Profilbild von missmesmerized

missmesmerized

Lesejury Star
offline

missmesmerized ist Mitglied der Lesejury

Melde dich in der Lesejury an, um dich mit missmesmerized über deine Lieblingsbücher auszutauschen.

Anmelden

Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 29.01.2023

Vincenzo Latronico - Die Perfektionen

Die Perfektionen
0

Anna und Tom kommen nach Berlin. Es ist die Zeit, als es viele aus aller Herren Länder in die deutsche Hauptstadt zieht. Sie finden günstige Wohnungen und arbeiten freiberuflich an ihren Laptops in Cafés. ...

Anna und Tom kommen nach Berlin. Es ist die Zeit, als es viele aus aller Herren Länder in die deutsche Hauptstadt zieht. Sie finden günstige Wohnungen und arbeiten freiberuflich an ihren Laptops in Cafés. Zwischen Kunstgalerien und Nachtclubs verwischen Arbeit und Privatleben und alles scheint für die 20 bis 30-Jährigen möglich. Nur gelegentlich kommt der Gedanke an die Heimat, die man zurückgelassen hat. Der Freundes- und Bekanntenkreis ist in Dauerbewegung, neue kommen hinzu, andere verschwinden. Doch langsam verändert sich die Stadt und irgendwann beginnen auch Anna und Tom darüber nachzudenken, ob das noch das Leben ist, wie sie es sich vorgestellt haben.

Der Italiener Vincenzo Latronico ist Autor und Übersetzer und lebt selbst in Berlin. „Die Perfektionen“ ist sein zweiter Roman und eine Hommage an seine Wahlheimat. In starken Bildern fängt er eine inzwischen schon wieder vergangene Zeit und ein Lebensgefühl einer ganzen Generation ein.

„In Berlin lebten Anna und Tom in jeder Hinsicht in einer Blase, die kleiner und abgesonderter war als die, die sie sich in den sozialen Netzwerken schufen.“

Mit hübschen Bildern zeichnen sie online ein Bild von ihrem Leben, das mehr Fassade als Realität ist. Ein Scheinleben online wie offline in einer Stadt, deren Sprache sie kaum sprechen und in der sie nie wirklich ankommen, geschweige denn in das Leben der Deutschen eindringen. Alle, die sie kennen, sind Expats wie sie selbst, die denselben Lebensstil pflegen, jung und mobil sind, die globalen englischsprachigen Nachrichten verfolgen, aber nichts von den Vorfällen oder Sorgen um die Ecke wissen.

Es braucht ein extremes Ereignis wie die Ankunft tausender Geflüchteter im Jahr 2015, damit sie etwas von dem Leben in der Stadt mitbekommen und ihre Blase kurzzeitig verlassen. Doch auch das bleibt eine kurze Momentaufnahme und ist schnell schon wieder vergessen.

Es sind vor allem die präzisen Beschreibungen, die den kurzen Roman zu einem herausragenden Leseerlebnis machen. Poetisch und doch präzise lässt Vincenzo Latronico konkrete Bilder vor dem inneren Auge aufsteigen und den Leser darin versinken.

Veröffentlicht am 18.12.2022

Christine Hutterer - Für ein fittes Immunsystem

Für ein fittes Immunsystem
0

Nicht erst in Zeiten einer Tripledemie aus Covid, Grippe und RS-Viren fragt man sich, wie man das Immunsystem dabei unterstützen kann, seinen Job zu machen und all das, was uns krank macht, erfolgreich ...

Nicht erst in Zeiten einer Tripledemie aus Covid, Grippe und RS-Viren fragt man sich, wie man das Immunsystem dabei unterstützen kann, seinen Job zu machen und all das, was uns krank macht, erfolgreich abzuwehren. Aber auch jenseits akuter Bedrohungen kann es ja nicht schaden, den Körper und die Abwehrkräfte zu stärken.

Die Biologin Christine Hutterer hat dazu das Wichtigste kurz und knapp zusammengestellt. Auf rund 150 Seiten findet sich ein knackiger Überblick darüber, wie man im Alltag vorsorgen kann. Nach der Erläuterung der Funktionsweise adressiert sie verschiedene Bereiche wie Stress, Sport und Ernährung. Dabei wird praxisnah Hilfestellung gegeben, wie man nach einem Selbstcheck mittels Listen mit kleinen Veränderungen bereits etwas bewirken kann.

Der Ratgeber liest sich leicht ohne zu viel Fachvokabular, wichtige Hinweise sind optisch hervorgehoben. Die Informationen sind kurz, prägnant und alltagsnah, so dass man sie tatsächlich anwenden kann. Viele Mythen werden kurz erläutert, ebenso wird erläutert, wo es noch Forschungsbedarf gibt, um Wirkweisen tatsächlich nachzuweisen. Wenn man sich mit der Thematik ohnehin auseinandersetzt, bietet das Buch nicht viel Neues, auch ist die fachliche Tiefe notwendigerweise begrenzt.

Daher würde ich es eher jenen Lesern empfehlen, die einen schnellen und kompakten Überblick zur Orientierung ohne zu viel Gerede wünschen und schnell umsetzbare Tipps suchen.

Veröffentlicht am 06.12.2022

Malin Stehn - Happy New Year

Happy New Year – Zwei Familien, ein Albtraum
0

Silvester, letzter Tag des Jahres und die Chance, dass im neuen alles besser wird. Doch für die Familien von Lollo und Max und ihren Freunden Fredrik und Nina endet die Nacht im schlimmsten Horror. Ihre ...

Silvester, letzter Tag des Jahres und die Chance, dass im neuen alles besser wird. Doch für die Familien von Lollo und Max und ihren Freunden Fredrik und Nina endet die Nacht im schlimmsten Horror. Ihre Töchter feiern eine Party, am Ende ist eine davon tot. Die Eltern zwischen Vorwürfen und Schuldgefühlen. Haben sie ihre Kinder nicht ausreichend beschützt? Oder tragen sie sogar Schuld? Denn plötzlich drohen alte Geheimnisse ans Licht zu kommen und Gewissheiten zu erschüttern.

Die schwedische Autorin und Übersetzerin Malin Stehn ist in ihrer Heimat vor allem durch Kinder- und Jugendbücher bekannt geworden. Mit „Happy New Year“ wagt sie sich ins Spannungsgenre und kann unmittelbar überzeugen. Aus wechselnden Perspektiven erzählt sie die Geschichte, die immer ein paar Lücken lässt und so Raum für Spekulation eröffnet und die Spannung steigert.

Happy, glücklich, ist leider keine der Figuren. Alle tragen sie ihr Päckchen, stecken fest in verfahrenen Beziehungen, haben den Kontakt zueinander verloren. Ein schreckliches Verbrechen bringt sie auch nicht wieder zusammen, sondern lässt sie noch weiter voneinander entfernen. Die Perspektivwechsel erlauben einen Einblick in die Gedanken und Zweifel der Figuren. Bald scheint alles möglich, jeder zu allem fähig, keine noch so schreckliche Tat mehr unvorstellbar.

Eine spannende Geschichte, die alle Abgründe der menschlichen Natur an die Oberfläche spült und zeigt, wozu Rache fähig.

Veröffentlicht am 06.11.2022

Takis Würger – Unschuld

Unschuld
0

Fünfunddreißig Tage, etwas mehr als einen Monat noch hat Molly Carver, um die Unschuld ihres Vaters zu beweisen. Dieser sitzt im Todestrakt und soll hingerichtet werden. Für einen Mord, den er nicht begangen ...

Fünfunddreißig Tage, etwas mehr als einen Monat noch hat Molly Carver, um die Unschuld ihres Vaters zu beweisen. Dieser sitzt im Todestrakt und soll hingerichtet werden. Für einen Mord, den er nicht begangen hat, da ist sich Molly sicher. Ihr bleibt nur eine einzige Chance: sie muss nach Rosendale, wo sie als kleines Kind lebte und direkt in das Auge des Orkans: in die Familie, die dem Ort den Namen gab und deren Sohn Casper zehn Jahre zuvor erschossen wurde. Nur bei der Familie selbst kann die Wahrheit liegen. Ihre Tarnung als Hausmädchen und Journalistin fliegt sofort auf, doch wundersamer Weise sie darf bleiben.

Takis Würgers Roman „Unschuld“ ist eigentlich nach sehr schematischen, vorhersehbaren Strukturen klassisch als Krimi aufgebaut: der angenommenen Unschuld eines unheilbar kranken Mannes, der hingerichtet werden soll; seine Tochter, die in letzter Minute versucht die Wahrheit herauszufinden, um ihn zu retten; eine verquere Familie voller Geheimnisse, bei denen offenkundig der Schlüssel zu den Geschehnissen zehn Jahre zuvor liegt. Und doch liest sich die Geschichte, in der man sofort weiß, wer gut und wer böse ist, nicht wie ein klassischer Krimi.

Man ahnt vom Beginn an, wie alles ausgehen wird. Man erkennt die Motive, kann vorhersehen, welche Wendungen die Figuren erst noch für sich aufdecken müssen. Nichts überrascht wirklich, der Spannungsbogen ist schön gestrickt, wie man es erwarten würde. All das und doch packt einem Takis Würger, entfaltet die Geschichte einen Sog, liest man einfach weiter, will man nicht aufhören, bis die Unschuld endlich bewiesen ist.

Es wäre aber zu kurz gegriffen, nur 300 Seiten Unterhaltung in dem Roman zu sehen. Das verhindert der Autor zudem mit dem Nachwort, wenn es dem Leser nicht schon vorher als fader Beigeschmack bewusst geworden ist. Molly und ihr Vater bilden das untere Ende der amerikanischen Gesellschaft, Aufstieg ist eine Illusion, es kann nur noch weiter bergab gehen. Der Todestrakt und die unheilbare Huntington Krankheit scheinen das natürliche Schicksal des Vaters zu sein.

Im Kontrast dazu die Rosendales, einst in einer Liga mit den Rockefellers können sie sich alles erlauben. Sich freikaufen. Die Regeln bestimmen, die nur zu ihren Gunsten aufgestellt werden. Dass sie ihr eigenes Leben nicht leben, sondern nur mit Medikamenten und esoterischen Retreats aushalten, passt ebenso ins Bild, wie die Vernarrtheit in Waffen und die großzügige Unterstützung der NRA. Doch auch sie sind vom Schicksal verdammt, können vermeintlich den finalen Todesstoß hinausschieben, dabei sind sie schon lange innerlich tot.

Takis Würger zeichnet ein dunkles Bild der gegenwärtigen USA. Es ist nicht mehr das Land der Träume, in dem jeder alles erreichen kann. Es ist ein Sumpf, in dem schon lange moralische Orientierung und Werte versunken sind. So moralinsauer das klingen mag, kommt es aber in der Handlung nicht daher. Beiläufig lässt der Autor die großen Probleme der amerikanischen Gesellschaft aufblitzen, die jedoch zu Ursache und Treiber der Handlung werden.

Ein Roman, dessen Relevanz sich aus der Nähe zu einer brutalen und schonungslosen Realität ergibt.

Veröffentlicht am 05.11.2022

Byeong-mo Gu - Frau mit Messer

Frau mit Messer
0

Die Zeichen der Zeit lassen sich zunehmend nicht mehr ignorieren. Mit 65 spürt Hornclaw täglich, dass ihr Körper nicht mehr der einer jungen Frau ist und dass ihr nicht nur der Alltag, sondern vor allem ...

Die Zeichen der Zeit lassen sich zunehmend nicht mehr ignorieren. Mit 65 spürt Hornclaw täglich, dass ihr Körper nicht mehr der einer jungen Frau ist und dass ihr nicht nur der Alltag, sondern vor allem ihr Beruf zunehmend schwerer fällt. Dabei ist es eigentlich ein Vorteil, denn als alte Frau wird sie in der Öffentlichkeit nicht mehr wahrgenommen, man sieht sie gar nicht erst und vergisst sofort wieder, dass sie da war. Für eine Auftragskillerin eigentlich perfekt. Doch nach 40 Jahren des Mordens entwickelt sie plötzlich auch Mitgefühl, steht anderen Menschen nicht mehr gleichgültig gegenüber. Eine Killerin mit Herz, kann es das geben? Viel drängender jedoch die Frage: bringt sie das nicht plötzlich selbst in Gefahr?

Die südkoreanische Autorin Byeong-mo Gu ist in Deutschland noch unbekannt, mit „Frau mit Messer“ ist jetzt die erste Übersetzung erschienen. Der Roman kann als eine Art feministischer Krimi beschrieben werden, denn die Protagonistin hat wenig von einer eiskalten Mörderin, obwohl sie mehrfach emotionslos zum Messer greift und ihren Auftrag erledigt. Es ist ihr Lebensweg, der sie zu dem gemacht hat, was sie jetzt ist, und dieser Weg ist sehr spezifisch weiblich. Als Leser folgt man ihr mit gemischten Gefühlen, einerseits wirkt sie einsam und sympathisch, doch dann erlebt man wieder ihre andere Seite. Ein Roman, der verstört und berührt zugleich, mit einer Protagonistin, die zugleich Täterin und Opfer ist.

Literatur aus Südkorea überschreitet oftmals die Grenzen dessen, was wir im Westen kennen. Unbequeme Wahrheiten und brutale Realitäten, vor denen man eigentlich lieber die Augen verschließen würde, werden in einer Weise geschildert, die sie als banal, alltäglich, schlichte Tatsachen erscheinen lassen und damit nochmals potenzieren.

In Byeong-mo Gus Roman erlebt man dies auch wieder. Es gibt konkurrierende Agenturen, an die sich der Normalmensch für einen Mord wendet, beinahe so als wenn man ein Maklerbüro für eine neue Wohnung beauftragt. Die Killer kommen in allen Formen daher, was sie in den Menschenmassen untergehen lassen, jeder, der neben einem im Bus steht, könnte in der nächsten Sekunde zuschlagen. Wie Hornclaw, die unscheinbare ältere Frau.

Ihren Alltag teilt sie nur mit einem alten Hund, zunehmend wird ihr Körper unbeweglicher und die Momente des Vergessens nehmen drastisch zu. Agil wird sie jedoch wieder im Kampf, bei dem sie dank ihrer Erfahrung auch starken jungen Männern so einiges entgegensetzen kann. Die Widersprüche lassen sich nicht auflösen, ergeben ein Bild mit Brüchen, das Hornclaw jedoch zu einer interessanten Figur macht, die die Handlung trägt und Fragen nach Moral und Recht schwer beantworten lässt.

Eine außergewöhnliche Geschichte, die Spannungsmomente mit sozialkritischen, feministischen Tönen verbindet.