12 Jahre lang war die Autorin Polizistin in Großbritannien. Um Beruf und Familienleben besser koordinieren zu können, schulte sie zur Journalistin um. Ihre Artikel erschienen unter ...
Über die Autorin:
12 Jahre lang war die Autorin Polizistin in Großbritannien. Um Beruf und Familienleben besser koordinieren zu können, schulte sie zur Journalistin um. Ihre Artikel erschienen unter anderem im Guardian. Ihr Erstling „Meine Seele so kalt“ wurde in fünfundzwanzig Sprachen übersetzt. Mehr als eine halbe Million Briten kauften das Buch. Clare Mackintosh lebt und arbeitet in den Cotswolds.
Zum Inhalt:
Die Protagonistin Zoe Walker führt eigentlich ein ziemlich langweiliges Leben in einem Vorort von London. Sie ist geschieden, ihr Job ist öde und sie ist Mutter von zwei Kindern. Durchschnitt eben. Doch eines Tages kommt Bewegung in ihr gleichförmiges Leben. Leider nicht auf gute Art:
In der U-Bahn entdeckt sie ein Foto von sich, als sie nach Hause fährt. Daneben prangt eine Telefonnummer, die Zoe gänzlich unbekannt ist. Was soll das? Handelt es sich bloß um eine Verwechslung, oder steckt womöglich mehr dahinter? Zoe beschleicht ein ungutes Gefühl!
Doch noch kann sie die ganze Dimension des Vorfalls nicht ermessen, sie weiß nicht, dass sie vielleicht alles verlieren wird, was ihr lieb und teuer ist. Die abstrakte Gefahr wird plötzlich real und die Ereignisse spitzen sich zu…
Meine Meinung:
Die Grundthematik des Romans gefiel mir gut, denn sie ist total am Puls der Zeit – Social Media und die Gefahren, denen man als Nutzer ausgesetzt ist. Nicht nur Gutes und Vernetzung. Kontakt mit weit entfernten Freunden und Familie, sondern auch die Kehrseite der Medaille – cybermobbing, Attacken, Straftaten bis hin zur Bedrohung von Leib und Leben. Stil und Sprache der Autorin lassen sich einfach und flüssig lesen. Leider hätte ich mir aber eine etwas ausgefeiltere Umsetzung der tollen Grundidee gewünscht. Es war ein etwas ambivalentes Lesevergnügen, da die Handlung stellenweise etwas langatmig beschrieben wurde, sodass Pep und Spannung zu wünschen übrig ließen. Der Showdown machte jedoch vieles wett! Ein furioses Finale, wie es sich jeder Leser nur wünschen kann. Über den eigentlichen Handlungsverlauf und plot will ich nicht zu viel verraten, um potentiellen Lesern nicht den Spaß zu verderben. Nur soviel: Von der Auflösung war ich doch überrascht! Auch gefiel mir die akribische Beschreibung der Polizeiarbeit gut – hier merkte man die Fachkenntnis der Autorin. Macintosh hat wohl insider – Wissen in ihre Erzählung einfliessen lassen. Der Roman wird aber eher ruhig erzählt, es ist kein Spannungskracher wie etwa ein Fitzek-Krimi. Daher würde ich sagen, dass „Alleine bist du nie“ wohl Geschmackssache ist.
Gute und weniger gute Aspekte halten sich die Waage.
Ich habe „Alleine bist du nie“ von CLARE MACINTOSH mit Abstrichen gerne gelesen und vergebe 3,5 – 4 von insgesamt fünf möglichen Sternen.
NUN also der dritte Teil der DS-Wolfe - Reihe. Mit Max Wolfe hat Tony Parsons einen größtenteils glaubwürdigen Ermittler erschaffen, dessen Fälle ich lesenderweise gerne verfolgt habe.
Worum geht es ...
NUN also der dritte Teil der DS-Wolfe - Reihe. Mit Max Wolfe hat Tony Parsons einen größtenteils glaubwürdigen Ermittler erschaffen, dessen Fälle ich lesenderweise gerne verfolgt habe.
Worum geht es im dritten Teil der Reihe?
- "In London macht eine Bürgerwehr, der Club der Henker, Jagd auf böse Menschen - auf Pädophile, Mörder, Hassprediger - und erhängt sie. Mit diesen Fällen von Lynchjustiz beginnen für Detective Max Wolfe seine bisher schwierigsten Ermittlungen. Denn wie fängt man Mörder, die von der Öffentlichkeit als Helden gefeiert werden? Seine Spurensuche führt ihn tief unter die Stadt, in den Untergrund Londons mit seinen vielen stillgelegten Tunneln und Geisterstationen. Doch ehe Max den Club der Henker stellen kann, muss er am eigenen Leib erfahren, wie schmal der Grat zwischen Gut und Böse, Schuld und Unschuld ist ..."
Ich muss sagen, dass mich die Grundidee ein wenig an eine Folge der in London spielenden BBC - Fernsehserie "Luther" mit Idris Elba in der Hauptrolle erinnert hat. In den Episoden 3 und 4 der dritten Staffel geht es um die Frage, ob Selbstjustiz gerecht sein kann. Ein Mann, dessen Frau vergewaltigt und getötet wurde, wählt Todeskandidaten aus, und der Mob soll via Internet abstimmen. Dabei geht es dem Rächer aber weniger um Gerechtigkeit denn um Selbstinszenierung und Akklamation... denn er richtet auch vollkommen Unschuldige wie einen völlig unbescholtenen jungen Polizisten hin.
Vielleicht war diese Serie neben anderen Ereignissen und Fällen eine der Inspirationsquellen von Tony Parsons, denn man muss sagen, dass er mit "wer Furcht sät " einen tollen, spannnenden und lesenswerten Krimi abgeliefert hat, den ich gerne gelesen habe. Auch wenn ich den Aufhänger aus den vorher genannten Gründen nicht so wirklich innovativ fand, hat mich der Roman mit seinen plot twists gut unterhalten. Nur eine Stelle im Roman fand ich etwas übertreiben und unglaubwürdig. Wolfe, der Superman? Dann doch lieber die BBC-Serie, in der ein absoluter Sympathieträger eben nicht neun Leben hat und zu Tode kommt.
DAVON abgesehen hat mich "Wer Furcht sät" aber super unterhalten. Ich freue mich schon auf den nächsten Teil der Reihe!
„Schließlich hatte ich mich danach immer gesehnt: einer Vergangenheit, in der Leute wie ich vorkamen, und zwar HIER und nicht DORT.“
Mithu Sanyals Debutroman „Identitti“ gefiel mir so gut, dass ...
„Schließlich hatte ich mich danach immer gesehnt: einer Vergangenheit, in der Leute wie ich vorkamen, und zwar HIER und nicht DORT.“
Mithu Sanyals Debutroman „Identitti“ gefiel mir so gut, dass ich nach der Lektüre (obwohl ich als Leserin mit den meisten Thesen überhaupt nicht konform gehe) auch das Audiobook angehört habe, und das als absoluter Hörbuchmuffel! Die Schwächen bestimmter Konzepte wurden entlarvt und oft dachte ich beim Lesen „dito!“, etwa beim unsäglichen Begriff „Dönermorde“, der in der story zu Recht kritisiert wurde. Die Autorin war mir sympathisch, da sie für einen Dialog plädierte. Gute Literatur fordert heraus.
Daher habe ich „Antichristie“ noch vor dem Erscheinungstermin auf meine Wunschliste gesetzt.
Worum geht’s?
Der Roman behandelt diverse Themen. Im Zentrum steht die 50jährige Ich-Erzählerin Durga Chatterjee (eine Drehbuchautorin). Zu Beginn der Geschichte geht es um Trauerbewältigung, da die deutsche Mutter Durgas (ihr indischer/bengalischer Vater taucht mit seiner neuen Frau auf) verstorben ist. Zu den Eltern hat die Romanheldin ein eher schwieriges Verhältnis, da der Vater trotz Anwesenheit nicht greifbar war, arbeitete sie sich an der (nicht grundlos) zu Verschwörungstheorien neigenden Mutter ab. Die Figur einer Hippiemutter, die den Nachwuchs verlässt, um sich selbst zu verwirklichen, ist ein wandelndes Klischee, welches man auch bei Houllebecq findet. Die Erzählerin bemüht sich, alle Positionen eines Diskurses abzubilden, wobei sie natürlich zu manchen Theorien eher tendiert. (Es wird im Roman aber nicht durchweg eine dogmatische, „woke“ Haltung eingenommen, das Konzept der cultural appropriation etwa wird im Spiegel des zeitlichen Wandels reflektiert, Colourism wird kritisiert, überhaupt gibt es Raum für Ambivalenzen, für ambiguity, wie es so schön heißt. Andererseits muss man sagen, dass eben nicht alles relativ ist).
Durga ist mit einem Schotten verheiratet und Mutter eines Sohnes im Teenageralter. Da sie bereits Folgen für die britische Kultserie „Dr WHO“ verfasst hat, wird sie engagiert, um gemeinsam mit anderen (ethnisch diversen) Autoren eine zeitgemäße, zeitgeistige Version der ITV – Serie „Poirot“ zu erschaffen, ganz im Stil von „Bridgerton“ (ich halte die Adaption eines Unterhaltungsromans für schlimmen Kitsch). Agatha Christies Hercule Poirot als PoC? Belgien hatte schließlich Kolonien.
Das Fernsehspiel mit David Suchet liebe ich, daher habe ich mich über das Auftauchen im Roman sehr gefreut. Als das Drehbuchautorenkollektiv in einem Artikel polemisch „Let’s kill the Queen [Agatha Christie]“ fordert (im übertragenen Sinne, als Dekonstruktion) und Königin Elizabeth II. im Jahr 2002 tatsächlich stirbt, ist die Aufregung groß – die Demonstranten, die sich „ihre“ Geschichte(n) nicht nehmen lassen wollen, werden als treudoof-trottelige Gestalten porträtiert, die als „Christs for Christie“ oder als „Mums for Miss Marple“ („Twilight Moms“, anyone?) Namen wie „Melone“ oder „Sarah Ferguson“(!) tragen, und sogar teils als Dozenten arbeiten, aber eben nur an der „Open University“ und nicht etwa in Oxford. Von der Erzählstimme werden ihnen ein paar valide Argumente jedoch zugestanden.
Man könnte sagen, dass die Kolonialismuskritik das Hauptthema des Romans ist, es geht aber auch um (gesellschaftliche) Diskurse & Narrative, um Erinnerungskultur, Geschichtsbilder, Politik, Poststrukturalismus, um den sog. antimuslimischen Rassismus, um nation building und Nationalismus, (um „Die Erfindung der Nation“, wenn man so will) um Identitätspolitik & Genderkonzepte, um die Frauenbewegung, um Frauenfreundschaft und um Sozialismus (ein Eric-Hobsbawm-Zitat ist insofern ein Muss).
In der Geschichte wird buchstäblich auf mehreren Zeitebenen operiert, da Durga vordergründig durch die Zeit fällt und als junger Mann (es geschieht mehr als nur gender swapping) namens Sanjeev im London des Jahres 1906 auftaucht, wo er im Studentenwohnheim „India House“ mit diversen indischen Revolutionären (nicht nur mit Gandhi) lebt und konspiriert. Die Figuren wirken optisch wie dem Film „Sardar Udham“ (in Deutschland kann man den Film auf dem Streamingportal eines großen Internetversandhändlers sehen) entsprungen, wobei Sanyal an keiner Stelle Heldenverehrung betreibt. Sanjeev ist vom Vater des Hindunationalismus „Veer“ Savarkar fasziniert, gleichzeitig gibt es aber auch Durga und Figuren der Gegenwart, womit die Autorin das langweilige konventionelle Erzählschema von zwei getrennten Zeitebenen durchbricht. Im Verlauf der Erzählung wird die Heldin gemeinsam mit Sherlock Holmes im Stil des klassischen, kammerspielartigen britischen Kriminalromans (es wird darauf hingewiesen, dass es diese Erzähltradition auch in Japan gibt) einen Fall aufklären. Metaebene ahoi! Auch Identitätspolitik spielt eine Rolle: „Was sagte es über mich aus, dass ich durch die Zeit reisen und mein Geschlecht und mein Alter hinter mir lassen konnte, aber nicht meine race?“ Wenn im Roman von „braunen“ Menschen die Rede ist, bin ich raus, obwohl mir natürlich klar ist, dass „brown“ im englischen Sprachraum eine gängige (Selbst)bezeichnung ist.
Formal ist die Geschichte wie ein Patchworkroman konzipiert, wie zum Beispiel die 1992 ins Englische übersetzte Publikation der feministischen Autorin Dubravka Ugrešić „In the Jaws of Life“. Auch der Schriftsteller Saša Stanišić präsentierte mit „Herkunft“ einen Patchworkroman (2019 wurde die Veröffentlichung mit dem deutschen Buchpreis ausgezeichnet). „Antichristie“ ist in gewisser Weise anspruchsvoller und nicht so gefällig geschrieben wie „Herkunft“, da man als Leser (m/f) auch einer (kultur)geschichtlichen bzw. Geschichts - Vorlesung beiwohnt und einem popkulturellen Happening. Die einzelnen Kapitel werden durch szenische Anweisungen und Zitate eingeleitet, womit das filmische, gar filmreife Element der (historischen) Realität abgebildet wird. Sanyal kritisiert auch realpolitische Phänomene der Gegenwart, etwa die antimuslimische Haltung der indischen Partei BJP, wobei sich die Frage stellt, inwiefern diese Haltung in Teilen auch durch die Terroranschläge von Mumbai im Jahre 2008 befeuert wurde? In „Antichristie“ werden die Gewaltexzesse und Pogrome nach der indischen Unabhängigkeit und nach den Kriegen, aus denen u.a. Bangladesch hervorging, als Folge des britischen Imperialismus‘ dargestellt. „Perfidious Albion“ heißt es nicht selten. Und tatsächlich haben auch die Briten während ihrer Herrschaft Massaker verübt und sich nicht für diese Gräuel entschuldigt.
Ich habe mich sehr auf die Lektüre des Romans gefreut und etwas Neues und eine Weiterentwicklung erwartet. Ich wollte allerdings kein „Identitti“ – Recycling präsentiert bekommen. Wenn Durga die gleichen Probleme/Gedanken wie Nivedita aus „Identitti“ hat, wirkt das auf mich wie eine Wiederholung: beide Protagonistinnen leiden darunter, nicht als „richtige Inderinnen“ klassifiziert zu werden, beide betrauern die Tatsache, nicht bilingual erzogen worden zu sein. Man möchte entgegnen, dass auch das Erlernen der Muttersprache nicht vor einem Fremdheitsgefühl in Deutschland schützt, dass man auch mit Kenntnis der Muttersprache seinen Namen noch buchstabieren muss, und dass man sich mit einer hybriden Identität (notgedrungen) arrangieren muss. Das Gefühl einer „sowohl – als – auch“ – Existenz wird man manchmal ein Leben lang nicht los, und man könnte sogar argumentieren, dass die Hauptfigur mit einem deutschen Elternteil (ergo einem deutschen Pass) privilegiert ist. Durga fühlt sich regelrecht betrogen, wenn sie sagt: „Da war so viel Weltgeschichte, die mir nie in der Schule oder an der Uni beigebracht worden war.“ Ein Studium der Geschichtswissenschaft hätte da vielleicht geholfen; es stimmt aber, dass der deutsche Schulunterricht das Hauptaugenmerk auf den Nationalsozialismus richtet.
Wenn Durga von der Freundschaft zu ihrer bff Nena berichtet, wird der Handlungsstrang aus „Identitti“, in welchem Nivedita traurig über die häufige Abwesenheit ihrer liebsten WG-Mitbewohnerin ist, 1:1 übernommen. Die Erzählperspektive bringt es mit sich, dass man leider manchmal das Gefühl bekommt, dass das Ganze eine einzige Nabelschau der Protagonistin ist. Wenn Durga „Menschenrechtsverletzungen auf Social Media“ anprangert, drängt sich der Gedanke auf, dass „Antichristie“ in Teilen ein autofiktionales Werk ist. Manche Sätze machen betroffen, sie sind nachvollziehbar: „Die Frage, die mich ein Leben lang umgetrieben hatte – wer wäre ich, wenn ich in Indien aufgewachsen wäre?“ Eine ähnliche Frage hat sich wohl jedes Migrantenkind in Deutschland schon einmal gestellt. Insofern fällt es stellenweise schwer, den Roman zu kritisieren.
Ist „Antichristie“ auch ein Coming of Age – Roman (obwohl Durga schon 50 Jahre alt ist.)? Der Roman ist fast 600 Seiten dick, für mein Empfinden verzettelt sich die Autorin stellenweise, auf manche Details kann wirklich verzichtet werden (auf die Frage, wie attraktiv Männer mit einem „Trainspotting „meets xy – Chic sind, Dass „Nena“ die Kurzform von „Susanne“ ist, treibt die Seitenzahl unnötig in die Höhe, ebenso wie der Verweis auf vorchristliche Phänomene oder das Zitieren von Tweets. In Großbuchstaben verfasste Passagen nerven einfach nur). Kann man das der Verfasserin ankreiden, die Lektorin oder der Lektor hätte den Text kürzen und straffen müssen; das Korrektorat Flüchtigkeitsfehler wie „Weisbrot“ korrigieren. Es ist schade, wenn Leser die Lektüre ob der Länge abbrechen, zumal die Autorin gegen Ende doch noch die Kurve mit einem Krimiplot kriegt - um kurz darauf wieder in’s Dozieren zu verfallen. Man kann viel lernen, als Geisteswissenschaftler wird man mit vielen Debatten und Diskursen aber schon vertraut sein. Es ist wunderbar, dass manche Themen aus dem akademischen Elfenbeinturm geholt und einem breiten Publikum zugänglich gemacht werden, wobei nicht jeder Mensch in Deutschland so ignorant ist wie von „Antichristie“ angenommen. Historiker wissen, dass der eurozentrische Blick auf die Ereignisse problematisch ist. Für die Lektüre von „Antichristie“ bedarf es keiner Vorkenntnisse, man wird als Leser/in an die Hand genommen und bekommt alles erklärt, muss nichts zum besseren Verständnis nachschlagen: „Muhammad Ali Jinnah? […] Der die Muslim League anführen und später der erste Präsident Pakistans sein wird.“ Man kann nicht behaupten, dass der Roman nicht jeden Leser „mitnimmt“, um es salopp zu formulieren. Nicht jede Figur kann Karlheinz oder Erna heißen, es gibt definitiv nicht zu viele Personen im Roman (Hilfestellung bietet auch das Personenverzeichnis am Ende, passenderweise „Cast & Crew“ ).
Vielleicht funktioniert die story im anglophonen Sprachraum aber besser. „Dr WHO“ ist in Deutschland keine legendäre TV – Serie, beim Thema Kolonialismus denkt man in Deutschland oft nur an die Herero und Nama, wobei im kolonialismuskritischen Roman „Das Museum der Welt“ aufgezeigt wird, dass auch deutsche Forscher wie die Gebrüder Schlagintweit (im Auftrag der East India Company) in Indien unterwegs waren.
Die Autorin brennt für ihr Sujet, sie verfügt über ein großes Wissen und man spürt die schiere Erzählfreude, daher ist es schade, dass der Roman (wie zuvor „Identitti“) von direkter Rede /Dialogen dominiert wird. Die wichtigen Botschaften des Romans werden von seitenlangem Gelaber überdeckt, wieso reden die Figuren mehr, als zu handeln? Die Erzählung ist mehr als bloßes Geschwätz, aber es fällt schwer, am Ball zu bleiben, wenn so viel monologisiert und debattiert wird. Apropos Figuren – sie haben in meinen Augen keine wirkliche Tiefe. Manchmal wirken die Figuren infantil, wenn vom „sexysten Hijab“, oder von „coolen“ Frauen die Rede ist, von Männern, die in ihrer „Jugend“ aufgrund ihrer Physiognomie „sexy“ waren, und manchmal wird’s schwülstig: „Schließlich war ich nicht nur von Savarkar angezogen, sondern auch von mir selbst. Von diesen vollen Lippen, die ich nicht aufhören konnte mit meinen Fingern zu berühren, von diesem so magischen wie magnetischen Penis, den ich […] niemals vergessen konnte.“
Im Roman wird die Frage aufgeworfen, welche Ideologie mehr Menschen getötet hat, wobei eingeräumt wird, dass sich in Deutschland Nationalsozialismus/ Shoa/ Kolonialismusvergleiche verbieten, und dass andernorts dieses Tabu nicht in dieser Form existiert. Mao, Stalin, der Holodomor etc. spielen bei diesen Vergleichen keine Rolle.
Stilistisch ist „Antichristie“ nicht der ganz große Wurf, die Machart von „Identitti“ wird sozusagen beibehalten, da es sehr viele Dialoge gibt. Teilweise wirkt der Roman wie eine verkappte wissenschaftliche Arbeit, die etappenweise verfasst und vor dem Abgabetermin nicht noch einmal überarbeitet wurde. Ein fast selbstverliebter Unterton wird durch humorvolle Passagen abgefedert, die natürlich ein wenig kokett sind. Ich musste lachen, als Durga „von sich selbst beeindruckt“ war oder als sie anmerkte, sie wolle sich „durch Unkenntnis“ nicht „davon abhalten lassen, andere zu belehren.“ Im letzten Drittel des Romans dreht die Erzählerin noch einmal voll auf, ich liebe die literaturwissenschaftlichen Aspekte und Bezüge, sprechende Büsche finde ich richtig charmant. Man kann sehr viel über indische Geschichte lernen, und ich habe Lust bekommen, eine wissenschaftliche Publikation Sanyals zum Thema Indien zu lesen, da ich die Prosa der Autorin anstrengend finde. Wenn es aber in Rezensionen heißt, dass die Autorin in Antichristie „alles zu einem wilden Bollywood-Tanz“ vermengt, wird klar, dass die deutsche Öffentlichkeit einen solchen Roman nötig hat. Ich liebe Bollywood. Man wundert sich allerdings über die Ethnisierung, außerdem dreht nicht jeder indische Regisseur Bollywoodfilme (Nair, Kapur etc.). „Antichristie“ hat weder formal noch inhaltlich etwas mit der Hindifilmindustrie gemein.
Fazit:
Der Antichrist geht um? Sanyals zweiter Roman ist ein postkolonialistisches Manifest. Welche Form von Widerstand ist richtig und legitim? Es geht auch um deutsche Befindlichkeiten. Stellenweise war ich aufgrund der Form schwer genervt von der Geschichte; das Sujet ist aber so interessant, dass ich froh bin, den Roman komplett gelesen zu haben. Manche Ideologien, Theorien und Konzepte muss man hinterfragen; natürlich ist die Publikation am Puls der Zeit. Trotz meiner Kritik denke ich, dass der Roman mit dem deutschen Buchpreis ausgezeichnet werden sollte.
„Dann liegt sie rücklings auf dem Deck, klatschnass, in einer Pfütze aus Flusswasser und dünnem Blut. Presst ihren Gehstock fest an sich, so wie Nonnen ihre kleinen goldenen Kreuze.“
Vorab:
Die Umschlaggestaltung ...
„Dann liegt sie rücklings auf dem Deck, klatschnass, in einer Pfütze aus Flusswasser und dünnem Blut. Presst ihren Gehstock fest an sich, so wie Nonnen ihre kleinen goldenen Kreuze.“
Vorab:
Die Umschlaggestaltung des Buches ist einfach wunderschön. Eigentlich bin ich keine „Coverkäuferin“, hier hat aber schon das verspielte Design mein Interesse (und meine Leselust) geweckt!
Worum geht’s?
Hier wird ein Genremix aus Reisebericht, Magischem Realismus (man denke etwa an Allendes „Geisterhaus“) und Historoman präsentiert.
Paris, 1885: Das Leben ist eine Reise – im neunzehnten Jahrhundert zwingt eine mysteriöse Krankheit das Mädchen Aubry Tourvel, ständig in Bewegung zu bleiben, denn sie kann höchstens eine Woche lang an einem Ort verweilen, ohne schlimme Schmerzen zu haben. Die Protagonistin muss daher stets geliebte Menschen verlassen. Einzig eine versteckte Bibliothek könnte ihre Linderung verschaffen, daher gibt Aubry die Hoffnung nicht auf...
Ich hatte mich vor der Lektüre auf ein phantastisches Abenteuer mit philosophischen Ansätzen eingestellt. Die Exposition las sich noch flüssig, der weitere Handlungsverlauf konnte mich jedoch nicht ganz überzeugen. Zwar fand ich es gut, dass der Eindruck eines reinen Reiseromans durch das Stilmittel der nicht-linearen Erzählweise abgemildert wurde, doch insgesamt fand ich die Figurenzeichnung nicht stimmig und den plot trotz Ortswechseln irgendwie spannungsarm. Französinnen, die „O mon dieu!“ ausrufen, sind ein wandelndes Klischee in meinen Augen. Auch das pacing war seltsam. Beim Lesen musste ich an „Sophies Welt“ von Jostein Gaarder denken, Gaarders Publikation macht für mich jedoch mehr Sinn als das Debut des Bibliothekars Douglas Westerbeke. Leider finde ich, dass in „Die unendliche Reise der Aubry Tourvel“ (unfreiwillig) Elemente von schlechter Sick Lit eingebaut wurden; ich bin kein Fan dieses Genres und gepeinigte Frauen als Protagonistinnen mochte ich schon in Lars von Triers Filmen nicht.
Es sind die 1990er Jahre in Westdeutschland. Über die Bildschirme flimmert „Charmed“, viele Zuschauerinnen möchten wie die fancy TV Serienhexen via Magie das Schicksal (und vor allem ihr Liebesleben) beeinflussen. ...
Es sind die 1990er Jahre in Westdeutschland. Über die Bildschirme flimmert „Charmed“, viele Zuschauerinnen möchten wie die fancy TV Serienhexen via Magie das Schicksal (und vor allem ihr Liebesleben) beeinflussen. Yasemin, genannt Yase, kommt aus einfachen Verhältnissen. Als Deutsch-Türkin sitzt sie immer zwischen den Stühlen. Die Eltern malochen und sind mit sich selbst beschäftigt, die Wohngegend Betonwüste. Nach einem Reitunfall muss Yase in die Reha, ihre Skoliose ist dringend behandlungsbedürftig, der weibliche Körper hat schließlich perfekt zu sein, was unter anderem zu Selbsthass führt. Als Teenie verliebt sich Yase in den Narzissten Vito (hier wird das angry young man- Stereotyp entlarvt), schießt den älteren Freund jedoch bald ab, nur um Jahre später in einem toxischen Beziehungsgeflecht gefangen zu sein. Wird es Yase gelingen, sich zu emanzipieren?
Ohdes „Streulicht“ ist ein großartiger Roman. „Ich stelle mich schlafend“ musste ich daher unbedingt lesen. Um es gleich zu sagen – die Geschichte geht unter die Haut, man ärgert sich über das Gelesene, aber es gibt auch den Aha – Effekt.
Viele Dinge, die im Roman angeprangert werden, sind wahr, und es sind bittere Wahrheiten, die in diesem sozialkritischen (feministischen) Roman ausgesprochen werden. Der alltägliche Sexismus, die Duldsamkeit vieler Frauen, das reflexhafte Schuldgefühl, die anerzogene Unterwerfung. „Unauffällig freundlich“, so wird die Protagonistin von ihrem Umfeld beschrieben, und wie viele Frauen übt sie sich in vorauseilendem Gehorsam. Der Roman macht betroffen.
Immer wieder gibt es Übergriffe, im Sanatorium wird die Hauptfigur (noch ein Teenager!) von Männern (medizinischem Fachpersonal, nota bene!) beim Erstellen eines Korsetts etwa sexuell belästigt. Diese Szene ist besonders wichtig, bilden doch Mädchen und Frauen mit Behinderung die vulnerabelste Gruppe, nur wird dies sehr selten thematisiert, gesellschaftlich steht eher das Thema Gender im Fokus, ein großer Fehler. Behindertenrechtsaktivistinnen sprechen sehr treffend von der „forced intimacy“ der sich gerade Frauen im medizinisch-pharmazeutischen Komplex wie selbstverständlich zu beugen haben, und Deniz Ohde erweist sich hier als wahre Feministin, die nicht nur reflexartig zeitgeistige Parolen wiederholt. Der Verlust der Unschuld ist ein zentrales Motiv, Missbrauch fängt im Kleinen an und sexuelle Gewalt findet oft in einer Grauzone statt.
Dennoch hätte ich mir stellenweise eine feinere Figurenzeichnung und etwas weniger Pathos im Text gewünscht. Religionskritik mit dem Holzhammer ist meine Sache nicht. Über die Bibel etwa heißt es: „Dieses dicke und mittlerweile vergilbte Buch voller Ermahnungen zum Verzeihen. Und damit eigentlich eine Erpressung.“
Figurennamen wie „Immacolata“ bzw. „Imma“ verweisen meines Erachtens wie eine Leuchtreklame auf die Botschaft der Autorin, mir persönlich ist das zu dick aufgetragen. Schade eigentlich! „Ich stelle mich schlafend“ gehört dennoch gelesen, der Roman ist wichtig und richtig, trotz kleiner Mängel.