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Veröffentlicht am 15.03.2019

Ich war überrascht.

Freier Fall mit Aussicht
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Jutta und ich kennen uns aus Kindertagen, haben uns dann aus den Augen verloren und erst in den letzten Jahren wieder spärlich Kontakt aufgenommen. Ihr neues Buch nahm ich nur deshalb in die Hand, weil ...

Jutta und ich kennen uns aus Kindertagen, haben uns dann aus den Augen verloren und erst in den letzten Jahren wieder spärlich Kontakt aufgenommen. Ihr neues Buch nahm ich nur deshalb in die Hand, weil ich schlicht und einfach neugierig war, was und wie meine Spielkameradin aus „Sandkastentagen“ eigentlich so schreibt. Ich war überrascht.

Schon der Plot kommt skurril daher: Der depressiv veranlagte Glückskeks-Autor Joshua schreibt sich um Kopf und Kragen, seine taffe Biologen-Freundin Sophie trennt sich derweil frisch von ihm und macht sich alleine auf die ursprünglich gemeinsam geplante Wohnmobil-Reise quer durch Kanada. Denkt sie. Denn auch Joshua macht sich dorthin auf – allerdings auf getrennten Wegen und zunächst mit düsteren Absichten. Was nun folgt, ist eine Art literarisches Road-Movie, abwechselnd aus Joshuas, dann wieder aus Sophies Blickwinkel. Langeweile kommt da nicht auf. Das ist auch den schillernden Protagonisten zu verdanken, die Joshuas und Sophies Wege auf der Reise kreuzen, wie beispielsweise ein lebensrettener Rocker, eine golfballtauchende Power-Frau, ein verwundeter Hund, ein ausgebüchster „Indianer-Junge“ oder eine verzweifelte Cancan-Tänzerin. Jede Begegnung hat neuen Einfluss auf die Persönlichkeit der beiden Einzelreisenden, sorgt für unerwartete Wendungen, durch die beide sich selbst und andere Menschen neu zu sehen lernen.

Ein Entwicklungs-, ein Selbstfindungs-, ein Beziehungsroman? Oder ein Buch zu den Problemen und dem Selbstbild der „First-Nations“ Kanadas? Zum Glück, finde ich, wird keine Kategorie exklusiv bedient. Zumindest, wenn man von dem etwas behäbigen Beginn und ein paar belehrend erscheinenden Formulierungen in den ersten Kapiteln absieht. Die Geschichte nimmt ab dem zweiten Drittel an Fahrt auf und in fast jedem folgenden Kapitel lauert eine unabsehbare Wendung, so dass ich vor Neugierde sofort weiter blättern wollte. Ich hatte beim Lesen den Eindruck, dass die Figuren nun ein erfreuliches Eigenleben beginnen, die Beschreibung von Situationen, Eindrücken und Gefühlen immer sicherer gelingt, ohne den LeserInnen eine Moral von der Geschicht' unterschieben zu wollen. Trotz der gegen Ende schier unglaublichen Wendungen und Begegnungen gewinnt die Erzählung zunehmend an Authentizität und die genau recherchierte Situation der „First-Nations“-Bewohner Kanadas gibt zu denken, ohne zu belehren.

Ob sich Joshua und Sophie am Ende wieder finden? Und wenn, werden sie, vollgesogen mit Erfahrungen, Erkenntnissen und Erlebnissen, den anderen überhaupt noch (an-)erkennen?
Das sei natürlich nicht verraten. Aber verraten kann ich, dass ich froh bin, über verschlungene Wege wieder Kontakt zu meiner „Sandkastenfreundin“ gefunden und ihr Buch gelesen zu haben.