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Veröffentlicht am 19.05.2022

Die Geschichte des Buches

Papyrus
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„Wenn eine Erzählung mich packt, wenn mich ihr Wörterregen durchnässt, wenn ich auf fast schmerzliche Weise begreife, wovon da erzählt wird, wenn mich die innige, einsame Gewissheit überkommt, dass der ...

„Wenn eine Erzählung mich packt, wenn mich ihr Wörterregen durchnässt, wenn ich auf fast schmerzliche Weise begreife, wovon da erzählt wird, wenn mich die innige, einsame Gewissheit überkommt, dass der Autor mein Leben verändert hat, dann glaube ich aufs Neue: Ich - ganz besonders ich - bin die Leserin, nach der dieses Buch gesucht hat.“ (172)

Von mündlich überlieferten und schauspielerisch vorgetragenen Geschichten zur Schrift. Von Steintafeln zum geschriebenen Wort auf Papyrusrollen; bis hin zu Tierhäuten, Hadernpapier und unseren heutigen Holzpapieren. Herrscher, die das Wissen der Welt sammeln und besitzen wollten und beeindruckende Bibliotheken und Museen gründeten. Von für den Handel wichtigen Listen über Heldenepen bis hin zu einer vielfältigen Genrelandschaft. Vom gebildeten Adel über Kleriker bis hin zu nahezu jedem Bürger, der lesen lernen und dadurch Leser werden konnte. Klassiker, die immer wieder von begeisterten Lesern abgeschrieben, versteckt und bewahrt wurden und so bis heute überdauern konnten.

Irene Vallejo zeichnet all diese Entwicklungen in „Papyrus“ nach und geht der Geschichte des Buches auf faszinierende, hochgradig spannende Weise nach.

Ich kann das dieses Buch mit keinem anderen vergleichen, da es etwas völlig Neues ist. Ein aufregendes Sachbuch, eine Reise in die Antike, ein Herzensthema. Und wenn das Herz sehr für ein Thema schlägt, dann fehlen einem manchmal die Worte. So geht es mir bei diesem Buch. Ich kann eigentlich nur so viel sagen:

Ich - ganz besonders ich - bin die Leserin, nach der Irene Vallejos Buch gesucht hat. Und bestimmt auch du. Denn „Papyrus“ ist eine Geschichte für Büchermenschen.

Diese wunderschöne Ausgabe mit Goldprägung und Lesebändchen darf das Herzstück meiner kleinen Privatbibliothek werden.

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Veröffentlicht am 28.04.2022

Klartext Klima!

Klartext Klima!
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„Drei Grad Erderhitzung würden eine komplett andere Welt bedeuten. Und es ist fraglich, wie unsere heutige Zivilisation darin funktionieren sollen. 2100 ist in 80 Jahren. Viele der heutigen Kindergartenkinder ...

„Drei Grad Erderhitzung würden eine komplett andere Welt bedeuten. Und es ist fraglich, wie unsere heutige Zivilisation darin funktionieren sollen. 2100 ist in 80 Jahren. Viele der heutigen Kindergartenkinder werden das erleben.“ (24)

Wir zerstören systematisch unsere Umwelt und alleinige Lebensgrundlage. Viele Menschen sind inzwischen aufgeklärt und doch passiert zu wenig. Warum ist das so?

Weil immer noch nicht deutlich und in der gesamten Dramatik über die Klimakrise und drohende Klimakatastrophe gesprochen wird. In jedem Artikel zum Thema Wirtschaft oder Politik müssten auch die Klima- und Umweltauswirkungen mitgedacht und klar kommuniziert werden. Wir können die Probleme nicht mehr losgelöst voneinander und vermeintlich objektiv betrachten, sondern müssen umfassend und immer wieder über die große Problematik berichten. Sie muss in ihrem hochgradig beängstigenden Ausmaß in das Bewusstsein jedes Menschen vordringen, damit wir nicht mehr gemeinsam die Augen davor verschließen können.

Erst dann können wir gemeinsam etwas verändern.

Die Journalistin Sara Schurmann findet in ihrem Buch sehr klare Worte. Für das Ausmaß der Katastrophe. Und auch dafür, welche Fehlkommunikation stattfindet. Sie erklärt auch, warum wir kollektiv zum Ausblenden und Nicht-Agieren neigen. Und sie macht Hoffnung, dass wir das Ruder noch rumreißen, wenn jeder von uns, der begriffen hat, worum es geht, darüber spricht und aktiv wird.

Ich habe schon einige Bücher zum Thema gelesen und halte mich auch für gedanklich schon weit in die Thematik vorgedrungen. Und doch konnte mir dieses Buch noch viel Neues bieten. Es zeigt die großen Zusammenhänge auf und motiviert dadurch. Auch wenn man nur ein kleines Rädchen im Getriebe ist und sich vielleicht hilflos fühlt: Jeder, der die Augen nicht weiter verschließt und das Schweigen bricht, ist wichtiger Teil einer großen Bewegung.

Vieles in „Klartext Klima!“ erschreckt und macht wütend. Aber wenn man den ersten großen Schreck überwunden hat, kann man das Gelesene und die Gefühle, die es ausgelöst hat, nutzen, um sich zu bewegen - gedanklich, mit Worten, Demonstrationen, Veränderungen und und und.

"Die Klimakrise ist ein strukturelles Problem. Entscheidungen, die wir heute in allen möglichen Bereichen treffen, sorgen entweder dafür, der Lösung der Krise näher zu kommen. Oder sie zementieren fossile und klimaschädliche Strukturen und befeuern die Erderhitzung so weiterhin, oft für Jahre und Jahrzehnte." (103)

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Veröffentlicht am 06.04.2022

Brillanter Roman über den Alltag im Nazi-Deutschland

Nach Mitternacht
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„Wo Vollkommenheit ist, hört die Dichtung auf. Wo keine Kritik mehr möglich ist, hast du zu schweigen.“ 59%

Sanna, gerade einmal 19 Jahre jung, wohnt seit einiger Zeit bei Verwandten in Frankfurt. Die ...

„Wo Vollkommenheit ist, hört die Dichtung auf. Wo keine Kritik mehr möglich ist, hast du zu schweigen.“ 59%

Sanna, gerade einmal 19 Jahre jung, wohnt seit einiger Zeit bei Verwandten in Frankfurt. Die Zeiten sind - sehr milde formuliert - unruhig, denn wir befinden uns im Jahr 1937. Die Nazis haben einen Denunziantentum angeregt, das sich durch den Alltag der Menschen in Deutschland zieht. Sanna selbst ist recht naiv, würde sich eigentlich mehr auf ihr Liebesleben konzentrieren wollen als auf Politik. Doch niemand kann sich der Problematik entziehen. Jeder verrät seinen nächsten. Niemand ist mehr Freund; in jedem muss man den Feind sehen. Und dabei scheint es fast unmöglich, die „richtige“ Position zu beziehen.

Sannas Perspektive erlaubt einen Blick auf den Alltag im Nazi-Deutschland, der unglaublich nah dran und dadurch sehr erschütternd ist. Ich habe schon sehr viel über diese Zeit gelesen (Wir alle haben vermutlich schon viel darüber gelesen, oder?), aber dieser für mich neue Blick auf die Dinge, den Irmgard Keun hier bietet, hat mich absolut ergriffen.

Möchte man sich aufgrund dieses Romans mit der Opferrolle befassen, wird man vor ein moralisches Problem gestellt. Ja, aus heutiger Sicht können wir vieles besser einordnen und auch bewerten. Auch der Roman stellt nicht die abgrundtiefe Bösartigkeit des NS-Regimes in Frage. Aber wurden nicht auch viele zu Mittätern gemacht, die man genauso als Opfer betrachten muss?

In „Nach Mitternacht“ wird deutlich, dass jeder einzelne, der zu dieser Zeit in Deutschland lebte und überleben wollte, in eine prekäre Alltagssituation gebracht wurde. Mit eigenen Werten und Ansichten kam man nicht weit. Sie konnten gefährlich werden. Aber sogar wenn man bereit war, sich der vorgegebenen Meinung anzupassen, bekam man Probleme.
Selbst der jüdische Händler bevorzugt (zu diesem Zeitpunkt) das Nazi-Regime gegenüber dem des Kommunismus. Der Schriftsteller möchte weiterhin seine Werke verkaufen können, der SS-Mann ist eigentlich ein freundlicher Trinkgeselle. Wenn alle gegeneinander ausgespielt werden und gleichzeitig zu Geselligkeit und Miteinander aufgerufen werden, steht man plötzlich mitten unter Menschen sehr allein da.

Man weiß als Leser selbst nicht, was man denken soll. Alles ist so ungewiss und unruhig und vor allem: gefährlich.
Abgesehen von der Thematik, ist Irmgard Keun der Roman nämlich auch stilistisch herausragend gelungen. Besonders zu erwähnen ist die Figur des Heini. „Heini ist vierzig Jahre alt und war ein bekannter Journalist. Jetzt schreibt er kaum noch, und das hat auch wieder politische Gründe.“ (46%) Und Heini ist ein gern gesehener Gast, der allen und allem den Spiegel vorhält. Das führt zu bizarren Gesprächssituationen, bei denen dem Leser kurzzeitig der Atem stocken kann.

„Jedes Wort ist Krieg, ob es Kampf heißt oder Frieden. Solange es Worte gibt auf der Welt, wird es Kriege geben. Und wenn es keine Kriege mehr gibt, ist auch das Wort erlegen dem ewigen Frieden.“ 59%

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Veröffentlicht am 08.03.2022

Ein herausragendes, uneingeschränkt empfehlenswertes Buch

D-Zug dritter Klasse
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„Neues Leben hieß vor allem, kein altes Leben mehr haben. Man zieht das alte Leben aus, wie man Schuhe auszieht, die drücken, und alles ist gut. Man ist ohne Qual und ohne Makel, Gewesenes gilt nicht mehr.“ ...

„Neues Leben hieß vor allem, kein altes Leben mehr haben. Man zieht das alte Leben aus, wie man Schuhe auszieht, die drücken, und alles ist gut. Man ist ohne Qual und ohne Makel, Gewesenes gilt nicht mehr.“ (46%)

Lenchen, Anfang 20, stolpert so durch ihr Leben. Sie ist eine Träumerin und unbedingt abhängig von anderen. Allerdings ist sie dabei nicht loyal und sehr, sehr sprunghaft. Innerhalb eines Wimpernschlags ändern sich ihr Wünschen und ihre Gefühle. Zur Zeit ist sie unter anderem an einen herrischen, angsteinflößenden und wankelmütigen Arzt namens Karl geraten, der über sie verfügt. Gemeinsam fahren die beiden mit dem D-Zug dritter Klasse von Berlin nach Paris. Dort möchte Karl ein neues Leben beginnen; Lenchen - so hat er entschieden - darf bei ihm bleiben.
Im gemeinsamen Abteil sind fünf weitere Fahrgäste, deren Lebensgeschichten wir nach und nach auch erfahren.

Ich kann mich nicht daran erinnern, wann ich zuletzt ein Buch an einem Abend durchgelesen habe, aber dieses hier konnte ich nicht mehr aus der Hand legen. Es ist witzig und gleichzeitig so bitter. Keine der Heldinnen ist wirklich sympathisch, ganz besonders Lenchen nicht. Und doch leidet man mit ihnen, möchte ins Geschehen eingreifen und sie alle voneinander trennen.

Die Sprache ist unheimlich klar und gleichzeitig dicht. Ein kluger Satz folgt dem anderen - viele kann man sich als kleine Sinnsprüche auf Postkarten gedruckt vorstellen. Und die Erzählung wird von Seite zu Seite schneller, wie ein Strudel. Während man immer mehr über die Protagonistinnen erfährt und sich ihre Schicksale während der Fahrt miteinander verweben, muss man gleichzeitig akzeptieren, dass unter den sieben Reisenden vielleicht nur eine einzige Person einen verlässlichen Charakter hat.
Endsprechend ist das Ende der Geschichte großartig und passt perfekt.

Ein herausragendes, uneingeschränkt empfehlenswertes Buch! Und bestimmt für mich der Auftakt zur Lektüre von Irmgard Keuns Gesamtwerk.

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Veröffentlicht am 21.02.2022

Gemeinsam sind wir stark!

Es kann nur eine geben
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„Dies ist ein feministisches Buch, und ich verstehe unter Feminismus, dass wir für die Gleichberechtigung aller Menschen kämpfen. Damit wir uns nicht gegenseitig bekämpfen müssen.“ (2%)

Frauenquote? Brauchen ...

„Dies ist ein feministisches Buch, und ich verstehe unter Feminismus, dass wir für die Gleichberechtigung aller Menschen kämpfen. Damit wir uns nicht gegenseitig bekämpfen müssen.“ (2%)

Frauenquote? Brauchen wir die? Es gibt doch inzwischen überall Frauen - auch in höheren Position und auf vielbeachteten Posten. Es gibt Schlumpfine, Barbara Schöneberger, in jedem Märchen EINE rettenswerte Prinzessin oder zumindest EINE schöne Frau, die vom Prinzen geheiratet wird. Es gab die Bundeskanzlerin. Und tatsächlich gibt es in einigen Firmen auch (wenige) weibliche Führungskräfte.

Aber es sieht so aus, als könnte es - wenn überhaupt - nur eine geben! Die eine Frau, die sich so durch die patriarchalen Strukturen gewurschtelt hat, dass sie auserkoren wurde. Oftmals gehören zu diesem Erfolg allerdings Schönheit, Anpassungsfähigkeit und ein harter Konkurrenzkampf. Manchmal auch - gut versteckte - Intelligenz.

Carolin Kebekus macht sich stark für eine Welt mit weniger Konkurrenzkampf unter Frauen (denn der ist nur durch das Patriarchat überhaupt entstanden und wird nach wie vor dadurch befeuert).
Wer ihre Auftritte kennt, weiß, dass sie dabei nicht zurückhaltend ist. Im Gegenteil: Carolin Kebekus wird sehr deutlich! Sie prangert Gesellschaftsstrukturen an, die nach wie vor Männer bevorzugen und Frauen diskriminieren. Und immer wieder weist sie darauf hin: Wir Frauen sollten aufhören, uns als Konkurrenz zu betrachten und gegeneinander zu kämpfen. Es gilt vielmehr einen gemeinsamen Kampf gegen strukturelle Ungerechtigkeiten zu führen. Denn eigentlich kann es mehr als eine geben und genau dafür sollten wir uns einsetzen.

„Es kann nur eine geben“ ist in starkes und wichtiges Buch; und ein witziges, unterhaltendes noch dazu. Ich finde es wunderbar, dass Carolin Kebekus ihre Stimme dafür nutzt, dieses wichtige und ernste Thema anzusprechen. Ein tolles und sehr empfehlenswertes Buch!

„Ich hasse keine Männer, aber ich hasse Strukturen, die Menschen aufgrund ihres Geschlechts oder ihrer Sexualität benachteiligen. Patriarchale Strukturen bevorzugen Männer und setzen sie gleichzeitig unter Druck. Geschlechtergerechtigkeit würde uns alle bereichern und wir würden alle in allen Lebenslagen davon profitieren.“ (89%)

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