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Veröffentlicht am 22.08.2023

Vielschichtige Betrachtung

Hemingways Kind
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Wie der Titel schon vermuten lässt, geht es um ein Kind des Autors Ernest Hemingway. Genauer gesagt um sein jüngstes Kind. Geboren als Gregory Hemingway, versucht er zeitlebens seinem Vater zu imponieren, ...

Wie der Titel schon vermuten lässt, geht es um ein Kind des Autors Ernest Hemingway. Genauer gesagt um sein jüngstes Kind. Geboren als Gregory Hemingway, versucht er zeitlebens seinem Vater zu imponieren, leidet unter seiner Bekanntheit und auch unter der Familiengeschichte, die gespickt ist von depressiven Erkrankungen und Suizid. Schon früh merkt Greg, dass er einen starken Drang dazu verspürt Frauenkleidern zu tragen, lange versucht er diesem zu widerstehen und lässt sich auf Grund dessen, sowie auf Grund von immer wiederkehrenden depressiven und manischen Phasen, jahrelang mit Elektroschocks behandeln. Er will gefallen, er will nicht anders sein, er verurteilt trans Personen aufs schärfste, bis er sich im Alter von 60 Jahren einer Transition unterzieht. Fortan lebt sie meist unter dem Namen Gloria, benutzt aber auch andere Frauennamen und ab und zu auch noch Greg.
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Gleich zu Anfang möchte ich erwähnen: Es handelt sich nicht um eine Biographie. Die Erzählung ist laut Aussage des Autors fiktional, lehnt sich aber am Leben von Greg/Gloria Hemingway an. Schaut man sich dieses Leben an, wird schnell klar: Es war kein Einfaches. Geprägt von Depressionen und Manie, verfällt er/sie immer wieder dem Alkohol, es kommt zu wiederholten Zusammentreffen mit der Polizei, Autorität ist nur schwer hinnehmbar. Vor allem sein/ihr Verlangen zeitweise als Frau aufzutreten, machen es schwierig ein glückliches Leben zu führen, da immer wieder Selbstvorwürfe, -hass und -zweifel vorherrschen. Bis zuletzt ist sich Greg/Gloria nicht sicher, ob sie/er eher Mann oder Frau ist, auf die Frage des Sohnes, wie er/sie fortan angesprochen werden will, antwortet er/sie, dass dies jeden Tag anders ist. Heute würde er/sie sich wahrscheinlich als non-binary bezeichnen, aber zu der damaligen Zeit gab es einfach keinen Begriff.
Russell Franklin hat dies zweifelsohne brilliant eingefangen. Nicht nur Greg’s/Gloria‘s innere Zerissenheit ist toll dargestellt, auch die Familiengeschichte wurde intensiv beleuchtet. Es wird schnell bewusst, dass diese ganzen Strukturen mehr als toxisch sind. Der Vater als großes Vorbild, dem man es nie recht machen kann, der aber auf der anderen Seite auch mit seinen Dämonen zu kämpfen hat. Die lieblose Mutter, die von Kindern eher genervt war und nicht viel mit ihnen anfangen konnte und ihr Leben lang darauf hofft, dass ihr Mann zu ihr zurück kehrt. Der Großvater (später auch der Vater, Onkel und Cousine), allesamt wählen den Freitod, um dem Leben zu entkommen.
Das Buch erzählt das Leben von etwa dem 10 Lebensjahr bis zum Tod. Dabei verläuft die Erzählung nicht linear, vielmehr wird wild zwischen verschiedenen Jahren hin und her gesprungen. Dies fand ich anfangs gewöhnungsbedürftig, nach dem ich aber angefangen habe die Jahreszahlen mit dem Alter zu ersetzen, ging es ganz gut. Dieses Vorgehen sorgt außerdem dafür, dass ein Spannungsbogen aufrecht erhalten wird. Zumindest mit ging es so, dass ich immer wissen wollte, wie es mit Greg/Gloria weiter geht, aber auch die Rückblicke in die Kindheit toll fand, erklären sie doch so einiges. Der tolle Schreibstil, der sich angenehm lesen lässt, tut sein übriges.
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Ein wirklich tolles Buch und eine große Empfehlung von mir.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 21.08.2023

Eine Geschichte des Scheiterns

Nichts in den Pflanzen
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Leila ist jung, hat gerade einen Vertrag als Drehbuchautorin bekommen, feiert gern, hat einen lieben Freund… eigentlich könnte sie ein tolles, unbeschwertes Leben führen. Aber sie steckt in einer Schreibblockade, ...

Leila ist jung, hat gerade einen Vertrag als Drehbuchautorin bekommen, feiert gern, hat einen lieben Freund… eigentlich könnte sie ein tolles, unbeschwertes Leben führen. Aber sie steckt in einer Schreibblockade, kann sich zu nichts aufraffen, betrügt und belügt ihren Freund, ist ganz allgemein nicht gerade nett. Während alle um sie herum ihr Leben im Griff haben, sich weiterentwickeln und Ziele verfolgen, rutscht sie immer mehr ab, trinkt zu viel, macht nur noch Party, setzt ihren Traum in den Sand.
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Nora Haddada hat mit ihrer Protagonistin eine absolute Antiheldin erschaffen. Leila zu mögen fällt unheimlich schwer. Es ist nicht so, dass ich es nicht gewollt oder probiert hätte, aber sie ist halt unglaublich gemein. Ob dies nun an ihrer Schreibblockade liegt oder ob sie einfach immer so ist, lässt sich schwer beurteilen, aber am Ende macht dies keinen Unterschied. Nur weil etwas im Leben nicht wie gewollt läuft, kann man nicht alle anderen schlecht behandeln.

„Verliebtheit ist ein merkwürdiger Zustand, den man gezielt und selbstwirksam anleiert, um schließlich trotzdem überrascht zu sein, wenn er mit voller Wucht über einen hinwegfegt und das ohnehin mittelmäßige Wahrnehmungsspektrum des Menschen auf genau einen Teil reduziert.“ (S. 43)

Anfangs bekommt man den Eindruck, dass sie wirklich auf Grund ihres Verliebtseins, falsche Prioritäten setzt, mit der Zeit hat man aber einfach das Gefühl, dass sie faul ist, dass sie mit sich so unzufrieden ist und dafür alle in ihrem Umfeld büßen müssen.
Jedes Mal wenn sie sich an das Drehbuch setzen will, tauchen kleine schwarze Fliegen auf, die sich auf dem Bildschirm niederlassen und sie vom arbeiten abhalten. Sie weiß nicht, wo sie herkommen, mit fortschreitender Zeit werden es immer mehr, nur eins steht fest: es ist „nichts in den Pflanzen“. Ich denke zu erwähnen, dass ich diese Fliegen für reine Einbildung halte, ist nicht nötig. Eher sehe ich darin eine Metapher für das immer größer werdende schwarze Loch in ihr. Sie wirkt mal manisch, mal depressiv, ab und an auch paranoid.
Schaut man sich das große Ganze an, ergibt sich eine Erzählung über das Scheitern, eine Geschichte über die Zustände und das Konkurrenzdenken in der Filmindustrie, ein Buch über eine junge Frau, die ihren Platz im Leben noch nicht gefunden hat und wie ich denke, dringend Hilfe bräuchte.
Sprachlich konnte mich das Buch absolut überzeugen. Haddada‘s Schreibstil ist toll, locker und leicht, fliegt man nur so durch die Seiten. Bei der Story bin ich mir nicht sicher. Es mag an meiner Abneigung gegenüber Leila liegen, oder auch an der Tatsache, dass einfach vieles ungeklärt bleibt, aber so richtig mitreißen konnte mich die Geschichte nicht.
Nichtsdestotrotz ist es ein gutes Buch, welches schon auf Grund der Sprache lesenswert ist. Sicher werden es sehr viele sehr gern mögen.

Veröffentlicht am 15.08.2023

Solides Debüt das teilweise zu viel wollte

Die Bücherjägerin
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Sarah hat in jungen Jahren ihre Eltern verloren und wächst zusammen mit ihrer Schwester Milena bei ihrer Tabte Amalia auf. Amalia ist Restauratorin und Sammlerin, handelt mit Antiquitäten, und auch Sarah ...

Sarah hat in jungen Jahren ihre Eltern verloren und wächst zusammen mit ihrer Schwester Milena bei ihrer Tabte Amalia auf. Amalia ist Restauratorin und Sammlerin, handelt mit Antiquitäten, und auch Sarah steigt und das Geschäft ein. Sie kann mit Menschen nicht viel anfangen, da sie Probleme hat die Gefühle anderer zu interpretieren. Daher lebt sie in ihren Büchern, erfährt die Welt durch das gelesene Wort.
Als Amalia stirbt steht erstmal alles Kopf. Die Firma kurz vor dem Ruin, ein heilloses Durcheinander und dann taucht auch noch Ben, ein Bibliothekar aus London, auf und fragt nach einer alten Karte, der Amalia auf der Spur war.
Anfangs überfordert mit der Situation entscheidet sich Sarah, Ben bei der Suche zu helfen und die beiden hangeln sich an den mauen Informationen lang, die Amalia hinterlassen hat.
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Ich bin etwas zwiegespalten was das Buch angeht.
Auf der einen Seite ist es toll geschrieben und liest sich in einem Ruck weg. Vor allem die Beschreibungen der alten Villa, vollgestopft mit alten Büchern, Karten und Antiquitäten haben mir wirklich gut gefallen und lassen das Herz von Bücherliebhaber*innen höher schlagen, denn mal ehrlich: Wer will nicht in einem großen Haus mit wahnsinnig vielen Büchern leben?
Auch das Thema Neurodivergenz an Hand von der Protagonistin Sarah fand ich gut dargestellt und konnte ihr Verhalten an vielen Stellen nachvollziehen. Wie dabei Ben mit ihr interagiert und ganz von sich aus richtig handelt und ihr Hilfestellungen gibt, fand ich süß und passend für die Geschichte. Auch Amalias Umgang damit fand ich hervorragend: „𝘌𝘴 𝘪𝘴𝘵 𝘰𝘬𝘢𝘺, 𝘴𝘪𝘤𝘩 𝘦𝘪𝘯𝘦 𝘞𝘦𝘪𝘭𝘦 𝘪𝘯 𝘉𝘶̈𝘤𝘩𝘦𝘳𝘯 𝘻𝘶 𝘷𝘦𝘳𝘴𝘵𝘦𝘤𝘬𝘦𝘯, 𝘸𝘦𝘯𝘯 𝘥𝘪𝘳 𝘥𝘪𝘦 𝘞𝘦𝘭𝘵 𝘻𝘶 𝘷𝘪𝘦𝘭 𝘸𝘪𝘳𝘥, 𝘮𝘦𝘪𝘯𝘦 𝘒𝘭𝘦𝘪𝘯𝘦. 𝘋𝘢𝘧𝘶̈𝘳 𝘴𝘪𝘯𝘥 𝘉𝘶̈𝘤𝘩𝘦𝘳 𝘥𝘢.“ (𝘚. 152)
Ebenfalls gut integriert waren die Themen Rassismus und Kolonialismus. Es wurde immer mal wieder eingebaut und hatte durchaus Bezug zur Handlung.
Auf der anderen Seite gab es Dinge, die ich nicht gut umgesetzt fand. Zum einen wäre da die gendergerechte Sprache. Die Autorin verwendet in einem wilden Mischmasch mehrere Formen. Mal das generische Maskulinum/Femininum, mal die Form mit BinnenI, mal Sternchen… Es wird zwar um Nachwort erklärt, warum dies so gemacht wurde (um die Diversität unserer Sprache hervorzuheben), beim Lesen ist es aber einfach nur verwirrend und m.E. auch nicht wirklich inklusiv.
Des Weiteren wurden Themen wie Feminismus und Geschlechtsidendität eingebaut, allerdings nicht wirklich in einem Zusammenhang zur Geschichte, sodass es doch sehr konstruiert wirkte und den Anschein machte, als wolle es unbedingt erwähnt werden. Ich steh wirklich auf solche Themen, finde es wichtig dass darüber gesprochen wird und auch, dass es auf natürliche Weise in Romane einflißt, hier war es mir aber einfach too much und nicht passend.
Auch sind mir verhältnismäßig viele Schreib- und Druckfehler ins Auge gesprungen, was den Lesefluss teilweise behindert hat und hoffentlich in der 2. Auflage behoben wird.
Ich glaub mein größtes Problem mit der Geschichte war aber, dass es sich für mich nicht hat einordnen lassen. Es ist ein bisschen Romanze, ein bisschen Abenteuerroman, ein bisschen Aufklärungsbuch, aber halt alles nur so ein bisschen.
Nichtsdestotrotz war es ein gutes Buch, was sich angenehm lesen lässt. Viele mögen es oder werden es mögen, daher macht euch wie immer gern selbst ein Bild.

Veröffentlicht am 15.08.2023

Wunderbar und einfühlsam

Kontur eines Lebens
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Frieda ist 81 und gerade Witwe geworden. Nie hätte sie damit gerechnet, dass ihr geliebter Louis vor ihr geht. Nun steht sie allein da, kann dir Aufgaben die ihr Mann bis dato erfüllt hat nicht selbst ...

Frieda ist 81 und gerade Witwe geworden. Nie hätte sie damit gerechnet, dass ihr geliebter Louis vor ihr geht. Nun steht sie allein da, kann dir Aufgaben die ihr Mann bis dato erfüllt hat nicht selbst wahrnehmen und so zieht sie ins Altersheim.
Aber nicht nur die neue Umgebung macht ihr zu schaffen, auch jahrzehntelang verdrängte Erinnerungen treten zu Tage und machen ihr das Leben schwer.
In jungen Jahren war sie schwanger, durfte sich aber nie um ihr Kind kümmern. Auch den Vater hat sie nie wieder gesehen und es lässt ihr keine Ruhe, sodass sie sich, mit Hilfe ihres Sohnes, auf die Suche macht.
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Jaap Robben geht auf sehr einfühlsame Weise auf ein Thema ein, dass wenig bekannt ist und lange totgeschwiegen wurde. Es geht um den Umgang mit Totgeburten in der Nachkriegszeit. Auch Schwangerschaften außerhalb einer Ehe und Mütterheime werden beleuchtet und es ist ein ums andere Mal unfassbar so etwas zu lesen.
Dies alles wird auf wunderbare Weise an der Geschichte von Frieda erzählt, die wir auf zwei Zeitstrahlen verfolgen. Friedas Geschichte ist nur eine von vielen, zeigt aber das Schicksal vieler junger Mütter der damaligen Zeit auf.
Schwanger von einem verheirateten Mann, streng katholisch erzogen, kommt es für Friedas Eltern natürlich nicht in Frage das Kind zu behalten, obwohl Frieda dies gern möchte. Erst wird sie zu einem Abbruch gedrängt, als es dafür zu spät ist, soll sie in einem Mütterheim entbinden und das Kind zur Adoption freigeben.
Schaut man sich die Geschichte der Mütterheime an, schaut man auf Grauen und die absolute Entmündigung von Frauen. Viele wurden dort hingeschickt, schon Monate vor der Geburt um die Schwangerschaft zu verheimlichen, mussten dort arbeiten, später entbinden und haben nie erfahren, was aus dem Kind geworden ist. Es gab keinerlei Mitspracherecht oder gar die Möglichkeit sich für das Kind zu entscheiden. Viele dieser Heime liefen unter Schirmherrschaft der Kirche, wurden von Nonnen geführt, hatten mit Nächstenliebe aber sehr wenig zu tun.
Frieda verlässt daraufhin ihr zu Hause und versucht sich mit Ottos Hilfe selbst durchzuschlagen, trifft aber auf immer mehr Probleme. Als ledige Frau, noch dazu schwanger findet sie nirgends eine Unterkunft. Sie verliert ihre Arbeit, da ihr Chef befürchtet, das ihr „Zustand“ seinem Geschäft schadet. Als sie endlich eine Wohnung findet, herrschen dort so miserable Zustände, dass sie letztendlich ihr Kind verliert. Nur die Füße bekommt sie zu Gesicht, bevor es weggebracht wird, niemand erzählt ihr was los ist und als sie im Krankenhaus versucht Antworten zu bekommen, wird ihr geraten zu vergessen, da sie sonst in eine Psychatrie eingeliefert wird. Und genau dies tut sie… Sie verdrängt die Erlebnisse, baut sich ein neues Leben auf, heiratet, bekommt einen Sohn. Aber wie das mit Traumata so ist… irgendwann kommen sie wieder.
Die Tatsache, dass Sternenkinder damals anonym, meist in irgendwelchen hinteren Ecken von Friedhöfen begraben wurden, ohne dass die Eltern davon wussten, ist mehr als grausam. Ein Abschied wird verweigert und damit auch die Möglichkeit damit abschließen und es verarbeiten zu können. Viele sind daran zerbrochen, wurde in psychiatrische Einrichtungen abgeschoben, haben sich ein Leben lang nicht davon erholt.
Wenn ich solche Geschichten lese, fällt es mir tatsächlich immer sehr schwer zu begreifen, dass wir uns hier nicht im Mittelalter befinden, sondern gerade mal 60 Jahte in die Vergangenheit blicken. In eine Vergangenheit, in der Frauen keinerlei Rechte an ihrem Körper hatten, als sie als nicht mündige Personen behandelt wurden, als sie ohne Mann nichts wert waren, keine Arbeiten und keinen Wohnraum bekommen haben. Und so ist dieser fiktive Roman nicht nur ein Blick in die Geschichte und Freude darüber, was bis dato in Hinblick auf Frauenrechte geschafft wurde, sondern auch ein Mahnmal in einer Zeit, in der sich vieles wieder rückständig anfühlt.
Die Protagonistin ist nicht immer nett, hat viele Ecken und Kanten, reagiert teilweise ungehalten, aber sie ist sehr authentisch. Mit Blick auf ihre Vergangenheit erschließt sich vieles im Verhalten und so mochte ich sie trotz allem unglaublich gern. Sie hatte mein vollstes Mitgefühl und auch meine Wut hinsichtlich der Ungerechtigkeit, der sie ausgesetzt war.
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Im Fazit eine riesengroße Empfehlung meinerseits.

Veröffentlicht am 10.08.2023

Trauer, Abschied und Selbstfindung

Die Wunde
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„𝘞𝘰𝘻𝘶 𝘣𝘦𝘴𝘤𝘩𝘳𝘦𝘪𝘣𝘦 𝘪𝘤𝘩 𝘭𝘢𝘯𝘨𝘴𝘢𝘮 𝘥𝘢𝘴 𝘚𝘵𝘦𝘳𝘣𝘦𝘯 𝘶𝘯𝘥 𝘥𝘦𝘯 𝘵𝘰𝘵𝘦𝘯 𝘒𝘰̈𝘳𝘱𝘦𝘳 𝘥𝘦𝘳 𝘦𝘪𝘨𝘦𝘯𝘦𝘯 𝘔𝘶𝘵𝘵𝘦𝘳? 𝘋𝘢𝘳𝘪𝘯 𝘭𝘪𝘦𝘨𝘦𝘯 𝘷𝘪𝘦𝘭 𝘚𝘤𝘩𝘮𝘦𝘳𝘻 𝘶𝘯𝘥 𝘥𝘦𝘳 𝘝𝘦𝘳𝘴𝘶𝘤𝘩, 𝘻𝘶 𝘷𝘦𝘳𝘴𝘵𝘦𝘩𝘦𝘯, 𝘥𝘪𝘦 𝘌𝘳𝘧𝘢𝘩𝘳𝘶𝘯𝘨 𝘢𝘶𝘴 𝘴𝘪𝘤𝘩 𝘩𝘦𝘳𝘢𝘶𝘴𝘻𝘶𝘴𝘤𝘩𝘳𝘦𝘪𝘣𝘦𝘯. 𝘈𝘣𝘦𝘳 𝘢𝘶𝘤𝘩 𝘦𝘪𝘯𝘦 𝘨𝘦𝘸𝘪𝘴𝘴𝘦 ...

„𝘞𝘰𝘻𝘶 𝘣𝘦𝘴𝘤𝘩𝘳𝘦𝘪𝘣𝘦 𝘪𝘤𝘩 𝘭𝘢𝘯𝘨𝘴𝘢𝘮 𝘥𝘢𝘴 𝘚𝘵𝘦𝘳𝘣𝘦𝘯 𝘶𝘯𝘥 𝘥𝘦𝘯 𝘵𝘰𝘵𝘦𝘯 𝘒𝘰̈𝘳𝘱𝘦𝘳 𝘥𝘦𝘳 𝘦𝘪𝘨𝘦𝘯𝘦𝘯 𝘔𝘶𝘵𝘵𝘦𝘳? 𝘋𝘢𝘳𝘪𝘯 𝘭𝘪𝘦𝘨𝘦𝘯 𝘷𝘪𝘦𝘭 𝘚𝘤𝘩𝘮𝘦𝘳𝘻 𝘶𝘯𝘥 𝘥𝘦𝘳 𝘝𝘦𝘳𝘴𝘶𝘤𝘩, 𝘻𝘶 𝘷𝘦𝘳𝘴𝘵𝘦𝘩𝘦𝘯, 𝘥𝘪𝘦 𝘌𝘳𝘧𝘢𝘩𝘳𝘶𝘯𝘨 𝘢𝘶𝘴 𝘴𝘪𝘤𝘩 𝘩𝘦𝘳𝘢𝘶𝘴𝘻𝘶𝘴𝘤𝘩𝘳𝘦𝘪𝘣𝘦𝘯. 𝘈𝘣𝘦𝘳 𝘢𝘶𝘤𝘩 𝘦𝘪𝘯𝘦 𝘨𝘦𝘸𝘪𝘴𝘴𝘦 𝘌𝘪𝘵𝘦𝘭𝘬𝘦𝘪𝘵: 𝘞𝘦𝘪𝘵𝘦𝘳𝘭𝘦𝘣𝘦𝘯 𝘩𝘦𝘪ß𝘵, 𝘥𝘪𝘦 𝘒𝘰𝘯𝘵𝘳𝘰𝘭𝘭𝘦 𝘶̈𝘣𝘦𝘳 𝘥𝘦𝘯 𝘦𝘪𝘨𝘦𝘯𝘦𝘯 𝘒𝘰̈𝘳𝘱𝘦𝘳 𝘻𝘶 𝘩𝘢𝘣𝘦𝘯.“ (𝘚. 189)

In „Die Wunde“ begleiten wir die Autorin auf der Reise zu der Urnenbestattung ihrer Mutter nach Sibirien. Über zwei Monate ist sie mit der Urne unterwegs, wohnt zeitweise mit ihr in ihrer Moskauer Wohnung und kommt ihrer Mutter in dieser Zeit sehr viel näher als es zu Lebzeiten möglich war.
Währenddessen beleuchtet sie ihr Leben, ihre Kindheit, ihre Homosexualität, das Leben der Mutter und auch das Schreiben als Solches, als Prozess, der bei der Verarbeitung und dem Ordnen der Gedanken hilft.
Sie betrachtet gesellschaftskritisch die Politik Russlands, hinterfragt alte Denkweisen.
Das Buch ist dicht an Themen und es findet eine tiefe Ausweinandersetzung über das Vehalten über Generationen hinweg statt. In ihrer Kindheit eher lieblos behandelt, versucht sie jetzt, nach dem Tod der Mutter, sich vieles zu erklären, schaut dazu auch auf die Großeltern und noch weiter. Einiges an Fragen bleibt ungeklärt und lässt einen selbst sich auch die Frage stellen, was wir eigentlich über unsere Eltern wissen.
Der Trauerprozess findet eher abstrakt statt, zeigt sich in dem Umgang mit dem geschriebenen Wort. Der Tod selbst scheint eher einem Befreiuungsschlag denn einem Verlust zu gleichen, ist aber auch etwas, was sich gut nachvollziehen lässt.
„𝘐𝘤𝘩 𝘩𝘢𝘣𝘦 𝘈𝘯𝘨𝘴𝘵 𝘥𝘢𝘷𝘰𝘳, 𝘥𝘦𝘯𝘯 𝘪𝘤𝘩 𝘩𝘢𝘣𝘦 𝘥𝘢𝘴 𝘦𝘪𝘯𝘥𝘦𝘶𝘵𝘪𝘨𝘦 𝘎𝘦𝘧𝘶̈𝘩𝘭: 𝘚𝘰𝘣𝘢𝘭𝘥 𝘪𝘤𝘩 𝘥𝘪𝘦𝘴𝘦𝘴 𝘉𝘶𝘤𝘩 𝘻𝘶 𝘌𝘯𝘥𝘦 𝘴𝘤𝘩𝘳𝘦𝘪𝘣𝘦, 𝘴𝘤𝘩𝘭𝘪𝘦ß𝘵 𝘴𝘪𝘤𝘩 𝘪𝘯 𝘮𝘪𝘳 𝘦𝘪𝘯𝘦 𝘞𝘶𝘯𝘥𝘦. 𝘌𝘪𝘯𝘦 𝘞𝘶𝘯𝘥𝘦, 𝘥𝘪𝘦 𝘪𝘤𝘩 𝘭𝘢𝘯𝘨𝘦 𝘯𝘪𝘤𝘩𝘵 𝘣𝘦𝘩𝘢𝘯𝘥𝘦𝘭𝘯 𝘸𝘰𝘭𝘭𝘵𝘦, 𝘦𝘪𝘯𝘦 𝘞𝘶𝘯𝘥𝘦, 𝘥𝘪𝘦 𝘭𝘢𝘯𝘨𝘦 𝘦𝘪𝘯 𝘛𝘦𝘪𝘭 𝘮𝘦𝘪𝘯𝘦𝘴 𝘉𝘦𝘸𝘶𝘴𝘴𝘵𝘴𝘦𝘪𝘯𝘴, 𝘮𝘦𝘪𝘯𝘦𝘴 𝘬𝘶̈𝘯𝘴𝘵𝘭𝘦𝘳𝘪𝘴𝘤𝘩𝘦𝘯 𝘚𝘤𝘩𝘢𝘧𝘧𝘦𝘯𝘴 𝘸𝘢𝘳.“ (𝘚. 265)
Im Endeffekt geht es aber um so viel mehr als um die Trauer. Es geht um Selbstbestimmumg, Abnabelung, Selbstfindung…
Wassjakina findet dafür sehr eindringliche Worte, die manchmal auch weh tun, so ehrlich sind sie. Es ist wunderschön geschrieben, stellenweise sehr anspruchsvoll, mal poetisch, mal abstrakt.
Eine große Empfehlung von mir.
Das einzige Manko: Gerade in den ersten zwei Teilen sind mir Rechtschreib- und Druckfehler aufgefallen, welche den Lesefluss ein wenig gestört haben.
Ansonsten wirklich super.