinschaft auf. Dann findet sie in ihrer Küche auch noch ein Rezeptbuch der Vorbesitzerin und erinnert sich an ihren Traum, ein Kochbuch zu veröffentlichen. Wie könnte man die Gerichte dafür besser testen als in einem Popup-Restaurant mit nur 6 Plätzen?!

„Fishergirl´s Luck“ ist ein sehr warmherziger, stimmungsvoller, emotionaler und dramatischer Roman über Selbstfindung und Neuanfänge, der Lust auf Urlaub an Schottlands Küste und Annas Köstlichkeiten macht.
Crovie und seine Einwohner sind von den Naturgewalten abhängig. Das Dorf liegt direkt an bzw. auf einer rauen Steilküste, die bei jedem Sturm weiter abrutschen und die Häuser verschütten oder mit sich reißen kann. Das macht die besondere Stimmung und Spannung des Buches und auch Ortes auf, den es wirklich gibt.

Anna wollte sich hier eigentlich nur eine Auszeit nehmen und überlegen, was sie in Zukunft machen will, aber das Dörfchen und seine Bewohner wachsen ihr schnell ans Herz. Bis zu einem großen Sturm in den 50ern, der alle Boote zerstörte, war es ein reines Fischerdorf, danach wurden viele der kleinen Häuschen in Feriendomizile umgebaut. Auch Annas direkten Nachbarn Pat und Frank haben hier vor Jahren neu angefangen, betreiben ein kleines Bed and Breakfast und vermieten ein Ferienhaus. Im Nachbarort hat sich Rhona den Traum von einer Töpferei für besonderes Tischgeschirr verwirklicht, das Anna noch zusätzlich zu neuen Gerichten inspiriert. Im Laufe der Zeit und mit Hilfe ihrer neuen Freunde schafft sie es, sich ein neues (Berufs-)Leben aufzubauen, sich endgültig von ihrem Ex Partner abzunabeln und ein neues Selbstbewusstsein zu entwickeln.

Die Verbindung zwischen Anna und ihrer Vorbesitzerin über das alte Rezeptbuch finde ich sehr gelungen, zumal man so Details über Crovies jüngere Geschichte erfährt.
Geschickt lässt Sharon Gosling auch Natur- und Umweltschutz in die Handlung einfließen, geht auf die Küstenerosion und Verschmutzung der Meere und damit verbundenen Gefahren für die Meeresbewohner ein, vor allem der vor der Küste lebenden Delfine. Das macht die Handlung wunderbar rund.

Bis auf eine kleine Ungereimtheit am Ende hat mir das Buch sehr gut gefallen und ich vergebe 4,5 von 5 Sternen.

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Veröffentlicht am 17.06.2022

Beruf oder Liebe?

Die Frauen vom Karlsplatz: Henny
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„Martin oder Gustav“ (S. 44) steht auf dem Zettel, den Henny in einem Buch ihrer vor kurzem verstorbenen Ziehmutter Auguste findet. Die Namen sagen weder ihr noch ihrem ehemaligen Kinder- und jetzigen ...

„Martin oder Gustav“ (S. 44) steht auf dem Zettel, den Henny in einem Buch ihrer vor kurzem verstorbenen Ziehmutter Auguste findet. Die Namen sagen weder ihr noch ihrem ehemaligen Kinder- und jetzigen Dienstmädchen Olga etwas. Ist einer von ihnen Hennys Vater? Ihre Mutter Lotte hat das Geheimnis um ihn damals mit ins Grab genommen und sie sind all die Jahre ohne die finanzielle Unterstützung eines Mannes ausgekommen. Doch nun wird das Geld immer knapper und Henny weiß nicht, wie lange sie noch Medizin studieren kann. Diesen großen Traum ihrer leiblichen Mutter konnte sie nämlich für sich verwirklichen. Endlich sind Frauen zum Studium zugelassen und werden nicht mehr nur als Gasthörerinnen geduldet, auch wenn das noch nicht bei allen Kommilitonen und Professoren angekommen zu sein scheint. Doch davon lässt sich Henny nicht abschrecken und verfolgt ihren Traum zielstrebig. Aber dann tritt der junge Assistenzarzt und angehende Chirurg Paul in ihr Leben und bringt ihr Herz zum Stolpern. Doch er ist kein einfacher Charakter: „… ich fühle mich manchmal so eingesperrt in meinem Leben, dass ich am liebsten alles zerschmettern würde, um auszubrechen und davonzulaufen.“ (S. 98) Ist er wirklich der Richtige für sie?

Anne Stern schreibt die Geschichte der Frauen vom Karlsplatz fort, auch wenn die Protagonistinnen nicht mehr dort wohnen, da Auguste wegen Henny mit ihrer Familie gebrochen hatte. Sie hat ihren Lebensunterhalt als Lehrerin verdient und bis zu ihrem viel zu frühen Tod ein bescheidenes, aber glückliches Leben geführt. Jetzt sieht sich Henny mit Geldproblemen konfrontiert, denn auch ihr Ziehonkel Ludwig von Berg (Augustes ehemaliger Verlobter) kann wegen eigener Probleme nur bedingt helfen kann. Die Suche nach ihrem Vater scheint ihre einzige Lösung zu sein. Dabei trifft sie auch auf Lottes Pflegerin Terese, die ihr so einiges über ihre Mutter erzählt – nur den Namen des Vaters will sie nicht kennen. „Lotte war eine komplizierte Frau und hat eine Menge Kummer hinterlassen bei allen, die sie geliebt haben.“ (S. 231)

Die Verbindung zum ersten Band ist Anne Stern außerordentlich gut gelungen, auch wenn man ihn nicht zwingend lesen muss, um alle Zusammenhänge zu verstehen. Zeitlich befinden wir uns inzwischen kurz vor dem 1.WK. Sie zeigt die verschiedenen politische und gesellschaftliche Entwicklungen im Land, die Verbindung zwischen dem Erstarken des Nationalsozialismus und dem gleichzeitig hochkochenden Antisemitismus, der Jagd auf Juden und Homosexuelle.
Die Gesellschaft ist gespalten. Während einige dem Krieg entgegenfiebern, hoffen andere, dass er noch verhindert werden kann. Auch Henny und Paul gehören in dieser Frage verschiedenen Lagern an, zudem können sie aufgrund ihrer monetären Lage nicht heiraten. Aber ihre Liebe scheint stärker als die Vernunft. Henny kann nicht von ihm lassen und muss aufpassen, dass ihr nicht das gleiche passiert wie Lotte. Denn noch immer werden ledige Mütter geächtet, zudem müsste sie dann auf ihr Studium verzichten.

Neben der leidenschaftlichen Liebesgeschichte der beiden spielt die sich langsam ändernde Rolle der Frau eine große Rolle in diesem Band. Henny steht mit ihrem Wunsch nach einem Studium und erfüllenden Berufsleben nicht mehr allein da und auch die Standesunterschiede verwischen immer mehr. Alles in allem eine gelungene Fortsetzung.

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Veröffentlicht am 15.06.2022

Die Vertreibung aus dem Paradies

Die Freundinnen vom Strandbad (Die Müggelsee-Saga 1)
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„Eine Blonde, eine Rothaarige, eine Brünette – ihre Leben waren in unterschiedlichen Bahnen verlaufen, doch von einer Sekunde auf die andere hatte das Schicksal sie zusammengeworfen.“ (S. 18) 1956 retten ...

„Eine Blonde, eine Rothaarige, eine Brünette – ihre Leben waren in unterschiedlichen Bahnen verlaufen, doch von einer Sekunde auf die andere hatte das Schicksal sie zusammengeworfen.“ (S. 18) 1956 retten Martha, Betty und Clara im Strandbad Müggelsee zusammen einen alten Mann vor dem Ertrinken, aus den Klassenkameradinnen werden Freundinnen fürs Leben. Und ihr Leben scheint vorbestimmt, denn viele Auswahlmöglichkeiten hat man in der DDR nicht. Sehr gute schulische Leistungen und unbedingte Regimetreue sind nötig, wenn sie ihre Träume verwirklichen wollen – doch in wieweit können und wollen sie sich verbiegen?

Martha ist schüchtern und unauffällig, hält sich stets zurück, beobachtet und protokoliert (wie von ihrem Vater verlangt) was um sie herum passiert. Wenn es nach ihren Eltern geht, wird sie Lehrerin oder studiert Ökonomie (natürlich in Moskau). Dass sie richtig gut schreiben kann und lieber Journalistin werden möchte, lehnen sie kategorisch ab. In der Schule gehört sie zu den Besten, dafür arbeitet sie hart und engagiert sich in der FDJ.
Betty ist die Tochter des Strandbadleiters, die heimliche Königin der Schule, ihr Wort ist Gesetz. Sie ist selbstsicher, wunderschön, ein modisches Vorbild. Und sie möchte Schauspielerin werden, wenn schon nicht in Hollywood, dann wenigstens in der DDR. Diesem Ziel ordnet sie alles unter – auch ihre Partnerwahl.
Clara ist hochbegabt, extrem schlau und sehr fleißig. Sie hätte locker ein Jahr überspringen können, aber weil sie nicht in der FDJ ist, wird es ihr besonders schwer gemacht. Trotzdem ist davon überzeugt, dass sie später als Astronautin ins Weltall fliegen wird.

Auch vier Jahre später, kurz vor dem Abi, verfolgen die Freundinnen noch ihre Berufsziele. Martha leitet eine eigene FDJ-Gruppe und scheint sich damit abgefunden zu haben, Lehrerin zu werden. Betty ist die Freundin eines aufstrebenden Regisseurs, der ihr schon erste Rollen verschafft hat. Clara ist weiterhin die Beste ihres Jahrgangs, wird aber von der Schulleitung schikaniert. Als dann das Gerücht umgeht, dass eine Mauer quer durch Berlin gebaut werden soll, müssen sie sich schnell entscheiden. Bleiben sie bei ihren Familien oder wagen sie den Sprung ins Ungewisse? „Manchmal hat das Schicksal einen besseren Plan als den, den man sich selbst zurechtgelegt hat.“ (S. 301)

Julie Heilands „Die Freundinnen vom Strandbad“ hat mich sofort in meine Jugend in der DDR zurückkatapultiert, auch wenn ich 20 Jahre später geboren wurde. Auch ich war in der FDJ und musste an „freiwilligen“ Nachmittagsveranstaltungen teilnehmen. Und auch meine Zukunft war schon geplant, aber ich hatte damals Glück, denn die Wende kam genau rechtzeitig.
Ich kann ich mich darum gut in die drei Freundinnen hineinversetzen, ihre Sorgen und Probleme, mich an das Gefühl ständiger Beobachtung und Bewertung erinnern. Denn auch wenn ihr Leben perfekt klingt, hinter den Fassaden ihrer heilen Familien verbirgt sich so manches Geheimnis.
Martha fühlt sich zu Hause oft als fünftes Rad am Wagen, Bettys Vater bändelt mit jungen Frauen an und ihre Mutter verlässt kaum noch das Haus, stattdessen betäubt sich die ehemalige Pianistin nicht nur mit stundenlangem Klavierspiel, und Claras Vater darf nicht mehr als Pfarrer arbeiten, außerdem müssen sie zusammen mit ihrem Großvater in einer winzigen Wohnung in einem abbruchreifen Haus wohnen.
Doch so lange sie sich, ihre Freundschaft und Träume haben, halten die drei das alles aus. Sie erleben zusammen scheinbar endlose Sommerferien im Freibad, die ersten Schwärmereien und die erste große Liebe. Aber sie können diese unbeschwerte Jugend nicht lange genießen und müssen schneller als erwartet erwachsen werden, denn „Ehrlich zu sein, ist in diesem Land nicht ohne Risiko.“ (S. 506) Clara lernt als erste und auf die harte Tour, dass sie sich anpassen und verstellen muss. Martha wird durch Zuckerbrot und Peitsche von ihren Eltern auf Kurs gehalten, als sie zum ersten Mal etwas Verbotenes macht, und Betty hat einen anderen Mann kennengelernt, der ihr einfach nicht aus dem Kopf geht.

Julie Heiland schildert in ihrem Buch eine wunderbare Freundschaft und scheinbar perfekte Jugend in einem Staat, der alles kontrollieren und bestimmen wollte. Sie zeigt bewegende Schicksale, wie die drei jungen Frauen und ihre Freunde zusammen erwachsen werden und Entscheidungen treffen müssen, für die sie eigentlich noch zu jung sind, die aber ihr weiteres Leben extrem beeinflussen werden. Außerdem zeigt sie, dass wahre Freundschaft einen fast alles aushalten lässt. Mich hat dieses Buch sehr berührt und ich bin extrem gespannt, wie es mit Martha, Betty und Clara im nächsten Band weitergeht.

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Veröffentlicht am 11.06.2022

Die Amazone

Die Hafenärztin. Ein Leben für das Glück der Kinder (Hafenärztin 2)
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„Die Ehe ist ein Grab für eine Frau mit Geist. Ich ziehe es vor, mein eigenes Geld zu verdienen und über mein Leben selbst zu bestimmen.“ (S. 245)
Helene Curtis steht kurz vor dem Abschluss des Lehrerinnenseminars ...

„Die Ehe ist ein Grab für eine Frau mit Geist. Ich ziehe es vor, mein eigenes Geld zu verdienen und über mein Leben selbst zu bestimmen.“ (S. 245)
Helene Curtis steht kurz vor dem Abschluss des Lehrerinnenseminars und macht ein Praktikum in den Auswandererhallen der HAPAG auf der Veddel. Sie soll den Kindern, die meist aus Osteuropa kommen, Deutsch und Englisch beibringen und sie so auf ihren Neuanfang vorbereiten. Als ihr eine Krankenschwester von einem toten Jungen und dem Choleraverdacht erzählt, fragt sie Dr. Anne Fitzpatrick, die ebenfalls dort arbeitet und den Jungen behandelt hat. Anne kann sie beruhigen, die Cholera hatte der Junge nicht. Trotzdem stimmt etwas nicht mit seinem Tod, meint sie und sieht sich die Aufzeichnungen der Krankenstation an – seit 2 Wochen häufen sich Durchfall und Erbrechen bei Kindern. Das kann kein Zufall sein! Sie vermutet Gift und informiert Kommissar Berthold Rheydt, der in einem anderen Fall auch gerade mit Gift zu tun hat. Bei einem getöteten Zuhälter wurde ein sehr teurer Koffer voller hochwertiger Pflanzengifte gefunden, mit denen man in winzigen Mengen allerdings auch heilen könnte: „Der Besitzer … muss ein interessanter Mensch sein. Er ist entweder Arzt oder Massenmörder oder beides. Oder Apotheker.“ (S. 126). Dem Toten gehörte der Koffer also nicht. Aber wem dann? Und hängen die beiden Fälle irgendwie zusammen?

„Ein Leben für das Glück der Kinder“ ist bereits der zweite Teil der Reihe und hat mich wie schon „Ein Leben für die Freiheit der Frauen“ von Anfang bis Ende mitgerissen. Diesmal beleuchtet Henrike Engels das Geschäft mit den Auswanderern, für die auf der Veddel eine eigene kleine (Quarantäne-)Stadt in der Stadt mit Kirche, Synagoge, Musikpavillon, Hotels und Schlafsälen gebaut wurde, um sie von den Hamburgern zu separieren und die Ausbreitung von Krankheiten im Keim zu ersticken. Ich fand es erschreckend, dass die Menschen in verplombten Zügen „angeliefert“ wurden – wie eine beliebige Ware!

Helene hat im ersten Band ein Geheimnis ihres sittenstrengen Vaters entdeckt und konnte dadurch ihre Ausbildung durchsetzen. Sie hat sich ihre langen roten Haare abgeschnitten und sieht jetzt aus wie eine Amazone mit einem kupferfarbenen Helm – und verhält sich oft auch so, ist dem Verein „Frauenwohl“ beigetreten und marschiert beim ersten Frauentag in erster Reihe mit. Ihr Beruf als Lehrerin füllt sie voll aus. Sie setzt auf die noch umstrittene ganzheitliche Betrachtung der Kinder und ist sehr an Sigmund Freuds Lehren interessiert. Der einzige Nachteil ist das Lehrerinnenzölibat – sie hätte gern eigene Kinder und hat sich in einen Mann verguckt ... Ich traue ihr durchaus zu, dass sie einen Weg findet, trotzdem beides zu bekommen – ihren Beruf und eine eigene Familie.

Auch Anne liebt ihren Beruf als Ärztin, macht sich aber nicht nur bei der HAPAG Feinde, als sie auf die Aufklärung der Todesfälle dringt. Leider scheint den Verantwortlichen mehr an ihrem Gewinn als an einzelnen Menschenleben zu liegen. Zudem muss sie sich immer wieder gegen Anfeindungen auch von anderen Frauen wehren, wie unweiblich ihr Beruf wäre. Und dann ist da noch das Geheimnis ihrer Herkunft, über das bisher nur Berthold Rheydt Bescheid weiß und das sie jetzt einzuholen droht.

Berthold Rheydt ist ein Mann mit Ecken und Kanten, ein brillanter Ermittler, der allerdings nicht nur beim Fußball immer mal übers Ziel hinausschießt und sich rührend um seine Untergebenen kümmert.

Teils zusammen, teils unabhängig voneinander kommen die drei dem Täter immer näher und geraten dabei wieder selber in Lebensgefahr. Die Verflechtung der Fälle mit dem Privatleben der Hauptprotagonisten, aus deren Sicht abwechselnd erzählt wird, hat mir wieder sehr gut gefallen. Man kommt ihnen dadurch besonders nahe und erlebt ihre Entwicklung hautnah mit.

Für mich ist auch die Fortsetzung wieder eine sehr gelungene Mischung aus Krimi, Roman und historisch aktuellen Themen. Henrike Engel schreibt sehr fesselnd, kurzweilig und atmosphärisch, lässt das Veddel vor dem Auge des Lesers auferstehen und geht auf die besondere Situation der (jüdischen) Kinder und Frauen unter den Auswanderern ein.
Ich bin schon sehr gespannt auf den nächsten Fall, der bereits im November erscheint.

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