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Veröffentlicht am 27.08.2022

Großartig

Ingeborg Bachmann und Max Frisch – Die Poesie der Liebe
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Großartig


Ein eher nichtssagender Titel für eine Rezension, aber das, was mir bei zunehmender Lektüre in Bezug auf den Roman „Eine Poesie der Liebe“ als am treffendsten in den Sinn kam.
Die Autorin schildert ...

Großartig


Ein eher nichtssagender Titel für eine Rezension, aber das, was mir bei zunehmender Lektüre in Bezug auf den Roman „Eine Poesie der Liebe“ als am treffendsten in den Sinn kam.
Die Autorin schildert darin die (selbst)zerstörerische Liebesbeziehung zwischen den großen deutschsprachigen Dichtern Max Frisch und Ingeborg Bachmann, deren Phasen sie mit „Liebesanflug“, „Liebesflüge“, „Sturzflug“ und „Gebrochene Flügel“ betitelt und die sie mit der Sage vom Flug des Ikarus vergleicht, der zu hoch an die Sonne flog und dann abstürzte. So ist auch die Liebe zwischen den beiden, die sehr intensiv und zu intensiv ist, sodass aus der Eifersucht des einen und dem Drang nach Freiheit der anderen letztlich nichts anderes folgen kann als ein traumatisierendes Ende für beide. Sowohl ihre Liebe als auch deren Ende findet Eingang in die Werke der Dichter und damit auch in die Öffentlichkeit.
Es geht aber auch um das Rollenverständnis von Mann und Frau im Allgemeinen in der Nachkriegsgesellschaft und im Besonderen im Literaturbetrieb, es geht um verschiedene Schreibweisen, vielleicht, wenn man so will, um männliches und weibliches Schreiben.
Mit großer Sachkenntnis widmet sich die Autorin ihrem Herzensprojekt und setzt den von ihr geliebten und geachteten Autoren ein großartiges Denkmal. Sie vermittelt dem Leser die schwierigen Gefühls- und Stimmungslagen der beiden, ihre unterschiedliche Art, zu denken, zu fühlen, zu formulieren und zu schreiben. Dabei flicht sie immer wieder Originalzitate aus den Werken der Autoren ein oder stellt literarische Bezüge her. Darüber hinaus vermittelt sie ein tiefen Einblick in das Handwerk des Schreibens und des Literaturbetriebs mit den Größen der damaligen Zeit. Auch die Beziehung Bachmanns zu Paul Celan und dessen tragischem Leben schildert sie sehr sensibel und einfühlsam. Der Roman bietet ein Einstieg in das Werk der beiden Protagonistin, aber auch dem Interessieren auf mehr als nur unterhaltende Art einen vertieften Einblick in das Seelenleben und die Beziehung von Frisch und Bachmann und macht Lust, ihre Werke noch einmal zu lesen. Einzig kritische Anmerkung – eine Marginalie: die vielen Blumen auf dem Cover und auf den einzelnen Kapiteleinleitungsseiten hat der Roman nicht verdient. Wohl ein Markenzeichen der Reihe muten sie mir doch zu kitschig an für eine Beziehung, die nicht gerade „auf Rosen gebettet“ war und für ein ernstzunehmendes, großartiges Projekt über eine bedeutende Phase der deutschsprachigen Literaturgeschichte.

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Veröffentlicht am 24.08.2022

Wer dem Schweigen ausdrucksstarke Wörter verleiht

Dein Schweigen, Vater
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Der Roman „Dein Schweigen, Vater“ handelt von Paul, der als kleiner Junge den Todesmarsch von Brünn überlebt und seine Vergangenheit in Form von Schweigen mit in seine Familie nimmt.
Und er handelt von ...

Der Roman „Dein Schweigen, Vater“ handelt von Paul, der als kleiner Junge den Todesmarsch von Brünn überlebt und seine Vergangenheit in Form von Schweigen mit in seine Familie nimmt.
Und er handelt von Maria und Ulli, seinen Kindern, die dieses Schweigen mit in ihr eigenes Leben nehmen, bis zu einem Punkt, an dem ihr eigenes Leben an diesem Schweigen ins Stocken gerät und sie sich auf den Weg machen, diesem Schweigen auf den Grund zu gehen. Dieser Weg führt sie zurück nach Brünn auf die Route des damaligen Marsches der von den Tschechen am Ende des Zweiten Weltkrieg vertriebenen Deutschen.
Für den ersten Teil, die Schilderungen des Todesmarsches, brauchte ich drei Anläufe, zu groß der Schrecken und die Gräuel, die die Autorin mit den Augen und den Worten eines Kindes beschreibt, der noch nicht alt genug ist, alles zu verstehen, und doch alt genug, um zu viel zu begreifen. Dadurch wirken die Ereignisse auf den Leser noch unfassbarer, so dass auch ihm die Worte fehlen, das beim Lesen Gefühlte in Worte zu fassen.
Mit der Verschiebung der Perspektive auf die der Kinder von Paul tritt eine unerwartete Wendung ein. Die Autorin nimmt uns mit in zwei Leben, die sehr intensiv sind und zugleich auf der Suche nach einem Ziel. Die Beschreibungen werden sanfter, ruhiger trotz aller Zweifel und Getriebenheit der Protagonisten. In den Schrecken und das Schweigen mischen sich herzliche Erlebnisse, warme Begegnungen und tiefe Gespräche zwischen den beiden Geschwistern, aber auch zwischen den ihnen und den Menschen, denen sie auf ihrer Reise in die Vergangenheit begegnen. Der Schrecken schlummert unter einer atmosphärisch beschriebenen Landschaft zwischen Brünn und Wien und in den herzlichen Begegnungen zwischen den Tschechen und dem deutschen Geschwisterpaar, die nichts mehr von irgendwelchen Ressentiments erahnen lassen. Das Ende gibt eine Aussicht auf Versöhnung, vielleicht ist es etwas viel des Guten, vielleicht haben es sich die Figuren und die Leser aber auch verdient nach diesem schweren Marsch. Auch wenn Maria meint, Geschichte vollziehe sich in Kreisen wie die Ringe eines Baumes, macht das Ende doch Mut zu glauben, dass sich nicht alles zwangsläufig wiederholen muss, sondern dass der Mensch die Entscheidung hat durch Vergebung und durch das aufeinander Zugehen den Kreis zu etwas Gutem zu führen.
Der Autorin ist ein intensives, anrührendes Buch gelungen. Sie findet oft wunderbare Worte für das schwer Sagbare. Es ist ein Buch, das man lange mit sich trägt und nicht mehr vergessen wird.

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Veröffentlicht am 18.08.2022

Traurige russische Seelen

Das Leben vor uns
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„Glaubst du, Russen schleppen eine tiefgründige, schädliche Traurigkeit mit sich herum?“, fragt die Protagonistin des Romans, Anja, ihren alten Jugendfreund Lopatin am Ende des Romans „Das Leben vor uns“. ...

„Glaubst du, Russen schleppen eine tiefgründige, schädliche Traurigkeit mit sich herum?“, fragt die Protagonistin des Romans, Anja, ihren alten Jugendfreund Lopatin am Ende des Romans „Das Leben vor uns“. Es ist die Geschichte von vier Jugendlichen, die im Russland der 80er Jahre erwachsen werden. Sie hoffen einerseits auf ein anderes Leben in Freiheit mit allen Möglichkeiten, bleiben aber zugleich alle verhaftet in der Geschichte ihres Landes. Alle vier Leben nehmen unterschiedliche Verläufe, bleiben aber verbunden bis zuletzt.
Der Titel „Das Leben vor uns“ weckt Hoffnung auf ein Leben, das in vollen Zügen und mit allen Möglichkeiten gelebt werden will. Doch am Ende es zeigt sich, dass man seiner Vergangenheit und seiner Herkunft nicht entkommen kann, egal wie weit man ihr zu entfliehen sucht. Das lässt den Leser mit einer stillen Traurigkeit zurück.
Das Buch zeichnet sich auch in der Übersetzung aus mit einer wunderbaren Sprache, die sich gut lesen lässt, nie schwer oder pathetisch wird, dennoch ergreift und großartige Bilder zeichnet von der Natur und von der Stimmung im Land, die sich in der Natur und im Wetter spiegelt.
Die Figuren nehmen den Leser mit ihren Stärken und Schwächen, ihren liebenswürdigen und abstoßenden Wesenszügen ein. Es gibt keine Helden und keine Antihelden. Das bringt die Figuren dem Leser so nahe. Genauso wie ihm das Buch sehr viel mehr als nur die wechselvolle, schreckliche, grausame Geschichte Russlands von der russischen Revolution, die Blockade von Leningrad über den Kalten Krieg, Perestroika und Glasnost bis hin zu Putin, nahebringt. Er bekommt eine Ahnung von russischer Mentalität, von der Verbundenheit zu diesem rauhen Land, von dem Kampf mit der eigenen Geschichte und Gesellschaftsordnung. Es tut sich ein Zwiespalt auf von russischem Brauchtum, das Verwurzelung schafft und Heimat bietet und quasi der Natur entwachsen zu sein scheint, und dem Ringen mit den Selbstentwürfen gesellschaftlichen Zusammenlebens, die ihren Ursprung in der Idee des Kommunismus haben, in der Realität aber scheitern und die Menschen einengen, ausbeuten, quälen und sterben lassen.
Der Roman bringt dem Leser die russische Seele ein wenig näher

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Veröffentlicht am 02.08.2022

Der Mut der Ohnmächtigen

Die karierten Mädchen
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Als junge Hauswirtschaftslehrerin übernimmt Klara mehr oder minder schnell die Rolle der Leiterin eines Kurheimes für schwindsüchtige Kinder in Oranienbaum, das zugleich Ausbildungsstätte für junge Mädchen ...

Als junge Hauswirtschaftslehrerin übernimmt Klara mehr oder minder schnell die Rolle der Leiterin eines Kurheimes für schwindsüchtige Kinder in Oranienbaum, das zugleich Ausbildungsstätte für junge Mädchen in allen Belangen der Hauswirtschaft ist. Gebeutelt von der Weltwirtschaftskrise bleibt Klara nichts anders übrig, um das Fortbestehen der Einrichtung zu retten, als mit der aufsteigenden Macht der Nationalsozialisten einen Pakt zu schließen und das Heim zur Finanzierung unter staatliche Obhut zu stellen. Sie wird zuerst Leiterin dieser zum ersten Frauenbildungsheim umgewidmeten Hauses und später einer noch größeren Einrichtung mit dem Auftrag, die jungen Mädchen ganz im Sinne des nationalsozialistischen Frauenbildes zu erziehen, obwohl sie selbst das Ideal einer frei denkenden, selbständigen und für ihren eigenen Unterhalt sorgenden Frau verkörpert. Verschärft wird ihr innerer Konflikt noch dadurch, dass sie ein kleines Baby jüdischer Herkunft bei sich aufnimmt und sich als ihre Mutter ausgibt, was bei zunehmender Verfolgung der Juden durch die Nazis für sie und das Kind immer gefährlicher wird.
Klara ist eine bewundernswerte Frau: Noch als 90jährige blinde Frau, die ihre Erinnerungen auf ein Tonband diktiert, um mit sich und ihrer Vergangenheit ins Reine zu kommen, lebt sie allein und meistert ihren Alltag in ihrem norddeutschen Reihenhaus selbständig. Als junge Frau wagt sie ein kühnes Doppelspiel, indem sie sich mit Nazi-Größen wie Heinrich Himmler einlässt, ohne deren Ideologie zu teilen und dabei gleichzeitig alles zu tun, um ihr kleines Mädchen vor dem Zugriff der Verfolgung zu schützen. Schon in dieser Zeit kämpft sie mit ihrem Gewissen, ihren Schuldgefühlen, sich dem verbrecherischen Treiben der Nazis nicht deutlicher in den Weg zu stellen und z. B. die Untaten der Reichsprogromnacht nur in ohnmächtigem Schrecken zu beobachten. Das Buch setzt sich ohne moralische Belehrung mit der schwierigen Frage nach Schuld und moralischem Handlungsspielraum auseinander und zeigt am Lebenslauf der Protagonistin den inneren, bis zum Lebensende nicht gelösten Zwiespalt auf, den Deutsche, die nicht Täter, aber auch nicht überzeugte Nazis waren, vielfach gespürt haben dürften. Eingekleidet in eine mitreißende Geschichte, die viel über die Rolle der Frau und die Frauenbildung in Zeiten des Nationalsozialismus vermittelt, gelingt es dem Roman, dem Leser das Schicksal der Figuren nahezubringen. Bei aller Bewunderung für die Figur der Klara treiben auch ihn die Fragen nach Verantwortung, nach Schuld und nach Handlungsmöglichkeiten um. Auch wenn man sich als ohnmächtig empfindet, weil es zu spät zum Handeln ist, bleibt dennoch die Frage, ob man gleich zur Leiterin einer Erziehungsanstalt werden muss, die die Naziideologie unschuldigen Generationen einimpft, wenn man doch sieht, dass es kaum möglich ist, darin den Keim kritischen Denkens zu legen. Oder ist der Lebensentwurf von Klaras Freundin Susanne, die sehr früh die Abscheulichkeit der nationalsozialistischen Ideologie erkannt hat, aber sich in Ermangelung einer alternativen Tätigkeit als Erzieherin in der damaligen Zeit entschließt, in der „zweiten Reihe“ zu verharren, eine bessere Alternative?
Gespannt erwartet der Leser die Fortsetzung der Geschichte von Klara, auch in der Hoffnung, eventuell noch Antworten auf diese Fragen zu bekommen.

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Veröffentlicht am 11.06.2022

Paralleluniversen

Ein unendlich kurzer Sommer
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Lale steigt in einen Zug und fährt bis zur Endstation. Sie landet auf einem Campingplatz. Es ist Sommer. Sie ist am Ende der Welt.
Christophes Mutter ist gerade gestorben. In einem Buch findet er beim ...

Lale steigt in einen Zug und fährt bis zur Endstation. Sie landet auf einem Campingplatz. Es ist Sommer. Sie ist am Ende der Welt.
Christophes Mutter ist gerade gestorben. In einem Buch findet er beim Aufräumen einen 38 Jahre alten Brief seiner Mutter an den Mann, der eigentlich sein Vater ist. Er steigt in ein Flugzeug und fliegt ans Ende der Welt, auf einen Campingplatz.
Gustav ist ein alter Mann, er sitzt am Ende der Welt auf einem Campingplatz und ist froh, dass er seine Ruhe hat. Bis zwei Menschen auftauchen in einem Sommer, der das Leben aller verändern wird.
Was als leichte Sommerlektüre beginnt endet als tiefgründige, aber auch tieftraurige Geschichte über das was man vom Leben lernen kann, vor allem von dem nicht gelebten Leben. Aber trotz aller traurigen Zwischentöne findet das Buch immer wieder zu einer locker leichten, heiteren Sommerstimmung zurück, den die Autorin dem Leser mit vielen Stimmungsbildern schmackhaft, fühlbar, hörbar und überhaupt mit allen Sinnen wahrnehmbar macht. Beim Lesen kommen immer wieder Erinnerungen hoch an eigene verbrachte Sommer, deren ganz eigene Stimmung plötzlich ganz präsent wird.
Auf einem Campingplatz mit seinen herrlich schrägen, skurrilen, aber umso liebenswerteren Figuren ereignen sich Dinge, die den Leser zum Schmunzeln, zum lauten Lachen, aber auch zum Nachdenken und zum Traurigsein bringen. Das Paralleluniversum an Ende der Welt wird immer wieder heimgesucht von den Einbrüchen der Wirklichkeit. Oder ist es das Paralleluniversum, das in die Wirklichkeit einbricht, um zu zeigen, dass die Wirklichkeit nicht vorgegeben ist durch das Vergangene, sondern manchmal einen guten Schubs in die Zukunft braucht, um neue Wege zu beschreiten.
Eine herrliche Sommerlektüre mit Tiefgang! Gut zu lesen mit den Füßen in einem See auf einem Campingplatz am Ende der Welt! Aber Achtung: Das Paralleluniversum könnte auch der eigenen Wirklichkeit einen guten Schubs geben!

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