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heinoko

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Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 24.09.2019

Bedrückende und beschämende Milieustudie

Menschen neben dem Leben
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1942 torpediert ein deutsches U-Boot das britische Passagierschiff, auf dem sich der 27-jährige Ulrich Alexander Boschwitz befindet. Boschwitz wird dabei getötet. Zwei Romane sind von ihm geblieben und ...


1942 torpediert ein deutsches U-Boot das britische Passagierschiff, auf dem sich der 27-jährige Ulrich Alexander Boschwitz befindet. Boschwitz wird dabei getötet. Zwei Romane sind von ihm geblieben und wurden glücklicherweise von Peter Graf herausgegeben. Unfassbar tiefen Eindruck hinterließ bei mir „Der Reisende“. Aber auch das vorliegende Buch, das Boschwitz mit 22 (!) schrieb, ließ mich in seiner Intensität erschauern. Welch ein Autor!

„Menschen neben dem Leben“ könnte keinen besseren Titel haben, denn es schildert das Berlin in den 1930er Jahren, in der Zeit der Weltwirtschaftskrise, und zwar die Welt der „kleinen Leute“, des Lumpenproletariats, der Menschen, die weit weg von Varieté und ausschweifendem Nachtleben um ihr Überleben kämpfen und um jedes Stück trocken Brot betteln müssen. Für die es einem Fest gleicht, wenn sie sich nach einer ertragreichen Betteltour ein Essen in einem der zur damaligen Zeit modernen Automatenrestaurants leisten können. Wir lernen Protagonisten kennen, deren Leben sich reduziert hat auf das Stillen der Grundbedürfnisse, die aber dennoch auch von Sehnsucht nach ein paar unbeschwerten Stunden erfüllt sind. Und so finden sie sich abends immer wieder im Fröhlichen Waidmann zusammen, einer typischen Berliner Kneipe. Der blinde Sonnenberg, der am Tag Streichholzschachteln verkauft und voll innerer Wut steckt, mit seiner geistig zurückgebliebenen Frau, die so gerne in Schaufenster guckt. Oder Tönnchen, der alles verspeist, was sich nur finden lässt. Der feige Grissmann, die verrückte Frau Fliebusch, der zu lang geratene klapperdürre Fundholz - jeder der Protagonisten verkörpert ein für die damalige Zeit typisches Leben als Bettler, Kriegsheimkehrer, Prostituierte, Verrückte. Sie treffen zusammen im Fröhlichen Waidmann, und obwohl sie nichts Gemeinsames haben außer der bitteren Armut, so gelingt es dem Alkohol auf sezierende Weise, ihre wahren Persönlichkeiten zum Vorschein zu bringen. Der Roman schildert diese aus der Zeit ins Elend Geworfenen mit einer Intensität, dass man glaubt, den Geruch feuchter modriger Kellerräume nie mehr loszuwerden. Und immer wieder hatte ich beim Lesen die Zeichnungen von Heinrich Zille vor Augen.
Ein unfassbar dichter, intensiver, eindrücklicher, lange nachwirkender Roman, der mich bedrückte und beschämte gleichermaßen, denn wie schreibt der Herausgeber Peter Graf in seinem Nachwort so treffend: „… bei der Lektüre von Ulrich Alexander Boschwitz wird einem … die eigene alltägliche Gleichgültigkeit gewahr, denn man weiß von fremdem Unglück immer so viel, wie man wissen will…“

Veröffentlicht am 21.09.2019

Wirklich super?

Superflashboy
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Ehrlich gesagt – ohne Test mit meinen Lesepaten-Kindern wage ich kein ernsthaftes Urteil über dieses Buch abzugeben. Aus Erwachsenensicht war mir alles viel zu super und vor allen Dingen viel zu durcheinander…
Klar ...


Ehrlich gesagt – ohne Test mit meinen Lesepaten-Kindern wage ich kein ernsthaftes Urteil über dieses Buch abzugeben. Aus Erwachsenensicht war mir alles viel zu super und vor allen Dingen viel zu durcheinander…
Klar verstehe ich, dass ein Junge, der Torben-Henrik heißt, viel lieber ein Superheld wäre, statt in seiner musikalischen Familie zu leben. Schließlich kann er mühelos 40 Liegestütze! Er gerät durch einen geheimen Zugang in die Heldenstadt Hero City, dem Ort, an dem alle Superhelden wohnen. Doch sein unbedingtes Idol Flashboy erweist sich als Musikus mit Schaumstoffmuskeln, der eigentlich viel besser in die Familie von Torben-Henrik passen würde. Da könnte man doch die Rollen tauschen. Als jedoch Torbens bester Freund Mehmet verschwindet und mit ihm noch andere Kinder, muss dieser sich beweisen…
Die Geschichte ist actionreich, ein bisschen verrückt, streckenweise spannend erzählt. Sie enthält viele witzige Ideen, wie z. B. die sich selbst tragenden Schwebekoffer. Oder durchaus sinnvolle Gedanken wie die Tatsache, dass radioaktiver Müll aus dem Atomkraftwerk die Lebewesen verändert und dass man sich besser nicht ärgert, wenn man erfolgreich sein will. Aber dann wiederum schickt man seine eigene Kopie zum Zahnarzt. Dieses Vermeidungsverhalten gefällt mir nicht. Auch die Sprache gefällt mir nicht wirklich, sie ist durchsetzt mit Anglizismen, die ich für 8-jährige Leser für zu schwierig halte. Auch dass man beim Lesen schon mal schnell die Orientierung verliert, denn wer ist nun echt und wer eine Kopie von wem?
Wie gesagt, ich bin gespannt, wie „meine“ Kinder auf die Geschichte reagieren werden. Vielleicht stellt sich ja heraus, dass das Buch eine super Geschichte mit super Handlung für super mutige, super tapfere kleine Lese-Helden ist, die im übrigen mit super ausdrucksstarken Illustrationen ausgestattet ist. Und dass die Botschaft ankommt, wie gut es ist, wenn man völlig unverstellt, ohne Verkleidung, zu seiner eigenen Persönlichkeit steht. Das wäre dann wirklich echt super!

Veröffentlicht am 16.09.2019

Poetisches Märchen für tapfere kleine Leser

Frau Wolle und der Duft von Schokolade
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Welch ein zauberhaftes Buch, zum Träumen und gegen die Angst für tapfere kleine Leser.
Mama arbeitet viel, denn Papa lebt weit entfernt. Lediglich seine Stimme ist gelegentlich über Radio zu hören. Warum ...


Welch ein zauberhaftes Buch, zum Träumen und gegen die Angst für tapfere kleine Leser.
Mama arbeitet viel, denn Papa lebt weit entfernt. Lediglich seine Stimme ist gelegentlich über Radio zu hören. Warum das so ist, wird nicht erklärt, was aber auch nicht nötig ist. Viel wichtiger ist, dass so vieles, was Papa den Kindern Merle und Moritz in früheren Jahren erzählt hatte, im Gedächtnis der beiden geblieben ist und sie sich, gerade in unsicheren Zeiten, daran erinnern und es ihnen Halt gibt. Als Mama Spätschichten übernehmen muss, sucht sie nach einer Nachtfrau, die die beiden Kinder ins Bett bringen soll, was Merle und Moritz so ganz und gar nicht gefällt. Doch es hilft nichts. Gesine Wolkenstein, eine seltsame und etwas unheimliche Frau, deren Augenfarbe wechselt und die oftmals Dinge sagt, die Papa früher auch gesagt hatte, beginnt ihren Dienst. Schlimmer noch, Gesine Wolkenstein besitzt einen schwarzen Laden, dem man nachsagt, es würden dort Kinder verschwinden. Andererseits kocht sie einen wunderbaren Kakao mit Sahne, der beim Einschlafen hilft. Nachts jedoch öffnet sich plötzlich im Kinderzimmer die Tür in die „Murkelei“, einem fernen Land, von dem Papa oft erzählt hatte. Es ist gefährlich in der Murkelei, denn dort wohnen böse Spitzzahntrolle, die harmlos in Reimen reden, aber in Wirklichkeit mit Schokolade die Eindringliche gefügig machen wollen, damit sie auch zu Trollen werden. Überhaupt gibt es viel Erstaunliches und Erschreckendes in der Murkelei. Als Moritz jedoch seinen Radio, eben die einzige Verbindung zu Papa, in der Murkelei vergisst und die beiden Kinder ein zweites Mal dorthin zurückkehren müssen, wird es so richtig gefährlich…
Die Autorin verzaubert völlig mit ihrer fantasiereichen Geschichte, dessen offenes Ende Neugier auf eine Fortsetzung macht. Sie hat mit Gesine Wolkenstein eine moderne Mary Poppins mit einer unheimlichen Seite geschaffen. Die tapferen Kinder Merle und Moritz, die genau wissen, was ihre von der Arbeit müde Mutter braucht und deren Trost Papas ferne Stimme aus dem Weltempfänger ist, die es mutig mit den bösartigen Gesellen in der Murkelei aufnehmen – diese Kinder haben es mir mit ihrer einfühlsamen und tapferen Art sehr angetan. Die durchaus grausame Seite der Geschichte macht das Lesen sehr, sehr spannend. Und das alles ist verpackt in einer klaren, oftmals geradezu poetisch schönen Sprache: „Der Sommermorgen … schmiss die Sonne mit beiden Händen auf das Kopfsteinpflaster…“
Kurz gesagt – ein überraschendes, witziges, märchenhaftes, geheimnisvolles, poetisches, spannendes Buch, das nur tapfere Kinder lesen sollten. Sehr schön passend ist das Buch ausgestattet mit einer wunderbar ausdrucksstarken Bebilderung.

Veröffentlicht am 09.09.2019

Vollmundige Verlagswerbung - zu Recht?

Ein anderer Takt
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Vor mir liegt die Wiederentdeckung eines Romans, 1962 erschienen, und zwar eines Erstlingsromans eines (fast) vergessenen Autors. „Gigant“ wird der Autor in der Presse genannt, „Eine literarische Sensation“ ...


Vor mir liegt die Wiederentdeckung eines Romans, 1962 erschienen, und zwar eines Erstlingsromans eines (fast) vergessenen Autors. „Gigant“ wird der Autor in der Presse genannt, „Eine literarische Sensation“ lobt man den Roman. Warum? Das Thema ist schon in so vielen Variationen behandelt worden, in so vielen unterschiedlichen Schreibstilen verpackt, mal mehr, mal weniger packend. Warum ist dieses Buch eine Sensation? Ehrlich gesagt – ich weiß es nicht.
Die Geschichte spielt in dem kleinen Dorf Sutton, in einem fiktiven Staat im Süden der USA gelegen. Der afroamerikanische Farmer Tucker Caliban versalzt seine Felder, schlachtet Pferd und Kuh, brennt sein Haus nieder und verlässt den Staat, gefolgt von dessen gesamter afroamerikanischer Bevölkerung. Was für ein Szenario, diese gesammelte Weigerung, noch länger in Unterdrückung zu leben. Besonders an der Erzählweise ist sicher, dass ein Afroamerikaner aus der Perspektive der zurückbleibenden Weißen berichtet. Wer wird von nun an die Feldarbeit übernehmen? Was soll nun überhaupt geschehen? Zorn und Hilflosigkeit gleichermaßen machen sich breit, schaukeln sich hoch zu einer gefährlichen Mischung…
Sehr hilfreich war für mich der dem Roman vorangesetzte erhellende Aufsatz über Leben und Werk des Autors William Melvin Kelley. So konnte ich den Roman etwas besser einordnen, auch den manchmal beißenden Humor besser verstehen. Dennoch hatte ich Mühe mit diesem Buch und habe es insgesamt gesehen einfach nicht gerne gelesen. Mit dem Schreibstil kam ich nicht zu Recht oder anders gesagt, die Sprache gefiel mir überhaupt nicht. Ich fand für mich keinen inneren Bezug zur Handlung und zu den Personen. Ich las das Buch gewissermaßen als Pflichtübung und empfand dies als anstrengend. Auch wenn der Inhalt natürlich letztlich heute noch so aktuell ist wie damals, keine Frage. Aber mir gab das Buch leider nichts, es hat mich nicht gepackt. Auch wenn es etwas Besonderes ist, dass ein schwarzer Autor aus Sicht der Weißen erzählt. Auch wenn es durchaus einzelne fesselnde Passagen im Buch gibt. Nein, für mich war das Buch leider keine Sensation.

Veröffentlicht am 08.09.2019

Menschliche Verstrickungen, spannend erzählt

Todesstrom
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Die Autorin ist für mich eine Neuentdeckung. Mit „Todesstrom“ legt sie einen ruhigen Kriminalroman vor - ruhig, aber keine Sekunde langweilig. Im Gegenteil!
Cormac Reilly war erfolgreicher Detective einer ...


Die Autorin ist für mich eine Neuentdeckung. Mit „Todesstrom“ legt sie einen ruhigen Kriminalroman vor - ruhig, aber keine Sekunde langweilig. Im Gegenteil!
Cormac Reilly war erfolgreicher Detective einer Sondereinheit in Dublin, kehrt aber aus Liebe zu Emmy in den normalen Polizeidienst nach Galway zurück. Dort holen ihn Erinnerungen aus seiner Anfangszeit als blutjunger Polizist ein, als er in einem heruntergekommenen Landhaus zwei völlig vernachlässigte, abgemagerte Kinder vorgefunden hatte. Maude war 15 und Jack 5 Jahre. Im Schlafzimmer lag die Mutter, tot, bereits halbverwest. Man ging von Selbstmord der drogensüchtigen Mutter aus und legte den Fall zu den Akten. Jetzt, 20 Jahre später, hat Reilly erhebliche Probleme mit seinen feindseligen Kollegen. Man bürdet ihm allerlei ungelöste frustrierende Fälle auf. Lediglich mit Danny, den er noch aus der Polizeischule kennt, verbindet ihn eine lose Freundschaft. Als aktuell ein Selbstmord eines jungen Mannes zu bearbeiten ist, der sich als der damals von Reilly aufgefundene 5-jährige Jack erweist, ergeben sich für Cormac Reilly merkwürdige, unerklärliche Verbindungen in die Vergangenheit einerseits, aber auch verworrene Verstrickungen in der Gegenwart andererseits. Nichts, aber auch gar nichts passt zueinander…
Als erstes fiel mir, als ich das Buch in Händen hielt, die seltsame, samtig wirkende Haptik des Einbandes auf. Schön und absolut unempfindlich! Gleichermaßen fiel mir allerdings auch die schlechte Papierqualität auf. Dessen ungeachtet hat mich der Roman von der ersten Seite an gefesselt, und das bis zum Ende 460 Seiten später. McTiernan erzählt in ruhigem Fluss, aber eindringlich, mit lebendigen Interaktionen. Ihre Protagonisten werden in ihrer jeweiligen Individualität so plastisch vorgestellt, dass der Leser schnell Sympathien und Antipathien verteilt, aber immer wieder auch verunsichert wird, ob diese Gefühle richtig sind. Überhaupt wird man so ins Geschehen eingebunden, dass man ähnlich wie Reilly immer wieder ins Grübeln verfällt und doch keine schlüssigen Erklärungen findet, und dies bis zum fulminanten Ende, das schließlich alle losen Erzählfäden schlüssig verknüpft und so alle Unklarheiten einen Sinn im Gesamten finden.
Fazit: Ein ruhiger Kriminalroman über Korruption und menschliche Verstrickungen mit gut ausgearbeiteten Charakteren, düster und sehr, sehr unterhaltsam.