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Veröffentlicht am 27.02.2024

Pflanztastisch

Geniale Power-Pflanzen
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Dass wir Menschen unsere Inspiration aus der Natur beziehen, ist klar. Spätestens nach der Lektüre des im vergangenen Jahr bei Seemann erschienenen Kinderbuchs „Von Ameise bis Wombat – Tierisch geniale ...

Dass wir Menschen unsere Inspiration aus der Natur beziehen, ist klar. Spätestens nach der Lektüre des im vergangenen Jahr bei Seemann erschienenen Kinderbuchs „Von Ameise bis Wombat – Tierisch geniale Bautricks für unsere Zukunft“. Mit „Geniale Powerpflanzen – Vorbilder für unsere Zukunft“ liegt jetzt quasi der florale Nachfolger vor. Bloß das Autoren-Illustratoren-Duo hat gewechselt, jetzt nehmen uns Clive Gifford und Gosia Herba zusammen mit Steppenhexe Kali mit auf die Reise in die Pflanzenwelt. Und das macht fast noch mehr Spaß.

Das Buch ist in sechs Überkategorien eingeteilt und zeigt Vorbilder und Inspiration zu Strukturen, Robotik, Energie, Gesundheit, Nachhaltigkeit und Materialien, die in der faszinierenden Welt der Blumen, Bäume und anderen Pflanzen zu finden sind. Wusstet ihr beispielsweise, dass Pomelos einen eingebauten Stoßdämpfer haben, um Stürze von bis zu 15 Meter hohen Bäumen abzufedern? Dass Forscher:innen in Singapur Roboterarme an ein Fangblatt einer Venusfliegenfalle gebunden haben, damit dieser schneller zugreifen kann? Oder sie versuchen, aus dem Blatt des Madagaskar-Immergrüns ein Leukämie-Mittel für Kinder zu entwickeln?

All diese und noch viele, viele weitere Themen werden in diesem Kinderbuch ab fünf Jahren behandelt. Ob man den Vorgänger nun kennt oder nicht, spielt keine Rolle. Hier wurde lediglich das Quiz am Ende des Buchs vermisst. Der Illustrationsstil von Gosia Herba ist dem von Yeji Yun sehr ähnlich, die beiden Bücher haben also trotz des unterschiedlichen Teams einen klaren Wiedererkennungswert. Und einen hohen Spaßfaktor, schließlich gucken alle Pflanzen total fröhlich aus der Wäsche und auf fast allen Seiten gibt es etwas zu entdecken und zu lachen.

Die Lieblingskapitel im Haus sind die Klette, die das Prinzip des Klettverschlusses wunderbar erklären, der maisterhafte (sic!) Mais, aus dem nicht nur Essen, sondern auch schnell abbaubares Geschirr gewonnen wird, und natürlich der mega-stinkende Titanenwurz. Aber auch die Steppenhexe, bekannt aus Wild-West-Filmen, deren Tumbleweed-Struktur als Inspiration für den nächsten Mars-Rover dienen kann. Und von da, ist es nicht mehr weit bis zum Star Wars-Liebling BB-8. Tierisch gut, ääh, nee, natürlich pflanztastisch, oder?

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Veröffentlicht am 07.02.2024

Magerjahre

Klarkommen
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Die fetten Jahre? Gibt’s nur in Geschichten. Zumindest für die Ich-Erzählerin. Weder auf dem Land zu Abi-Zeiten noch in der Studi-Großstadt ist das Leben laut, bunt und aufregend. Stattdessen gibt’s nur ...

Die fetten Jahre? Gibt’s nur in Geschichten. Zumindest für die Ich-Erzählerin. Weder auf dem Land zu Abi-Zeiten noch in der Studi-Großstadt ist das Leben laut, bunt und aufregend. Stattdessen gibt’s nur Apfelschorle in der Kneipe, ruhige WG-Abende, Geburtstagsbrunch statt wilder Reinfeier – und genau zur einzigen richtig-wichtigen Party einen grippalen Infekt. Soll das so? Vermutlich. Denn das ist, mit Freddie Mercury-Stimme gesungen, the real life.

Ilona Hartmann war vor Jahren ja eine der gehypten Twitter-Autorinnen. Leider aber auch ein gutes Beispiel, dass launige Tweets nicht auch launige Bücher bedeuten. Ihr Debütroman „Land in Sicht“ war zu bemüht, zu konstruiert und insgesamt eher langweilig. Die gute Nachricht: All das hat sie in „Klarkommen“ abgestreift.

Ihr neues Buch ist authentisch, gut geschrieben, nicht mit berufsjugendlichen Buzzwords vollgeknallt. Der Ton passt ideal zur Geschichte. Kurze, nur wenige Worte oder Zeilen lange Kapitel, eher Gedankenfetzen, wechseln sich mit Erlebnissen der Protagonistin ab. Mein Handy war nach der letzten Seite voller Fotos von Zitaten. Nicht unbedingt pointiert, aber nachfühlbar und selbst erlebt. Ein Beispiel für einen dieser schönen Sätze: „Jedes Mal, wenn wir freiwillig oder zufällig Nachrichten gelesen hatten, beschlich uns das beklemmende Gefühl, dass wir uns mit dem Aufblühen beeilen mussten.“ Übrigens ist das auch das ganze Kapitel mit der passenden Überschrift „Druck“.

Und genau dieses Nachvollziehbare, dieses Echte ist das Alleinstellungsmerkmal von „Klarkommen“: Der Roman ist kein wilder Road-Trip durch Jugend- und Studijahre, keine Dauerparty, kein Coachella-Insta-Life. Keine Realitätsflucht in andere Leben, die so viel bunter, glamouröser und aufregender sind als das einzige. Stattdessen ein Spiegel des eigenen Großwerdens und dadurch auch ein klares „Dein Leben ist in Ordnung, auch wenn du denkst, du verpasst was, denn anderen geht es genau wie dir.“-Statement. Coming-of-Age ist eben mehr Magerkost als Vollfettware, egal was alle behaupten. Und genau das macht Ilona Hartmanns 2024er Buch zu einem ersten Highlight des noch jungen Lesejahres.

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Veröffentlicht am 30.01.2024

Schlachthof Boys

Essex Dogs
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Historische Romane sind ja eigentlich nicht meins. Zu langatmig oder zu kitschig oder im schlimmsten Fall beides. „Essex Dogs“ ist da anders. Rasant, brachial, stellenweise witzig – und nah an der Historie. ...

Historische Romane sind ja eigentlich nicht meins. Zu langatmig oder zu kitschig oder im schlimmsten Fall beides. „Essex Dogs“ ist da anders. Rasant, brachial, stellenweise witzig – und nah an der Historie. Das ist der Verdienst des Autors – Dan Jones. Nebenberuf Autor, Hauptberuf Historiker. Hohe Fallhöhe – aber es geht nicht schief. Zum Glück.

Die „Essex Dogs“ sind ein Haufen Söldner, der 1346 mit englischen Heeren nach Frankreich zieht. Eigentlich haben sie sich nur für 40 Tage verpflichtet, danach soll es wieder zurückgehen in die Grafschaft nordöstlich von London, zurück zu Pints und Pubs. Dass dies erst der Auftakt des Hundertjährigen Krieges sein wird, ahnt vermutlich keiner. Auch nicht, dass nicht alle Essex Dogs den französischen Boden verlassen werden.

Dan Jones Roman ist wahrlich kein Buch für Leser:innen von cozy history. Er ist eine klassische Kriegsgeschichte. Dörfer werden erobert und zerstört, Frauen vergewaltigt, Kinder getötet. Nicht explizit, da die Dogs aus Essex sich an letzteren Taten nicht beteiligen, dennoch harte, wenn leider auch wahre Kost.

Jones mixt für seine Geschichte historische Figuren von King Edward III, dessen Sohn und britischen Feldherren sowie ihren französischen Pendants mit den fiktiven Essex Dogs um ihren leicht mysteriösen Anführer Loveday. Letzterer kämpft mit den Schatten seiner Vergangenheit – dem Tod seiner Familie, dem Verlust des früheren Dogs-Chefs Captain – und dem Auf- und Abtauchen einer nebulösen Frau in einer eroberten Stadt, die ihm keine Ruhe lässt. Und natürlich damit, seine Gruppe heil aus England zu bekommen. Ein hoffnungsloses Unterfangen.

Viel Geschichtswissen müssen Leser:innen nicht mitbringen. Es gibt eine Karte, die den Schlachtzug von der Landung in der Normandie hin zur Schlacht von Crécy nachzeichnet. Jedes Kapitel startet mit einem kurzen Auszug aus historischen Dokumenten. Den Rest erzählt Jones, basierend auf historischen Dokumenten, Liedern und Erzählungen und mit einer großen Portion eigener Story. Ob alle historischen Figuren charakterlich korrekt getroffen sind – von den harten Feldherren bis zum weichen, unsicheren Königssohn – sei dahingestellt, aber „Essex Dogs“ ist ja weniger Geschichtsbuch als Abenteuerroman.

Und natürlich dauert die Reise der Dogs länger als 40 Tage im Schlachthaus Frankreich. Sie ist nach der letzten Seite nicht einmal zu Ende. Denn so ein hundertjähriger Krieg dauert länger als ein paar Monate – und am Schluss wartet noch der ein oder andere Cliffhanger. Und damit ändern sich auch für mich zwei Dinge: Vielleicht werde ich doch noch Fan historischer Romane – und vielleicht sogar der von Roman-Reihen. Danke, Dan Jones. Vermutlich.

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Veröffentlicht am 19.01.2024

Ein Fall für Scully (nicht für Mulder)

Endling
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Damals, in den 90ern, gab es einen netten kleinen Indie-Hit der walisischen Band Catatonia mit der Zeile „This could be a case for Mulder and Scully“. Ein Lied, das ich beim Lesen von „Endling“ mehrfach ...

Damals, in den 90ern, gab es einen netten kleinen Indie-Hit der walisischen Band Catatonia mit der Zeile „This could be a case for Mulder and Scully“. Ein Lied, das ich beim Lesen von „Endling“ mehrfach im Ohr hatte, denn irgendwann driftet Jasmin Schreibers neuer Roman unterschwellig in eine Akte X-Folge ab – und vermutlich stört mich das mehr als es sollte. Auf hohem Niveau. Und ohne Mulder. Aus Gründen.

„Endling“ spielt in einer nahen Zukunft, 2041, und dennoch hat die Welt sich verändert. Die Klimakatastrophe hat sich verschlimmert. Und mit den Arten sind auch Demokratie und Frauenrechte gestorben, faschistische Regierungen sind nicht nur in Deutschland an der Macht, ganz Europa scheint den Bach runtergegangen zu sein. Im Gegensatz zu vielen Zukunftsroman und Dystopien liest sich das Szenario in „Endling“ bedauerlicherweise viel zu realistisch und nachvollziehbar, um wirklich leicht verdaulich zu sein.

Und auch persönliche Probleme spielen eine Rolle. So zieht es Zoe, Wissenschaftlerin in München, nach Jahren zurück in ihre Frankfurter Heimat. Sie soll auf ihre Schwester aufpassen, während ihre Mutter einen Alkoholentzug macht – und merkt schnell, dass auch Hannah ihr Leben, ihren Alltag mit Wein und Schnaps betäubt. Nachvollziehbar ist es: Der Vater ist in einer vergangenen Pandemie verstorben, die Mutter häufig berauscht, die Schwester weggezogen und die Tante, die über ihnen im Haus wohnt, hat ihre Wohnung seit Jahren nicht verlassen. Doch ein Aufbruch naht – als eine Freundin der Tante in Südtirol verschollen ist, wagt sich Auguste zusammen mit ihrer Schnecke in die Außenwelt.

Eigentlich ein spannendes Szenario. Eine sterbende Welt, eine Gesellschaft am Abgrund, interessante Figuren und ein Roadtrip quer durch Europa – nach Italien geht es wenig später nach Schweden. Und dank Jasmin Schreibers persönlichen Background als Biologin erfährt man einiges über lebende und bedrohte Arten, ihre Verhaltensweisen und wie der Klimawandel Flora und Fauna bedroht. Genau wie das politische Klima Frauen bedroht und Dörfer entstehen, in denen es keine Männer gibt. Genau zu so einem reisen Zoe, Hannah und Auguste samt Schnecke. Und genau da kippt das Buch in eine Art, die es, für mich persönlich, nicht gebraucht hätte.

Ohne zu viel vorwegzugreifen, hätte mir hier ein realistischer Ansatz, eine wissenschaftlich belegbarere Welt besser gefallen. Die Idee und ihre Visualisierung ist faszinierend, total gut hergeleitet und gleichzeitig offen genug gehalten, um nicht als komplette Science Fiction durchzugehen. Trotzdem sperrte sich da in mir etwas gegen diese Akte X-Aufmachung – und das, obwohl ich zumindest die ersten drei Staffeln ein Riesenfan der Serie war. Vielleicht, weil in Schreibers Zukunft alles so schlüssig, so bedrohlich erschien und das durch diese Sci-Fi-Elemente zu stark gebrochen wird.

Trotzdem: „Endling“ ist ein spannendes, gut geschriebenes Buch, das gleichzeitig eine düster-realistische Zukunft zeigt, aber auch Hoffnung macht. Und Hannahs Idee, den patriarchalischen Faschismus zu beenden, ist gleichzeitig großartig wie amüsant. Nicht ganz so gut wie die Vorgänger „Marianengraben“ und „Der Mauersegler“, aber dennoch ein toller Roman für alle, die den Klimawandel und das Erstarken rechtspopulistischer und rechtsextremer Parteien mit Angst und Sorge betrachten – und auch für die, die das noch nicht tun.

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Veröffentlicht am 04.01.2024

Ein bisschen Hoffnung

Hab ich noch Hoffnung, oder muss ich mir welche machen?
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Zum Jahreswechsel machen wir uns ja immer ein bisschen Hoffnung. Neues Jahr, neues Glück. Die bösen Geister des alten Jahres werden weggeböllert. Und so weiter und so fort. Ist vermutlich mehr Gewohnheit ...

Zum Jahreswechsel machen wir uns ja immer ein bisschen Hoffnung. Neues Jahr, neues Glück. Die bösen Geister des alten Jahres werden weggeböllert. Und so weiter und so fort. Ist vermutlich mehr Gewohnheit als tatsächliche Hoffnung. Haben wir diese überhaupt noch? In Zeiten von Klimawandel, Rechtsruck und Kriegen? Genau dieser Frage geht Till Raether in seinem neuen Essay nach. Persönlich, ein-, aber nicht aufdringlich und durchaus auch humorvoll.

Raether startet seine Hoffnungsreise in seiner Jugend, in den 80ern. Der Kalte Krieg ist noch nicht zu Ende, die Angst vor einem Krieg in Europa, vor einer Atombombe ist präsent. Wer in der Zeit aufgewachsen ist, kennt das Gefühl. Wer später aufgewachsen wer, hatte ähnliche Ängste zu Zeiten von 9/11 und Irakkrieg oder natürlich aktuell mit Klimakrise und Ukraine-Krieg, zu denen Raether einen passenden Bogen spannt.

Aber auch private Hoffnungslosigkeit ist in seinem Essay präsent: Seine eigene Depression, schon ausführlicher in seinem Vorgänger Bin ich schon depressiv, oder ist das noch das Leben? behandelt, die seiner Mutter und ihre letzten Lebensjahre im ungeliebten Hamburg, die Corona-Pandemie. Und Wege daraus. Das Schöne, das Gute, das wirklich Wichtige daran: Raether gibt hier nicht den Life-Coach, er hat kein Patentrezept, kein So sprühst du morgen zu 100 % wieder voller Hoffnung -101.

Er erzählt von seinen Erfahrungen, von kleinen persönlichen Schritten, die ihm geholfen haben. Zum Beispiel seinem Japanisch-Kurs. Ist nix für jeden, aber vielleicht ist es in einem anderen Fall ja Zeichnen, Wandern oder das Erlernen von Flechtfrisuren für Langhaarhunde. Schreibe ich, schreibt nicht Raether, so quatschig ist er nicht. Er wirkt eher, so gottlos er aufgewachsen und so fern er der Institution Kirche noch heute ist, eher wie ein gutmütiger Pater in einer Art Religionsunterricht für Erwachsene.

Nicht belehrend, aber Anstöße gebend, Mut machend, dass man zwar vielleicht alleine in einem Boot ist, aber ganz viele Boote um einen rum sind, in denen Menschen mit gleicher Gefühlslage sitzen. Und das funktioniert bei mir persönlich beispielsweise besser als in Daniel Schreibers Die Zeit der Verluste , ein Buch über Trauer. Schreiber verliert sich für meinen Geschmack zu sehr in Venedig, so dass die wirklich guten, wichtigen Passagen seines Essays untergehen, so wie vermutlich eines Tages die italienische Hafenstadt.

Der Hamburger Raether bleibt bei seiner Sache, verliert sich und vor allem mich nicht und schafft es, dass ich das Buch in einem Rutsch durchlese, obwohl ich es auch schön häppchenweise hätte machen können - ein bisschen Hoffnung morgens, mittags, abends über vier Tage verteilt. Gutes Rezept eigentlich, nicht mal verschreibungspflichtig.

Und das Fazit? Lässt sich am besten so zusammenfassen: Es ist nicht schlimm, keine Hoffnung zu haben. Solange man noch Lust hat, wieder welche zu bekommen.

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