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Veröffentlicht am 09.09.2020

Zsuzsa Bánk - Sterben im Sommer

Sterben im Sommer
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Als sie im Januar die Diagnose bekommen, dass der Krebs zurückgekehrt ist, wollen sie den Sommer noch einmal in Ungarn verbringen. Dem Land, aus dem die Eltern 1956 geflohen waren und das doch immer sommerlicher ...

Als sie im Januar die Diagnose bekommen, dass der Krebs zurückgekehrt ist, wollen sie den Sommer noch einmal in Ungarn verbringen. Dem Land, aus dem die Eltern 1956 geflohen waren und das doch immer sommerlicher Sehnsuchtsort geblieben ist. Die Erinnerungen an heiße, fröhliche, unbeschwerte Sommer kommen wieder hoch, doch der Vater schafft es nicht, zu krank ist er und wird im Drei-Länder-Eck zwischen Slowakei, Österreich und Ungarn von Krankenhaus zu Krankenhaus gebracht. Die letzten Tage in der Klinik, die Onkologie ist die letzte Station vor – ja vor was? Dem Hospiz? Aber ist das nicht schon aufgeben?

Die Autorin schildert den heißen Jahrhundertsommer 2018, der sich ihr vor allem wegen des Verlusts des Vaters eingebrannt hat. Langsam zeichnet sich über Monate ab, was unausweichlich ist und dennoch ist sie emotional nicht vorbereitet auf das, was sie erlebt. Zwischen Erinnerungen an die gemeinsame Zeit und den bürokratischen Hürden der letzten Tage oszilliert der Bericht und fängt die emotionale Achterbahn der Tochter ein.

Was kann man über ein so persönliches Buch sagen? Es erschien mir sehr authentisch, gerade in der Schilderung der gleichzeitig auftretenden, widersprüchlichen Empfindungen. Zwischen großer Zuneigung, die sich aus den Kindheitstagen und vor allem den Sommern am Balaton speist, Angst vor dem, was kommt, Wut auf die Bürokratie, die Unmenschliches verlangt und so fast zynisch macht, Trauer, die schon einsetzt, als der Vater noch lebt, und der Verzweiflung, jetzt weiterleben zu müssen mit dieser Lücke, die da gerissen wurde.

„Aber das Leben geht überhaupt nicht weiter, nein, es bleibt auch nicht stehen, es steht einfach nur herum, das trifft es mehr. Es wird zu einer schwachen Kopie seiner selbst, blass und leer,“

Eine literarische Verarbeitung der Trauer, die gar nicht die großen Fragen nach dem Dasein aufreißt, sondern durch die kleinen Banalitäten des Alltags, die sich plötzlich als große Hürden auftun, überzeugt. Und am Ende kommt ein neuer Sommer, der nicht ist, wie die davor, aber eben auch ein Sommer ist.

Veröffentlicht am 08.09.2020

Tobias Schlegl – Schockraum

Schockraum
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Nachdem seine steile Karriere in der Werbebranche zwar zu viel Spaß und Einkommen führte, sich irgendwann aber die Sinnfrage immer drängender stellte, entschied sich Kim zu einem radikalen Schritt: er ...

Nachdem seine steile Karriere in der Werbebranche zwar zu viel Spaß und Einkommen führte, sich irgendwann aber die Sinnfrage immer drängender stellte, entschied sich Kim zu einem radikalen Schritt: er machte eine Ausbildung als Notfallsanitäter. Nun, vier Jahre im Job, kämpft er jedoch mit sich und den Arbeitsbedingungen: zu wenig Leute, zu hoher Zeitdruck, die Arbeit wird zunehmend durch Gaffer und Störer behindert, das Gehalt reicht kaum aus, um eine Familie zu ernähren und irgendwie kommt er auch nicht dazu, die Erlebnisse zwischen Leben und Tod zu verarbeiten. Als ihn auch noch seine Freundin verlässt, er sich nur noch schwer fokussieren kann und die Alpträume zunehmen, flüchtet er mit seinem Freund für ein paar Tage nach Texel, die Auszeit tut ihm gut, ändert jedoch auch nicht grundlegend etwas. Er muss sich endlich ernsthaft seinen Problemen stellen.

Ich war zugegebenermaßen sehr überrascht, als ich vor einigen Tagen in der Zeitung eine Besprechung des Romans gelesen habe. Mir war Tobias Schlegl nur als Viva-Moderator der 90er Jahre bekannt, seine Karriere hatte ich nicht weiter verfolgt und dass er 2016 gänzlich aus dem Show-Business ausgestiegen war, ist entsprechend auch an mir vorbeigegangen. Er verarbeitet in „Schockraum“ seine eigenen Erfahrungen, die er während der Arbeit als Sanitäter gesammelt hat. Entstanden ist zwar eine fiktive Geschichte um den End-30er Kim, aber neben den Episoden, die Einsätze schildern, wird vor allem der Alltag und die Belastung in diesem Beruf thematisiert. Es ist keine Abrechnung, aber am Beispiel des Protagonisten wird gezeigt, wie Menschen, die eigentlich helfen wollen und sich in den Dienst der Gesellschaft stellen, systematisch verschlissen werden. Dies trifft nicht nur für die Mitarbeiterinnen im RTW zu, sondern gleichermaßen für Pflegerinnen in Kliniken und Altenheimen oder auch die Feuerwehr.

Natürlich befriedigt der Roman ein Stück weit die Sensationslust: was erlebt Kim bei seinen Einsätzen, wann kämpft er um das Leben von Verletzten, welche spektakulären Situationen hat er erlebt? Man kann leicht nachvollziehen, weshalb Sanitäter keine Lust mehr auf die Frage danach, ob bzw. wie viele Tote sie schon gesehen haben, zu antworten. Ebenso kann man die Wut verstehen, wenn sie wegen Lappalien gerufen werden oder auch ihre Machtlosigkeit, wenn Patienten nicht kooperieren. Es ist eine bunte Mischung von Einsätzen, die die Bandbreite des Arbeitsalltags sichtbar machen. Die schönen Seiten kommen ebenso zu Wort wie die furchtbaren.

„Diese Unsicherheit ist reizvoll, aber auch belastend. Rettungsdienst – das ist ein ständiges Öffnen verschlossener Türen. Und niemand weiß vorher, was einen dahinter erwartet. (...) Welcher Abgrund tut sich diesmal auf?“

Der nicht gesunde Umgang mit den Erlebnissen ist es letztlich, der Kim in eine psychische Ausnahmesituation bringt. An vielen kleinen Punkten wird klar, wie er seine Arbeit nicht mehr kompetent bewältigt und dadurch zu einer realen Gefahr wird. Aber es dauert, bis er sich das eingestehen kann. Die Schilderung seines Belastungssyndroms ist der eigentliche Punkt des Romans.

Vielleicht hilft dieser Roman mit der Prominenz des Autors eine Debatte anzustoßen bzw. fortzuführen, was im Frühjahr eigentlich Dank Corona schon einmal ins öffentliche Bewusstsein gerückt war. Die Frage, wie wir als Gesellschaft mit den systemrelevanten, unterbezahlten und belastungsintensiven Jobs umgehen wollen, ist nämlich noch lange nicht geklärt.

Veröffentlicht am 07.09.2020

Ilija Trojanow - Doppelte Spur

Doppelte Spur
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Ein Journalist erhält zwei kryptische Emails kurz hintereinander. Man will ihm geheime Unterlagen zuspielen. Offenbar derselbe Absender, doch nachdem er sein Interesse bekundet hat, muss er feststellen, ...

Ein Journalist erhält zwei kryptische Emails kurz hintereinander. Man will ihm geheime Unterlagen zuspielen. Offenbar derselbe Absender, doch nachdem er sein Interesse bekundet hat, muss er feststellen, dass ihm zeitgleich ein amerikanischer und ein russischer Whistleblower Informationen zukommen lassen. So unterschiedlich das Material auch ist, bald schon lassen sich Verbindungen ziehen, die schlimmste Befürchtungen zu untermauern scheinen: noch viel tiefer als bislang geglaubt scheinen die Präsidenten der beiden Länder in Korruption und illegale Verstrickungen verwickelt zu sein.

Ilija Trojanow greift in seinem aktuellen Roman Themen auf, die seit Jahren die Schlagzeilen dominieren: Verstrickungen Trumps mit Moskau, sein manipulierter Wahlkampf 2016, die Affäre um Jeffrey Epstein, verdächtige Geldflüsse mit zweifelhafter Rolle auch deutscher Großbanken. Man hat den Eindruck als sei das Ende des Kalten Kriegs nur eine Randnotiz der Geschichte gewesen und die Welt heute von einer Allianz aus FBI, KGB, Oligarchen und dubiosen Investoren regiert. Nicht nur lenken diese das Weltgeschehen und den internationalen Geldfluss, viel wichtiger noch: sie steuern Kommunikation und Information und entscheiden darüber, was vermeintlich wahr ist bzw. welche Variante von Wahrheit der Öffentlichkeit präsentiert und von dieser geglaubt werden soll.

„Der [Anm: der Präsident der USA] malt jede schwarze Katze rosarot. Es ist kein Betrug, wenn man nicht erwischt wird. Das interpretiert er wortwörtlich. Auch im ethischen Sinn. Wenn du nicht erwischt wirst, bist du unschuldig. (...) Da alle bescheißen, darf jeder bescheißen. Wer’s nicht tut, ist ein Trottel, schlimmer noch, ein Verlierer.“

Die Grenze zwischen Realität und Fiktion ist fließend, gerade das Ende wirft weitere Fragen auf: der fiktive Journalist Ilija Trojanow flüchtet und versteckt sich, da er um sein Leben fürchtet. Legt er letztlich nur das schützende Mäntelchen der vermeintlichen Fiktion über das, was eigentlich wahr ist? Der Roman könnte ebenso ein Enthüllungsbuch sein. Vielleicht ist es aber auch nur die richtige Antwort auf all jene, denen mit Fakten und Tatsachen nicht beizukommen ist, die lieber an Fiktionen glauben und denen durch diese wiederum die Augen geöffnet werden sollen.

„Doppelte Spur“ ist ein doppeltes Spiel in jeder Hinsicht. Das Buch liest sich gerade in der ersten Hälfte nicht wirklich wie ein Roman, zu viele Fakten werden aneinandergereiht, um eine Grundlage für die Deutung zu schaffen. Es passt jedoch perfekt in eine Zeit, in der Fake News neben echten Nachrichten publiziert werden und jede Schlagzeile zugleich wahrgenommen wird als „könnte wahr sein – oder eben auch nicht“. Nach dem Lesen hegt man jedenfalls nicht weniger Zweifel an dem, was einem tagtäglich präsentiert wird.

Veröffentlicht am 05.09.2020

Valerie Fritsch - Herzklappen von Johnson & Johnson

Herzklappen von Johnson & Johnson
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Alma wächst in einer Familie des Schweigens auf. Das Leben der Eltern scheint nur hinter verschlossenen Türen vorzukommen, das Zuhause insgesamt erweckte mehr den Anschein einer Kulisse, vor der Leben ...

Alma wächst in einer Familie des Schweigens auf. Das Leben der Eltern scheint nur hinter verschlossenen Türen vorzukommen, das Zuhause insgesamt erweckte mehr den Anschein einer Kulisse, vor der Leben eher simuliert wurde als dass es tatsächlich stattfindet. Die verrückte Mutter, die mondsüchtig des nächtens aus dem kontrollierten Alltag ausbricht, fasziniert das Mädchen, bringt dies wenigstens ein wenig Bewegung in den ansonsten stillen und nüchternen Alltag. Dieser wird auch von den Großeltern bestimmt, denen die Kriegserfahrung nicht nur in den Knochen steckt, sondern die diese regelrecht auf die Enkelin übertragen, die die Erfahrungen der älteren Generation in Alpträumen nacherlebt. Mit Friedrich erlebt sie schließlich die alles aufzehrende Liebe, Emotionen, die sie zuvor nicht kannte. Die Geburt des gemeinsamen Sohnes Emil jedoch stürzt sie zurück in eine abgeriegelte Welt, deren Grauen vor allem in ihrem Kopf stattfindet. Doch auch mit Emil stimmt etwas nicht, es dauert einige Jahre, bis das Ergebnis der Ärzte feststeht: Emil kann keinen Schmerz empfinden.

Valerie Fritsch wurde für ihren Roman mit einer Nominierung auf der Longlist zum Deutschen Buchpreis 2020 honoriert. Es ist die Geschichte vierer Generationen, die durch Alma verbunden und im Schmerz vereint sind. Die Großeltern, die die schmerzlichen Kriegserfahrungen nicht überwinden konnten und versuchten, durch eigenes Schweigen die Stimmen und Bilder im Kopf mundtot zu machen. Die Eltern, die nur hinter Türen reden, aber nicht mit dem Kind. Alma selbst, für die Schweigen und Schmerz identisch werden und die beides überwinden möchte bis zu Emil, der laut, geradezu vorlaut ist und durch das fehlende Schmerzempfinden das gegenteilige Extrem darstellt.

Die grausamen Kriegserlebnisse haben den Großvater gebrochen, so sehr, dass sein Herz es nicht mehr ertragen konnte und nur noch von metallenen Klappen der Firma Johnson&Johnson am Laufen gehalten wird. So wie er innerlich beschädigt wurde, trägt sein Urenkel permanent äußerliche Bandagen als Zeichen der unzähligen Verletzungen, die dem Körper schaden, von ihm aber nicht wahrgenommen werden. Immer wieder spiegelt die Autorin die Figuren an den zentralen Elementen Schmerz und körperlicher Verletzung. Und gerade in den Sprachbildern wird der Roman herausragend, so schreibt sie etwa Alma

„wünschte sich eine Ersatzpsyche, die die Welt besser ertrug, eine Identitätsprothese, die ihr einen sicheren Schritt durch die Tage ermöglichte.“

Die unterschiedlichen Traumata schreiben sich in die Körper ein, bleiben dort als sichtbare Wunden, die sich nicht einfach kosmetisch übertünchen lassen.

Ein bildgewaltiger Roman, der dicht auf wenigen Seiten doch unheimlich viel und dies noch dazu sehr intensiv transportiert. Kein Roman, der mich emotional völlig mitgerissen hätte, sondern eher einer der Sorte, die durch Konstruktion und Sprache am Ende nachwirken und einen bleibenden Eindruck hinterlassen.

Veröffentlicht am 27.08.2020

Anders Roslund - Geburtstagskind

Geburtstagskind (Ewert Grens ermittelt 1)
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Siebzehn Jahre ist es her, dass ein unglaublicher Mord an einer Familie Kommissar Ewert Grens beschäftigte. Alle außer der kleinen Zana wurden hingerichtet und diese saß drei Tage neben den Leichen und ...

Siebzehn Jahre ist es her, dass ein unglaublicher Mord an einer Familie Kommissar Ewert Grens beschäftigte. Alle außer der kleinen Zana wurden hingerichtet und diese saß drei Tage neben den Leichen und der Torte zu ihrem 5. Geburtstag. Jetzt kommt es in Stockholm wieder zu Morden nach demselben Muster, sind die Täter etwa zurückgekehrt? Grens muss Zana schützen, die inzwischen unter einer neuen Identität lebt. Auch der Undercover Agent Piet Hoffmann ist besorgt, nach Jahren der Ruhe muss er mit seiner Familie wieder untertauchen, wenn er überleben will. Die beiden Männer kämpfen gegen einen unbekannten Feind, der sowohl das Milieu wie auch die Polizei unterwandert zu haben scheint.

Anders Roslund ist zusammen mit Börge Hellström und ihrer Serie um Grens und Hoffmann („3 Sekunden“, „3 Minuten“ und „3 Stunden“) bekannt und inzwischen mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet worden. Sein erster Solo-Titel setzt die Reihe fort und überzeugt durch eine rasante Handlung und eine komplexe Geschichte, die den Leser lange rätseln lässt, wer hinter den Kulissen die Fäden zieht.

Die beiden Handlungsstränge um die Kriminalpolizei einerseits und den mehr oder weniger einsamen V-Man, der seine Familie beschützen will, verlaufen parallel. Dass sie zusammenhängen, wird schnell klar, die Frage bleibt jedoch: wie? Es entfaltet sich eine spannende Geschichte, die von zwei ungewöhnlichen Figuren dominiert werden, die einerseits typische Alleingänger sind und nur schwer Vertrauen fassen, andererseits aber auch wissen, dass sich manche Probleme eben nicht im Alleingang lösen lassen.

Ein routiniert erzählter Krimi mit viel Spannung und interessanten Verstrickungen, der aber vor allem durch die psychologischen Komponenten überzeugt.