Das Buch liest sich wirklich gut und schnell, auch wenn ich zu den Figuren keine richtige Bindung aufbauen konnte. Verschiedene persische Wörter werden geschickt in den Text eingebunden und in einem der ...
Das Buch liest sich wirklich gut und schnell, auch wenn ich zu den Figuren keine richtige Bindung aufbauen konnte. Verschiedene persische Wörter werden geschickt in den Text eingebunden und in einem der nächsten Kapitel übersetzt. Das alles passiert sprachlich total elegant und organisch im Laufe der Handlung. Die Geschichte bekommt am Ende einen derartigen Twist, dass es sich eigentlich lohnen würde, das Buch mit dem Wissen gleich nochmal von vorn zu lesen. Ich denke, ich hätte mir für die Charaktere noch etwas mehr Glück/Liebe gewünscht, andererseits soll es vielleicht auch einfach nicht darum gehen, sondern um die Komplexität des Lebens der Protagonistin als Deutsch-Iranerin.
Für den zweiten Roman von Bettina Wilpert habe ich etwas mehr Zeit als beim ersten gebraucht, um reinzukommen. Nach dem ersten Drittel entwickelten die drei Handlungsstränge aber einen Sog. Die Autorin ...
Für den zweiten Roman von Bettina Wilpert habe ich etwas mehr Zeit als beim ersten gebraucht, um reinzukommen. Nach dem ersten Drittel entwickelten die drei Handlungsstränge aber einen Sog. Die Autorin arbeitet wie schon bei ihrem ersten Buch ohne direkte Rede. Das ist für mich anfangs immer etwas gewöhnungsbedürftig, macht den Schreibstil aber auch besonders und rasanter. Die Geschichten der drei Figuren, besonders die aus der NS- bzw. DDR-Zeit, sind bedrückend, aber wichtig. Kein Wohlfühlbuch, dafür eines, das mir widerständige Geschichte und Einblicke in die beiden Regimes in Romanform gewährt hat.
[Disclaimer: Ich distanziere mich ausdrücklich von den antisemitischen Positionen, welche die Autorin seit dem 7. Oktober 2023 in der Öffentlichkeit recht präsent einnimmt. In diesem Essay bekommen sie ...
[Disclaimer: Ich distanziere mich ausdrücklich von den antisemitischen Positionen, welche die Autorin seit dem 7. Oktober 2023 in der Öffentlichkeit recht präsent einnimmt. In diesem Essay bekommen sie keinen Raum, deshalb beeinflussen sie meine Rezension nicht. Ich glaube aber, dass zu "Lieben" auch dazugehört, Handlungen von Menschen (hier konkret Regierungen) zu kritisieren, ohne in eine einseitige Dämonisierung abzugleiten.]
Ich habe bereits Emilia Roigs Buch "Das Ende der Ehe" gelesen und gemocht, weshalb mir einige der Gedankengänge dieses Essays bereits bekannt waren. Gerade mit einer gewissen antikapitalistischen/antirassistischen/feministischen Vorprägung sind viele Ausführungen nichts Neues und bilden so vielmehr einen Ausgangspunkt für eine tiefergehende Beschäftigung mit einzelnen Themenbereichen.
Der Essay ist zwar an vielen Stellen anekdotisch, blieb für mich aber emotional doch eher an der Oberfläche und wurde vor allem zu Beginn von recht vielen Referenzen begleitet - da hätten es für mich ein paar weniger sein dürfen. Die Gedanken der Autorin rund um die Hierarchisierung verschiedener Beziehungsformen und damit verschiedener Arten zu lieben waren mir größtenteils bekannt, aber trotzdem interessant. Vor allem das recht umfängliche Kapitel zu Freund*innenschaften hat mir sehr gut gefallen, da es hier auch konkrete Beispiele freundschaftlicher Verbindung gab, die auf mich immer sehr heilsam wirken. Romantische Liebe bekommt weniger Raum, was für mich aber angesichts des Übermaßes an Literatur in diesem Feld völlig gerechtfertigt war.
Die zweite Buchhälfte widmet sich einem viel größeren Thema, nämlich der Positionierung des Menschen innerhalb der Natur und des Kosmos. Die Gedanken zu Speziesismus fand ich sehr gut und unbedingt notwendig in einem Buch über das Lieben. Denn ich glaube fest daran, dass wir einen großen liebenden Teil in uns wegsperren, wenn wir nicht-menschliche Tiere und die Natur beherrschen und ausbeuten wollen. Manche Schilderungen, wie etwa ihre Reiterfahrung, passen in eine antispeziesistische Betrachtung der Welt allerdings nur bedingt. Das letzte Kapitel ist ziemlich spirituell, womit ich persönlich nicht viel anfangen kann. Doch die Autorin hat hier einen Ton getroffen, der mich den Abschnitt hat wertfrei lesen lassen - es ist ein Teil ihrer Lebenserfahrung und auch nicht mehr als das. Ich muss es nicht nachvollziehen können, um es zu respektieren.
Die Verbindungen zum übergeordneten Thema "Lieben" fiel schon manchmal recht abstrakt aus. Ich habe es nicht so extrem mit einer Erwartung gelesen, kann eine gewisse Enttäuschung an der Stelle aber nachvollziehen. Für mich war nicht viel neu, einiges trotzdem heilsam und manches zu fern, als dass ich dazu großartige Empfindungen hätte haben können. Eventuell ist das Thema für ein 120 Seiten langes Essay schlicht ein wenig zu komplex und die Autorin schien einen hohen Anspruch an die Vielfalt der angesprochenen Bereiche gehabt zu haben, was das Buch auch nicht unbedingt zu einer leichten Lektüre macht.
Ich empfehle es eher als anspruchsvollen Anstoß für Menschen, die sich in den Bereichen Antikapitalismus, Antikolonialismus und Feminismus trotzdem schon etwas auskennen. Für mich nicht überragend, aber auch nicht schlecht.
Ich mochte „Identitti“ richtig gerne und habe Einiges an Polarisierungspotential auch in Mithu Sanyals neuem Roman gefunden. Das Buch ist wirklich komplex, oft verwirrend und trotzdem witzig, weshalb ich ...
Ich mochte „Identitti“ richtig gerne und habe Einiges an Polarisierungspotential auch in Mithu Sanyals neuem Roman gefunden. Das Buch ist wirklich komplex, oft verwirrend und trotzdem witzig, weshalb ich in meinem Urteil sehr ambivalent bin. 🥴
Wirklich sicher bin ich mir darin, dass dies ein Roman für wiederholtes Lesen ist. Sanyal hat hier offensichtlich ein Recherche-Mammutprojekt bewältigt, so dicht ist das Werk. Beim ersten Lesen konnte ich unmöglich auch nur annähernd alles erfassen, was hier an Auseinandersetzung mit Identität und Kolonialisierung drin steckt. Ich habe zwar Einiges über den indischen Befreiungskampf gelernt und fand die Debatte rund um bewaffneten/unbewaffneten Widerstand sowie das Auftreten so vieler realer Figuren mit ihren diversen Positionen bereichernd. Doch hat mich die Fülle auch wirklich überfordert und ich hatte irgendwann Schwierigkeiten, der Handlung noch folgen zu können.
Die Zeitreise und Verblendung der beiden Figuren Sanjeev und Durga hat die Geschichte zwar innovativ, aber für mich auch deutlich schwerer lesbar gemacht. Ich habe mir deshalb Unterstützung vom Hörbuch geholt (Kompliment an der Stelle an die Hörbuchsprecherin! ❤️), welches die Figuren durch Stimmvarianz für mich deutlicher unterscheidbar gemacht hat. Parallel gelesen habe ich aber trotzdem, denn die vielen indischen Namen haben das Verständnis erschwert - und hier liegt gleichzeitig auch eine so deutliche Gesellschafts-/Literaturkritik: Warum kennen wir in der westlichen Literaturwelt so wenige Figuren mit indischen Namen?
Ich finde es herausragend, wie die Autorin es erneut schafft, gesellschaftspolitische Themen nicht nur innerhalb des Buches abzuhandeln, sondern damit einen Bogen zu schlagen zur lesenden Person selbst. Sicherlich kann „Antichristie“ nicht gelesen werden, ohne sich mindestens 35 Fragen zur eigenen Positionierung zu stellen. Dabei verfällt die Autorin nicht in vereinfachende Dogmen, was ich sehr schätze und auf positive Art herausfordernd finde.
Thematisch ist zwar nicht zwangsläufig Vorwissen vonnöten, ich habe aber schon gemerkt, dass auf Dauer zu viele mir unbekannte popkulturelle oder historische Referenzen drin waren. Selbst wenn diese zum Verständnis nicht wichtig sind, sorgt so etwas bei mir immer für Irritationsmomente und somit für einen gestörten Lesefluss. So spannend ich die Debatten rund um Intersektionalität, Aufarbeitung, Identität und historische Verantwortung in der Gegenwartsebene auch fand, so war mir das in der Gänze doch schlicht zu viel. Und den Krimi-Aspekt mit prominentem Gastauftritt fand ich zwar irgendwie fesselnd, aber mit allem anderen zusammen auch wieder… zu viel.
Für mehr als 3 Sterne war es mir persönlich also einfach zu chaotisch, sodass manche Themen im Zeitreisen-Trubel untergegangen sind. Trotzdem empfehle ich das Buch allen, die Sanyals Humor mögen und sich nicht vor dichten, philosophischen Werken scheuen, welche mit Aufmerksamkeit und ggf. mehrfach gelesen werden sollten.
Das neue Buch von Caroline Rosales lässt mich für meine Rezension ebenso vor einer Herausforderung stehen wie der Vorgänger. Obwohl ich den Lesefluss wieder sehr gut fand, waren die Figuren auch hier vor ...
Das neue Buch von Caroline Rosales lässt mich für meine Rezension ebenso vor einer Herausforderung stehen wie der Vorgänger. Obwohl ich den Lesefluss wieder sehr gut fand, waren die Figuren auch hier vor allem unausstehlich und boten nicht viel Identifikationspotenzial für mich. Das finde ich nicht zwangsläufig negativ, nur herausfordernd. Den Ausflug in die Schlagerwelt fand ich sehr interessant ebenso wie den #MeToo-Aufhänger, der mich enorm wütend gemacht hat. Dass der Aufhänger dann später gar nicht mehr so wirklich eine Rolle gespielt hat, fand ich ziemlich schade.
Jennifer ist als Tochter der Schlagergröße Bernd Boyard und als Geschäftsführerin seines Musiklabels in einem interessanten Spannungsfeld, das mich durchaus gereizt hat. Ergänzt um den Aspekt, dass er nach der Trennung ihrer Eltern ihr einziger Bezugspunkt war, schlägt sie sich zunächst auf seine Seite, als er mit Vergewaltigungsvorwürfen konfrontiert wird. Ihr Wanken, ihre Erinnerungen und ihr Infrage-Stellen fand ich extrem aufreibend, aber nachvollziehbar. Bernd und auch Jennifers Mann Max sind neben fast allen anderen Figuren richtige Ekel (und das ist noch moderat ausgedrückt). Ich habe sie leidenschaftlich gehasst, was nicht unbedingt etwas Schlechtes sein muss.
Für mich fehlte es aber an weiteren ambivalenten Figuren. Andere Frauen finden in dem Buch kaum statt und wenn doch, bleiben sie meiner Meinung nach eher flach. Auch eine weitere präsente Männerfigur, die sich nicht wie ein manipulatives A****loch aufführt, hätte dem Buch gut getan. Oder solidarische Frauen. Die gibt es zwar, aber sie bleiben so sehr am Rand, dass ich sie kaum wahrgenommen habe. Auch gestört hat mich, dass zwischendrin die Erzählperspektive auf eine für mich sehr unklare Weise plötzlich wechselt.
Mir geht es nicht darum, dass es hier ein Happy End mit Befreiungsschlag hätte geben müssen. Ich bin fein mit Büchern, die einfach bedrückend sind, weil die Realität nun einmal ein strukturell misogynes System ist, dessen Wirkweisen wir alle internalisiert haben. Das führt natürlich auch regelmäßig zu Täterschutz und dies literarisch abzubilden, finde ich völlig okay. Die Wut darüber kann uns ja auch antreiben. Doch besonders im letzten Drittel wurde es mir einfach zu abgedreht. Was mit Jennifer komplett unwidersprochen gemacht wird, halte ich für nicht realistisch und deshalb hat mich der Roman dann leider sehr verloren. Ich hatte den Eindruck, dass hier noch schnell so viele sexistische Ungerechtigkeitsaspekte wie möglich abgehandelt werden sollten, wodurch es mir leider zu repetitiv und oberflächlich blieb.
Wie ich es bei einigen anderen verstanden habe, sollte abgebildet werden, dass viele Frauen eben in ihren schrecklichen Verhältnissen verharren, oft für ihre Kinder. Und das kann ich nachvollziehen, finde aber nicht, dass das Buch diese Realität gut transportieren konnte. Denn in Jennifers Fall kommen da noch so viele recht spezifische Lebensumstände dazu, hinter denen die grundlegende Aussage, die ja sicher ein enorm hohes Identifikationspotenzial bietet, meines Erachtens verschwindet. Und das ist deshalb so schade, weil ich mich dann auch nicht durch meine empfundene Wut angetrieben fühle, etwas zu verändern, da ich viel zu verwirrt zurückbleibe.
Ich vergebe trotz meiner Frustration ob des letzten Drittels 3 Sterne, weil die grundlegenden Themen rund um strukturelle Misogynie, rape culture und die fehlende Gleichberechtigung vor allem bei Müttern wichtig sind. Außerdem schaffte es Caroline Rosales über weite Strecken, mich trotz oder wegen der absolut schrecklichen Charaktere zu fesseln. Ich finde es ziemlich schwer zu sagen, für wen ich das Buch empfehlen würde. Definitiv ist es gesellschaftskritisch, wenn ich auch den Umgang mit sehr wohlhabenden Menschen viel zu unkritisch fand. Und auf jeden Fall ist es auch ernüchternd, dystopisch und macht wütend. Vielleicht kann es Personen mehr ansprechen, die sich in Bezug auf Abhängigkeiten (besonders im Feld Mutterschaft) gesehen fühlen wollen.
P.S.: Für das Buch hätte ich mir dringend (!) Triggerwarnungen gewünscht.