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Veröffentlicht am 24.01.2023

Ein müder Traum von einem Leben

Der Inselmann
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„Es war so kalt, dass selbst der Wind fror.“

Ein wunderschöner erster Satz, einer von vielen in „Der Inselmann“, der notiert werden sollte in einem Büchlein für wunderschöne Sätze. Und genau diesen vielen ...

„Es war so kalt, dass selbst der Wind fror.“

Ein wunderschöner erster Satz, einer von vielen in „Der Inselmann“, der notiert werden sollte in einem Büchlein für wunderschöne Sätze. Und genau diesen vielen schönen Sätzen, der besonderen Stimmung, die Dirk Gieselmann in seinem Debütroman schafft, verzeiht man, dass der Geschichte am Ende die Luft ausgeht. Oder sie zumindest so ganz anders endet als erwartet, als, nach den intensiven acht Jahren im Leben von Hans Rohleder, seine restlichen Jahrzehnte nur noch ein in Frage gestellter Schnelldurchlauf sind.

Die Leser:innen begleiten Hans‘ mit seinen Eltern auf eine einsame Insel im See, auf der der Vater die Schafe hütet. Irgendwann jedoch wird die Schulbehörde aktiv und Hans muss jeden Tag eine Stunde ans Festland und wieder eine Stunde zurückrudern, bis er vom ehemaligen Nachbarsjungen die Nase gebrochen bekommt und fortan auf der Insel bleibt – und der Schulleiter ihn für Jahre in eine Besserungsanstalt einfahren lässt. Zwischen Dorfstechern und Bettnässern herrscht ein brutaler Direktor, der die Kinder misshandelt, aber Hans trotz 27 Peitschenhieben nicht bricht und ihn schließlich mit der Volljährigkeit in die Freiheit entlässt. Doch seine geliebte Insel, sein Rückzugsort, sein sicherer Hafen in Kindheitstagen, ist ihm keine Heimat mehr.

„Und was ist mit Hans: Ist seine Geschichte traurig? Ist sie schön? Ist sie beides? Gibt es Hans noch? Gab es ihn je?“

„Der Inselmann“ ist im besten Fall ein melancholisches, vielleicht ein tieftrauriges Buch, aber auch, wie Gieselmann es im Zitat erfragt, ein schönes. Es scheint aus der Zeit gefallen, nicht nur, weil seine Geschichte etwas unbestimmt in den späten 50er- oder 60er-Jahren spielt, nein, auch aufgrund von Gieselmanns Schreibe, mal plastisch, mal vage, nie ganz bestimmt und doch eindrucksvoll. Aufgrund seiner Kürze meint man, sie in einem Stück wegatmen zu können und vermutlich ist dies auch möglich, wäre aber schade, denn die Leseabschnitte laden gerade dazu ein, durchzuschnaufen, das Gelesene und Geschehene sacken zu lassen, zu verarbeiten.

Ein überraschendes Buch auch deswegen, dass Dirk Gieselmann bislang eher durch launige Texte für das Süddeutsche Magazin, die Zeit und vor allem das Fußball-Überheft 11Freunde aufgefallen und in Erinnerung geblieben ist und sein Debütroman seinen Kolumnen, Reportagen und Live-Tickern so gar nicht nahe kommt. Was aber durchaus Sinn macht, der Fußball an sich ist ja – je nach Vereinsvorliebe – schon deprimierend genug.

Der Wermutstropfen, der Grund, warum das Buch zwar wunderschön, aber nicht perfekt ist: das Ende. Die letzten Seiten, das Leben des alternden Hans Rohleder im Schnelldurchlauf, hier schwer zu beschreiben, ohne, etwas vorwegzunehmen, ist zu komprimiert. Zu traurig vielleicht auch, man hätte Hans ein schönes, lautes, glückliches und vor allem selbstbestimmtes Leben gewünscht, aber Melancholie und aus dem Takt geratene Leben muss und kann man aushalten. Nur hier fehlte ein wenig die Tiefe der vorangegangenen Kapitel. Aber vielleicht, ja vielleicht, ist es ja wie im Zitat – eine Sage, ein Traum, eine Geschichte von einem Inselmann, die vielleicht so gar nicht stimmt, wenn es ihn denn je gegeben hat. Lesenswert ist sie allemal. Und sie hallt lange nach.

„Alles liegt jetzt wieder da in verschattetem Blau, dem müden Licht eines Traums, der einmal wahr gewesen ist.“

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Veröffentlicht am 23.01.2023

Auf der Strecke geblieben

Frankie
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Frank. Frankie. Frankie Boy. Wie niedlich geht’s noch? Verbales Wangenkneifen vom Knast-Opa. Keine Sache, die Fast-14-Jährige okay finden. Aber was ist hier schon okay? Den Großvater kennt er nicht, er ...

Frank. Frankie. Frankie Boy. Wie niedlich geht’s noch? Verbales Wangenkneifen vom Knast-Opa. Keine Sache, die Fast-14-Jährige okay finden. Aber was ist hier schon okay? Den Großvater kennt er nicht, er saß ein, als Frank noch nicht auf der Welt war. Jetzt kommt er raus, Franks Mutter holt ihn mit ihm ab, verängstigt. Und auch Frank hat schon bald einen gewissen Respekt vor ihm, zumindest so viel, wie Fast-14-Jährige eben Respekt haben. Aber etwas fasziniert ihn auch an seinem Opa – und er folgt ihm, erst auf einen Spaziergang, dann auf eine Autofahrt.

Michael Köhlmeiers Frankie startet ganz viel versprechend. In schöner, nicht allzu verkitschter Sprache lässt er Frank denken, sprechen, beobachten, begreifen. Er beschreibt gut die Zerrissenheit des Jungen, der herausfinden möchte, wer sein Opa ist und warum er für 18 Jahre im Gefängnis saß, gleichzeitig aber so cool und uninteressiert so tun, wie es Kids in diesem Alter nun einmal machen. Er zeichnet eine schöne Beziehung zwischen Frank und seiner alleinerziehenden Mutter, die an der Opa arbeitet und immer länger wegbleibt, was ihn schon einiges vermuten lässt.

Aber nach der Hälfte, vielleicht auch zwei Dritteln des Buchs, verliert sich der Roman. Eben direkt nach diesem Showdown auf der Autobahnraststätte, den der Klappentext anteasert, nur nicht am Ende gelegen. Und das ist schade. Was danach folgt, ist eigentlich nur noch Geplänkel. Keine Erkenntnisse, welche Folgen der Besuch der Autobahnraststätte hatte, keine Auflösungen über die Taten des Großvaters. Ein neuer Freund der Mutter wird eingeführt, der Vater taucht mit seiner neuen Liebschaft auf, es geht noch einmal raus an die Raststätte und dann ist das Buch tatsächlich vorbei, irgendwie zu spät und unbefriedigend, nach dem guten Start.

Was bleibt, ist ein schön geschriebener Roman mit vielen österreichischen Formulierungen, die auf Deutsche oft putzig oder charmant oder skurril wirken, eine Art Coming-of-Age-Road-Novel, auch wenn junge Leser vielleicht gar nicht so die Zielgruppe sind und der Road-Trip gar nicht mal so lang ist, dafür wird viel gelaufen, durch Wien, durch Wälder. Und obwohl ich offene Enden und lose gebliebene Handlungsstränge mag, so bleibt hier leider auch eine gewisse Unzufriedenheit, weil die Geschichte auf der Strecke geblieben ist, wie - kleiner Spoiler Alert - ein geklautes Auto an einer Autobahnraststätte.

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Veröffentlicht am 09.01.2023

No shit, Frau Schmitt!

Liebewesen
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Okay, direkt zu Beginn zwei Punkte. Lest sie euch durch und entscheidet selbst, ob ihr weiterlesen möchtet:

1. Dieses Buch braucht eine ganze Ladung Trigger-Warnungen: Depression, Tod, Kindesmisshandlung, ...

Okay, direkt zu Beginn zwei Punkte. Lest sie euch durch und entscheidet selbst, ob ihr weiterlesen möchtet:

1. Dieses Buch braucht eine ganze Ladung Trigger-Warnungen: Depression, Tod, Kindesmisshandlung, Schwangerschaft(sabruch), Alkoholsucht, Vergewaltigung. Und sicher noch die ein oder andere. Gute-Laune-Buch ist anders. Aber wann lese ich schon Gute-Laune-Bücher?
2. Ich bin ein bisschen befangen. Die Autorin hat nämlich einen der am schönsten kuratierten Instagram Accounts überhaupt und ich folge ihr schon seit einigen Jahren – und habe mich nach vielen, vielen Buchtipps gefreut, dass nun ihr eigenes vorliegt.

So. Noch dabei? Dann ran an „Liebewesen“!

Lio lernt Max kennen. Das erste Date kann sie gerade noch so von der Badewanne in eine Galerie verlegen, das zweite nicht mehr. Es wird ernst. Romanze, gemeinsame Urlaube und Wohnung, Streit, ungeplante und ungewollte Schwangerschaft, Betrug. Leichtigkeit und Schwere, Liebe und Leere wechseln sich ab, es ist keine hochtoxische, aber auch keine gesunde Beziehung, die da entsteht und in die Brüche geht.

Ist das neu? Nein. Aber verdammt gut geschrieben. Nicht so klischeebeladen wie andere Millennial-Romane, trotz Galeriebesuchen und Landkommunenplänen. Nicht verklärend, nicht schönfärbend und auch nicht voller Passmann-Hass auf die ganze Generation der Twenty- und Thirty-Somethings, stattdessen angenehm ehrlich in der Sache. Und extrem verdichtet.

Die Geschichte wurde nicht unnötig auf 400 oder 500 Seiten aufgeblasen, nein, sie beschränkt sich auf kurzweilige 221 Seiten, gerade mal eine am Schnaps vorbei, in denen Caroline Schmitt in ihrem Debüt ihre Protagonistin nackt macht, erst in Max‘ Badewanne, dann in ihrer Lebensgeschichte mit der prügelnden Mutter, dem alkoholkranken Vater, dem Missbrauch auf einem Dorffest hin zu der scheinbar beziehungsunfähigen Person, die sich dann doch endlich auf jemanden einlassen kann und mit neuen Ängsten und Konflikten konfrontiert wird.

Im noch jungen Jahr eines der aufregendsten und spannendsten Bücher, ein endlich mal richtig guter, moderner Generationen-Roman – und sowieso ein Must-read für alle, die Frau Schmitt bei Instagram folgen. Macht ihr noch nicht? Macht das mal, es lohnt sich. Nicht nur für Buchtipps. No shit!

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Veröffentlicht am 13.12.2022

Wild Wild Myth

Die tausend Verbrechen des Ming Tsu
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Soweit sei er noch nie gekommen, verrät der Ringmeister Ming Tsu. Schon mehrfach habe er sich auf den Weg nach Reno gemacht, doch bis zum Pyramid Lake habe er es nie geschafft. Immer wieder sei er gestorben ...

Soweit sei er noch nie gekommen, verrät der Ringmeister Ming Tsu. Schon mehrfach habe er sich auf den Weg nach Reno gemacht, doch bis zum Pyramid Lake habe er es nie geschafft. Immer wieder sei er gestorben und in einem Hotelzimmer aufgewacht, 1.000 Dollar im Gepäck und Tuberkulose in der Lunge. Dann stirbt er. Erneut. Und Ming Tsu macht sich weiter auf seinen Weg, die Menschen zu töten, die ihm einst sein Leben nahmen, ohne ihn zu ermorden.

„Die tausend Verbrechen des Ming Tsu“ ist ein Rache-Western, aber kein gewöhnlicher. Er verschiebt die Grenzen der Realität – und er zeigt den blanken Rassismus, der schon das Amerika im 19. Jahrhundert prägte. Insbesondere an der Hauptfigur Ming Tsu, von Amerikanern häufig John genannt und als Chinese abgestempelt, obwohl er in den Staaten geboren wurde. Er wuchs als Adoptivsohn eines berüchtigten Geschäftsmanns auf, wurde sein bester Auftragsmörder, heiratete gegen den Willen seiner Schwiegerfamilie eine Amerikanerin – und wurde gewaltsam von ihr getrennt, kurz nachdem sie hinter sein Geheimnis gekommen war. Sein Ziel: seine Frau zurückzubekommen und all jene zu töten, die sich ihrem Glück in den Weg stellten.

Die Leser:innen begleiten Ming Tsu auf seiner Reise von Utah über Nevada nach Kalifornien. Mit dabei: ein blinder Prophet, der weiß, wann Menschen (und Pferde) sterben, wann Gefahr droht und wann sie Wasser finden. Und bald eine illustre Gruppe besonderer Menschen, die der geheimnisvolle Ringmeister um sich geschart hat: darunter ein Gestaltenwandler, ein taubstummer Junge und eine feuerfeste Frau. Immer im Schlepptau: Kopfgeldjäger und Sheriffs, die Ming Tsu an den Kragen wollen.

Tom Lins Western erinnert an eine Mischung aus Tarantino und Twin Peaks und bringt ein ganz neues, eigenes Flair in das eigentlich längst schon verstaubte Western-Genre. Trotz phasenweiser sehr ruhiger Stellen, packt die Geschichte Ming Tsus immer wieder, nicht unbedingt überraschend, aber doch gefällig. Der Showdown selbst fällt dann fast etwas kurz aus, nicht unbedingt unbefriedigend, aber ein paar Seiten mehr hätten ihm vielleicht gutgetan. Und dennoch: „Die tausend Verbrechen des Ming Tsu“ ist eine unterhaltsame, manchmal brutale und immer wieder mysteriöse Geschichte, die zwangsläufig eines nach sich ziehen wird: eine Verfilmung.

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Veröffentlicht am 28.11.2022

Ach ihr

Labyrinth der Freiheit
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Sie sind mir schon ans Herz gewachsen, Isi, Carl und Artur. Wie sie sich durch die Gräuel des Ersten Weltkriegs gekämpft haben, getrennt wurden und sich im Nachkriegsberlin fern der Heimat wiederfanden ...

Sie sind mir schon ans Herz gewachsen, Isi, Carl und Artur. Wie sie sich durch die Gräuel des Ersten Weltkriegs gekämpft haben, getrennt wurden und sich im Nachkriegsberlin fern der Heimat wiederfanden und gleich wieder im Schlamassel saßen. Ich hätte ihnen gerne etwas Ruhe gewünscht, eine Tasse Kaffee unter den Linden, ein paar flauschige Gespräche über die Zukunft des (Ton-)Films, aber natürlich wäre das absurd gewesen. Stattdessen: ein nächtlicher Überfall, ein Sprung aus dem Fenster, ein Schicksalsschlag. Mal wieder.

„Labyrinth der Freiheit“, der dritte und vorerst letzte Teil der „Wege der Zeit“-Reihe, balanciert noch stärker als seine Vorgänger hart auf dem genretypisch schmalen Grat zwischen spannendem Historienroman und actiongeladenem Nostalgiekitsch. Im Vergleich den ersten beiden Bänden droht immer wieder der Absturz, aber Andreas Izquierdo schafft es gerade noch so, den Roman auf Linie zu halten.

Carl trauert der verpassten Chance nach, Lubitsch in die USA zu folgen, dreht stattdessen die ersten Tonfilme mit Fritz Lang. Isi, die frühe Feministin, kümmert sich um Frauen, denen vom Berliner Leben in den frühen 1920er-Jahren und vor allem deren Männern übel mitgespielt werden. Und Artur nutzt seine Position, weiter Jagd zu machen auf die, die den drei Freunden an den Kragen wollen – die von Torstayns und die Boysens.

Wer „Schatten der Welt“ und „Revolution der Träume“ nicht kennt, wird es schwer haben, sich zurechtzufinden, vielleicht auch, das Buch zu schätzen. Es passiert viel auf den 500 Seiten, es gibt keine Pause und keine Erklärungen, keine Rückblenden. Alte Bekannte tauchen auf, auch einige neue Figuren, für die meisten endet es tragisch, andere sind gar nicht so wichtig.

Manche Nebengeschichten verlieren sich ein wenig, manche überraschen positiv. Der Blick auf den Zeitgeist macht mal Freude, besonders der augenzwinkernde Spaß mit Isis E-Roller, die es ja tatsächlich schon vor hundert Jahren gab, häufiger aber Angst und Ohnmacht, wie beim aufkeimenden und unabwendbaren Nationalsozialismus, der Verfolgung Homosexueller und bei den quasi nicht vorhandenen Frauenrechten sowieso. Und so manches Mal ertappt man sich doch bei der Frage, in welchem Jahrhundert der Roman spielt und wo es Parallelen zur heutigen Zeit gibt.

Golden sind diese Berliner 20er-Jahre in „Labyrinth der Freiheit“ niemals, sie sind dreckig-grau und blutrot. Und dramatisch, bis zum Schluss. Ob das Ende wirklich das Ende ist? Die Zeit wird es zeigen – noch sind die 20er-Jahre nicht vorbei und die UFA-Geschichte geht gerade erst los. Vielleicht erwartet die Freunde ja doch noch ein kleines Stück vom Glück. Zu erwarten ist es allerdings eher nicht. Ach ihr.

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