Erinnerung an und Ermutigung zu einem selbstbestimmten Leben
BILLIE »Ich fliege Himmel an mit ungezähmten Pferden«„Ich fliege Himmel an mit ungezähmten Pferden“, so der Untertitel des Romans von Stefan Cordes über die Barockdichterin Sybilla Schwarz, zu Lebzeiten verkannt und diffamiert, als Frau fast chancenlos, ...
„Ich fliege Himmel an mit ungezähmten Pferden“, so der Untertitel des Romans von Stefan Cordes über die Barockdichterin Sybilla Schwarz, zu Lebzeiten verkannt und diffamiert, als Frau fast chancenlos, und dabei doch in ihren jungen Jahren und ihrem kurzem Leben so hochbegabt und mutig, ihren Traum, Dichterin zu werden, über allen Niederlagen, Rückschlägen und schwierigsten, oft lebensbedrohlichen äußeren Lebensumstände niemals aufzugeben.
So stellt man sich unter dem zitierten Satz Sybilla, kurz Billie, selber vor, die zu den Himmeln hinaufstürmen will, Grenzen überwinden, sich nicht aufhalten lässt, nicht zähmen lässt, nicht von den Männern, die über ihr Leben verfügen, nicht von der Kirche, die vorschreibt, nicht nur was zu glauben, sondern auch was zu denken ist. So sieht man sie auch im Roman auf einer halbwild lebenden gescheckten Stute am Ostseestrand entlang galoppieren. Sie, die gar nicht reiten kann, träumt davon zu reiten und dann reitet sie. Das ist Billie. So geht es ihr mit allem: Sie hat das Glück, in einem Haus aufzuwachsen, in dem es Bücher gibt. Eigentlich bestimmt für die Brüder, und ihre Schwerstern lernen weder lesen noch schreiben, Emi später dann doch, von Billie. Aber Billie war schon immer ein besonderes Mädchen: sie lernt lesen, sie lernt schreiben, sie lernt Latein und sie lernt dichten. Und da Gedichte nur zu Gedichten werden, wenn sie jemand liest, will sie gelesen werden. Sie will Dichterin werden, so wie einst Sappho. Denn wenn auch alle Bauwerke des Menschen einst vergehen, seine Worte werden Bestand haben. Und so hat das gedichtete Wort in Billies Leben eine ganz besonderen Wert. In den schlimmen Zeiten von Glaubenskrieg und Pest, von Hunger und Not bleiben die Bücher feste Konstante, Trost und Nahrung. Und wenn Billie auch das Lesen und Schreiben verboten wird, wenn sie mit Arbeit vom Lesen abgehalten werden soll und man ihr das Papier wegnimmt, damit sie nicht mehr schreiben kann, dann tut sie alle Arbeit, die man ihr aufträgt, ohne zu murren, egal, wie schwer die Arbeit auch ist, aber in ihrem Kopf und in ihrem Herzen bewegt sie die gelesenen Worte und die selbstgeschriebenen Verse.
„Ich fliege Himmel an mit ungezähmten Pferden.“ Sie selbst schrieb den Satz nicht als Ausdruck von Höhenflügen, sondern in einem Gedicht, das, wie sie sagt, „von Verzweiflung erzählt.“ Und es gibt vieles, was sie verzweifeln lässt: die Grausamkeit der Zeit, des 30jährigen Krieges, der Pest, des Hexen- und des Aberglaubens, die ihre viele geliebte Menschen nimmt, die Ignoranz der Männer, die die Welt dominieren, die der Frau den Platz am Herd zuweisen und von ihr erwarten, dass sie den Blick demütig zu Boden gesenkt hält wie das Vieh, die Rigidität der Religionen, die sich bekriegen für den rechten Glauben und das Seelenheil und die jeden bekriegen, der anders denkt oder anders liebt, wie Billie. Aber Billie steht auch im Kampf mit sich selbst: Ist sie wirklich eine berufene Dichterin oder ist es der Hochmut, der sie täuscht. Ist sie wie Arachne, deren Hochmut ein schlimmes Ende nahm? Und welches Ende wird Billie beschieden sein?
„Ich fliege Himmel an mit ungezähmten Pferden … Jetzt will ich in den Wald und mit Diana jagen!“ Für die Glaubensvertreter ist dieser Satz Indiz dafür, dass Billie mit dem Teufel im Bund steht, dass sie eine Hexe ist. So ist Billie gleich von mehreren Seiten angefochten: vom Krieg, der ihr Leben bedroht, von der Gefahr, als Hexe verbrannt zu werden, von dem Vorwurf des Hochmuts, der in einer Frau keine Dichterin von öffentlicher Bedeutung sehen kann, und von dem Wunsch nach einer Liebe, die sich nicht erfüllen kann.
Billie ist auf jeden Fall eine bewegende Figur, der der Autor mit seinem Roman ein lebendiges Bild verliehen hat in einem Porträt voll der unterschiedlichsten Figuren. Schon allein ihre Geschwister verkörpern ganz unterschiedliche Rollen: der gebildete Christian, der Billie die Welt der Bücher eröffnet, der Abenteurer Joachim, der in den Krieg zieht, Georg, der sich auf die Privilegien der Männerrolle beruft und Intelligenz als Teil männlicher Gene sieht, die Schwester Regina, die sich die Augen ausheult, solange sich kein Mann ihrer erbarmt hat, auch wenn er noch so alt und grämlich ist, Emmi, das ungeschickte, naive Huhn mit dem Herz am rechten Fleck. Daneben gibt es die schillernde Figur des Herzog von Croy, der in Billies Leben als Dichterin ein bedeutender Weichensteller ist. So schräg, exzentrisch, geckenhaft und oberflächlich er von außen erscheint, wie der Pfau auf dem Landgut von Billies Familie, so scharfsichtig und schonungslos ehrlich ist er zugleich. Da ist die lebenskluge Ide, nur Dienstmagd, aber Billies Freundin und Vertraute. Da donnert der Onkel Völschow mit der Bibel in der Hand und proklamiert den Sieg der Wahrheit, den er wohl auch damit durchsetzen würde, dass er den Widersprechenden mit einem Schlag der Bibel mundtot machen würde. Der Feingeist und Renaissancemensch mit dem sprechenden Namen Johannes Schöner, der Billie zum Dichten ermutigt, bringt mit seinem Haus etwas von der barocken Schönheit in das Dunkel dieser Zeit.
Neben dem Figurenpanorama besticht das Buch durch seine Bildgewaltigkeit. Mit gleicher Kunstfertigkeit zeichnet es die Bilder von Krieg, Schrecken, Tod und Verwüstung wie die der Hoffnung. Vielfach bedient es sich der Vergleiche aus der Natur und nutzt gekonnt die Jahreszeiten, die dem Leser die Situationen fühlbar machen: den Schmerz der Kälte des Winters, das Aufblühen des Lebens mit den ersten Frühlingsstrahlen des Sommers. Das macht das Buch atmosphärisch dicht und lässt das Geschehen lebendig vor Augen entstehen und nachfühlbar werden. Dabei sind die Sätze wie die Kapitel kurz und vorwärtsdrängend. Kein Wort, kein Satz zu viel. Keine episch-breiten Beschreibungen. Der Leser sieht und fühlt, ihm muss nicht wie einem Blinden detailliert beschrieben werden, was er zu sehen und zu fühlen hat.
Am meisten beeindruckend – nun endgültig zum Schluss kommend – ist die Klugheit und Belesenheit, die aus den vielen, häufig wenig bekannten Zitaten oder Verweisen auf die Schriftsteller der Antike, aber auch der Zeitgenossen Billies spricht. Verwoben wird die Handlung des Romans mit Bildern aus den Metamorphosen des Ovids: Billis Welt vergeht wie die Weltzeitalter Ovids, das bronzene und eiserne Zeitalter sind angebrochen. Billies Leben trägt Züge des Mythos um Arachne, der kunstfertigen Spinnerin, die ihren Stolz auf ihr Werk mit der Verwandlung in eine ekelige Spinne sühnen musste. Die Schriften Hildegard von Bingens, ausgerechnet einer Nonne, weist die Mädchen in die Kunstfertigkeiten der Liebe ein. Luthers Hexenphobie klingt aus dem Munde des wütenden Völschow, der die Schwäche des Mannes zum Fehler der Frau macht, die ihn verführt. Und eine erstaunliche Vielzahl an weiblichen Dichterinnen finden sich in der Bibliothek Schöners, nicht nur die viel bekannte Sappho. Und überall erspürt man die Motive des Barock: memento mori, carpe diem und die vanitas!
Auch wenn es die Frauen in der heutigen Welt schon leichter haben und dichtende Frauen ähnlich wie in anderen Zweigen nicht nur der Wissenschaften allmählich die Oberhand zu gewinnen scheinen, so erinnert dieser Roman zum einen an den Preis und die Stärke und den Mut, den nicht nur, aber besonders auch Frauen als Vordenkerinnen und Vorreiterinnen ihrer Zeit aufzubringen hatten, die uns den Weg bereitet haben. Zum anderen ermutigt Billies Geschichte nicht nur die Frauen, „ganz auf [s]ich [zu] vertrauen und [s]einen Weg [sich] selber [zu] suchen. So kann’s mir auch vor dir nicht grauen, selbst wenn du wagst, mich zu verfluchen. Wer sich vertraut in allen Dingen, wird Welt, wird Neid, wird Tod bezwingen.“ (Sybilla Schwarz, Gesang gegen den Neid)