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Veröffentlicht am 15.10.2023

Ruhe und die Suche nach dem Selbst

Tage mit mir
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In „Tage mit mir“ erzählt Charlotte Wood die Geschichte einer Frau um die 40, die sich nach einer kurzen Auszeit in einem Kloster dazu entscheidet vorerst zu bleiben. Sie ist nicht gläubig, sie betet ...

In „Tage mit mir“ erzählt Charlotte Wood die Geschichte einer Frau um die 40, die sich nach einer kurzen Auszeit in einem Kloster dazu entscheidet vorerst zu bleiben. Sie ist nicht gläubig, sie betet nicht und doch fühlt es sich für sie an, wie zu Hause zu sein. Das karge Leben, die immer gleichen Abläufe geben ihr Struktur und Halt, schenken ihr innere Ruhe… wäre da nicht eine Mäuseplage und die Ankunft einer Bekannten aus der Vergangenheit, die ihre Welt kurzzeitig ins Wanken bringt.
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Ich hab etwas ganz anderes erwartet, als ich zu dem Buch gegriffen habe. Eine tragische Geschichte, die hinter dem Rückzug steckt, der plötzliche tiefgreifende Glaube an Gott, ein einschneidendes Erlebnis, irgendwas, was Dramatik in das Erzählte bringt. Aber so war es nicht. Wir treffen auf eine Protagonistin, die einfach der Hektik des Alltags entkommen will. Sie fühlt sich getrieben und hat den großen Wunsch nach Stabilität, nach Ruhe.
So wie die Frau Ruhe findet, so tut dies auch der Lesende. Durch die unaufgeregte Erzählweise, den Müßiggang, das Schwelgen in den Erinnerungen der Ich-Erzählerin, setzt beim Lesen eine gewisse Entspannung ein. Die Geschichte kommt ohne großes Tamtam aus, bringt Beruhigung und die Einsicht, dass es manchmal von Nöten sein kann, sich und seine Umwelt zu entschleunigen. Man sollte allerdings keine Angst vor Mäusen haben, da diese schon eine große Rolle spielen.
Sehr schön wird herausgearbeitet, dass ein Rückzug dazu führt, sich mit sich selbst auseinander zu setzen, das Leben und die Ereignisse Revue passieren zu lassen, Gedanken zu ordnen.
Man könnte jetzt sicher anfangen das Gelesene psychologisch auseinander zu nehmen (etwas was ich eigentlich sehr gern tue). Man könnte erörtern, ob der Rückzug mit dem Tod der Eltern (in kurzem Abstand) zu erklären ist, ob der generelle Wunsch nach Ruhe eine Rolle spielt und natürlich auch, was die Mäuse in diesem Zusammenhang für eine Rolle spielen… Aber manchmal kann man Dinge auch einfach hinnehmen, wertungsfrei betrachten und sich mitziehen lassen.
Ich denke was die Autorin in erster Linie vermitteln will ist Akzeptanz, Annehmen von Gegebenheiten, Hingabe und Respekt vor der Lebensrealität anderer.
Ein tolles Buch um im Alltag mal etwas runter zu kommen, um inne zu halten und den Gedanken freien Lauf zu lassen. Bekommt eine Empfehlung.

Veröffentlicht am 11.10.2023

Toller Roman über Familiengefüge und Gesellschaft

Zwischen zwei Monden
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Die 17-jährige Amira wächst in Bay Ridge, einem muslimischen Bezirk von New York auf. Gerade hat sie die Schule beendet und startet in den letzten unbeschwerten Sommer, bevor der Ernst des Lebens beginnt. ...

Die 17-jährige Amira wächst in Bay Ridge, einem muslimischen Bezirk von New York auf. Gerade hat sie die Schule beendet und startet in den letzten unbeschwerten Sommer, bevor der Ernst des Lebens beginnt. Doch so unbeschwert wird dieser nicht werden. Mit Beginn des Ramadan wird ihr Bruder nach 4 Jahren aus dem Gefängnis entlassen. Dies zieht Amira den Boden unter den Füßen weg, da schon vor langer Zeit eine Entfremdung zwischen dem Geschwistern stattgefunden hat und sie ihn als Eindringling in der familiären Idylle erlebt. Er verhält sich sehr sonderbar und geheimnisvoll und Amira befürchtet, dass ihre Eltern, die sich sehr um ihn sorgen und möchten das er fortan ein geregeltes Leben führt, daran zerbrechen würden, wenn er wieder in die Kriminalität abrutscht.
Auch ihre Zwillingsschwester Lina ist ihr keine große Stütze. Eher im Gegenteil: sie rebelliert gegen die gesellschaftlich und religiös auferlegten Normen, betrinkt sich, feiert gern, trägt knappe Outfits, wirft sich Männern an den Hals und träumt von einer Karriere als Model.
Amira fühlt sich wie „zwischen zwei Monden“, denn sie ist das gute Kind, dass versucht sich an alle Regeln zu halten.
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Aisha Abdel Gawad hat einen sehr eingängigen, bildlichen Schreibstil und schafft es gut die Atmosphäre des Viertels, in dem die Geschichte spielt, einzufangen. Man hört förmlich die Geräusche, riecht die Gerüche, spürt den Trubel und das Leben, welches in Bay Ridge herrscht. Es ist ein bisschen wie auf dem Dorf… jeder kennt jeden, es wird getratscht, alle passen so ein bisschen auf alle anderen auf. Aber der schöne Schein trügt: das Viertel wird überwacht, durch Kameras und Spitzel, die Anwohner allein auf Grund ihres Glaubens als Bedrohung angesehen. Es ist sicher nicht einfach in einer Welt aufzuwachsen, in der man der permanenten Überwachung ausgesetzt ist und sich nicht den geringsten Fehler erlauben darf.
Über die Darstellung der Gemeinschaft hinaus zeichnet die Autorin ein umfassendes Bild der Familie. In Rückblenden oder durch Erzählungen der Eltern erfährt der Lesende, wie es dazu gekommen ist, dass die Eltern in die USA ausgewandert sind. Auch über die Kindheit der Geschwister wird berichtet und schnell wird klar, warum die Beziehung zwischen dem Bruder und den Schwestern angespannt ist. Es zeigt sich auch, dass das Leben des Bruders wahrscheinlich eine andere Richtung genommen hätte, wenn er im Kindesalter Unterstützung bekommen hätte bzw. wenn die Eltern erkannt hätten, dass er diese benötigt.
Die Autorin fängt den Zwiespalt zwischen traditionellem/religiösem Bewusstsein und dem Wunsch sich selbst zu entfalten bzw. auszubrechen geschickt ein und verdeutlicht dies vor allem in der sehr gegensätzlichen Entwicklung der Zwillinge. Aber auch in Amira selbst herrscht so ein Kampf. Zum einen ist da der Wunsch eine gute Muslima zu sein, zum anderen möchte sie aber auch einfach nur ein amerikanisches Mädchen sein, welches sich frei entfalten kann. Die Diskrepanz die dahingehend im Elternhaus vermittelt wird ( die Mutter legt die Religion sehr viel stringenter als der Vater aus) hilft ihr dabei auch nicht besonders.
Sehr beeindruckt war ich von der Schilderung des Ramadan und den Entbehrungen, die daran hängen. Auch wenn ich prinzipiell weiß wie das Fasten abläuft, so ist es doch etwas anderes darüber zu lesen, wenn an heißen Tagen nicht mal ein Schluck Wasser zu sich genommen werden darf und versucht wird durch Imagination das Durstgefühl zu bekämpfen.
Auch sprachlich fand ich das Geschriebene sehr interessant. Der Wechsel zwischen der sich-Perspektive und dem allwissenden Erzähler hat Abwechslung ins lesen gebracht und mehrere Ansichten auf Situationen ermöglicht.
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Ein toller Roman, der gern noch ein wenig ausführlicher hätte sein dürfen. Vor allem das Ende kam mir dann doch sehr abrupt und hat mich ein wenig ratlos zurück gelassen.
Große Leseempfehlung.

Veröffentlicht am 11.10.2023

Wichtiges Thema wunderbar umgesetzt

Frag nach Jane
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Angela arbeitet in einem Antiquitätenhandel und findet einen alten Brief, der fälschlicherweise zugestellt wurde. Da die betreffende Person nicht mehr dort wohnt, öffnet sie den Brief, um weitere Anhaltspunkte ...

Angela arbeitet in einem Antiquitätenhandel und findet einen alten Brief, der fälschlicherweise zugestellt wurde. Da die betreffende Person nicht mehr dort wohnt, öffnet sie den Brief, um weitere Anhaltspunkte zur Empfängerin zu bekommen. Was sie findet, rührt sie zu Tränen. In dem Brief gesteht eine Mutter auf dem Sterbebett ihrer Tochter, dass diese adoptiert wurde und bittet sie, sich auf die Suche nach ihrer leiblichen Mutter zu machen.
Nancy wird ungewollt schwanger. In den 60er Jahren war es in Kananda noch illegal eine Abtreibung durchzuführen. Viele Frauen starben auf den Liegen von irgendwelchen Scharlatanen. Sie wendet sich an die Janes, ein großes landesweit agierendes Netzwerk, welches sich für sichere Schwangerschaftsabbrüche einsetzt. Jahre später beginnt sie sich selbst dort zu engagieren.
Evelyn wird in ein Heim für ledige Mütter geschickt, um dort ihr Kind zur Welt zu bringen. Kurz nach der Geburt wird sie, wie viele andere Frauen auch, dazu gezwungen ihre Tochter zu Adoption freizugeben. Getrieben durch diese Erlebnisse, macht sie es sich zur Aufgabe, werdenden Müttern zu helfen und ihnen die freie Wahl, für oder gegen das Kind, zu ermöglichen. Sie wird Ärztin im Jane-Netzwerk.
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Heather Marshall wirft einen generationenübergreifenden, eindrücklichen Blick auf Schwangerschaft, Mutterschaft und die Rechte und Freiheiten für Frauen. Der Roman spielt in Kanada, aber vieles lässt sich auch auf Länder Europas oder die USA übertragen. Ein großes Kernthema ist das Recht auf weibliche Selbstbestimmung, das Recht darauf selbst zu entscheiden, was mit dem Körper passiert, dass Recht sich für oder gegen ein Kind zu entscheiden. An vielen Stellen macht dies einfach nur sprachlos und wütend, sowohl wenn man die Vergangenheit betrachtet, als auch mit Blick auf die Gegenwart. Aber dazu später mehr…
Wir folgen den jungen Frauen auf verschiedenen Zeit- und Erzählsträngen, die zum Ende hin auf wunderbare Weise zusammenlaufen und mich in der Auflösung durchaus überrascht haben. Auch an Spannung fehlt es nicht, vor allem im Hinblick auf die Tätigkeiten des Jane-Netzwerks, welches illegal betrieben wurde und somit permanent im Visier der Strafverfolgungsbehörden stand.
Die Reise beginnt zeitlich gesehen 1960 mit der Ankunft von Evelyn im Heim für ledige Mütter. Ungewollt schwanger, vergewaltigt von einem Freund der Eltern, wird sie dort hingeschickt um die Schwangerschaft auszutragen und ihr Kind danach abzugeben. Diese Heime waren zu jener Zeit allgegenwärtig um ungewollte Schwangerschaften im Stillen auszusitzen. Schwangerschaftsabbrüche waren undenkbar und die Heime somit die einzige Alternative für Familien ihr Ansehen aufrecht zu erhalten und sich ungewolltem, unehelichem Nachwuchs zu entledigen. Es war so hart wie es klingt… Die jungen Schwangeren hatten keinerlei Mitspracherecht, durften ihre Kinder nicht behalten, viele sind nach Folge sexueller Übergriffe dort gelandet. Eine psychologische Betreuung gab es nicht, es wurde nicht über Schwangerschaft und Geburt aufgeklärt, die Frauen wurden während der Geburt sich selbst überlassen. Vielen wurde erzählt, dass die Kinder gestorben seien, sie mussten einen Vertrag unterschreiben, dass sie sich nicht auf die Suche nach den Kindern begeben, wenn sie sich geweigert haben, durften sie ihre Kinder gar nicht sehen. Sie mussten sowohl während der Schwangerschaft, als auch danach im Heim arbeiten um ihren Aufenthalt zu finanzieren und die Schulden zu tilgen. Wenn man bedenkt, dass die Kinder größtenteils verkauft wurden, eine weitere Ungerechtigkeit, die auf Leid und Unwissenheit basiert. Auch in Deutschland gehörte diese Praxis lange Zeit der Realität an und es ist einfach nur erschreckend, wie damals mit Frauen umgegangen wurde und welche Traumata diese davon getragen haben.
Wir machen einen zeitlichen Sprung in die Jahre ab 1979 und landen bei Nancy. Als ihre Cousine fast bei einer Abtreibung stirbt, erhält sie im Krankenhaus den Tipp nach Jane zu fragen, wenn sie oder eine Bekannte sich in einer ähnlichen Situation befindet. Ein paar Jahre später wird sie selbst ungewollt schwanger, einen legalen Weg zum Abbruch gibt es nicht und so telefoniert sie die Arztptaxen durch auf der Suche nach der mysteriösen Jane. Sie findet eine Ärztin die den Eingriff durchführt und als sie sie wieder ein paar Jahre später erneut trifft, bietet sie ihre Hilfe an und wird Teil des Netzwerkes. Netzwerke wie dieses gab es in ganz Kanada, den USA und wahrscheinlich auch in Europa. Viele ehrenamtliche Ärzte und Helfer haben es damit Frauen ermöglicht eine ungewollte Schwangerschaft unentgeltlich und sicher zu beenden. Außerdem haben sich diese Netzwerke politisch engagiert und für die Legalisierung gekämpft, sowie Aufklärungsarbeit hinsichtlich Verhütung geleistet. Sie hatten viele Feinde und eine Mitarbeit war nicht ungefährlich. Zum einen war es strafbar, zum anderen gab es die Front der Abtreibungsgegner, die sehr gewalttätig werden konnte. Trotz allem gab es über Jahre hinweg viele Freiwillige, die gekämpft haben, die Frauen geholfen haben ihr Recht auf körperliche Selbstbestimmung durchzusetzen. In Kanada hatten sie damit 1988 Erfolg, als das Gesetz, welches Abtreibungen als Straftat deklarierte, abgeschafft wurde. Somit ist Kanada bis heute eins der wenigen Länder in denen Schwangerschaftsabbrüche legal sind und Frauen eine freie Entscheidung treffen dürfen. Schaut man nach Deutschland, so hat man anscheinend auch eine freie Wahl, aber diese ist trügerisch. Laut Strafgesetzbuch wird hierzulande ein Schwangerschaftsabbruch mit einer Freiheitsstrafe von bis zu 3 Jahren oder Geldstrafe gesühnt. Zwar bleibt er unter bestimmten Voraussetzungen straffrei (z.Bsp. durch Aufsuchen der Schwangerschaftskonfliktberatung und dortiger ausführlicher Darlegung der Gründe), aber dennoch bleibt der fahle Beigeschmack, dass nicht die Frau selbst, sondern andere darüber entscheiden, in meinen Augen ein Unding in unserer angeblich so hochentwickelten, aufgeschlossenen Gesellschaft.
Das Thema Abtreibung ist ziemlich kontrovers. Es gibt viele Gründe die für oder gegen ein Kind sprechen. Es gibt viele Faktoren, die bei einer solchen Entscheidung eine Rolle spielen. Die Gesetzgebung sollte keiner dieser Gründe sein. Bei allem Respekt vor dem ungeborenen Leben, ist es am Ende die Frau, die mit den Konsequenzen ihrer Entscheidung leben muss und somit sollte sie diese auch aus freien Stücken treffen dürfen.
Marshall schafft es in ihrem Roman die komplexen Zusammenhänge von gewollter und ungewollter Mutterschaft, von gewollter und ungewollter Schwangerschaft, sowie mögliche Intentionen hinter Schwangerschaftsabbrüchen zu beleuchten und zu vermitteln. Überdies stärkt sie die Sichtweise auf Selbstbestimmung und das Recht am eigenen Körper und zeigt auf, wie durch Solidarisierung, Zusammenhalt und Durchhaltevermögen ein Umbruch möglich ist.
In meinen Augen ein bedeutendes und mit Hinblick auf das Weltgeschehen wichtiges und aktuelles Werk. Von mir gibts eine große Empfehlung.

Veröffentlicht am 03.10.2023

Immer für alle Anderen

Am Tag des Weltuntergangs verschlang der Wolf die Sonne
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„𝘚𝘪𝘤𝘩 𝘻𝘶 𝘬𝘶̈𝘮𝘮𝘦𝘳𝘯, 𝘢𝘶𝘧𝘻𝘶𝘰𝘱𝘧𝘦𝘳𝘯, 𝘢𝘭𝘭𝘻𝘦𝘪𝘵 𝘣𝘦𝘳𝘦𝘪𝘵 𝘻𝘶 𝘴𝘦𝘪𝘯 𝘪𝘮 𝘒𝘢𝘮𝘱𝘧 𝘨𝘦𝘨𝘦𝘯 𝘥𝘢𝘴 𝘜𝘯𝘸𝘰𝘩𝘭𝘴𝘦𝘪𝘯 𝘥𝘦𝘳 𝘢𝘯𝘥𝘦𝘳𝘦𝘯, 𝘩𝘪𝘦ß 𝘯𝘶𝘳 𝘣𝘭𝘰̈𝘥𝘦𝘳𝘸𝘦𝘪𝘴𝘦 𝘢𝘶𝘤𝘩 𝘪𝘳𝘨𝘦𝘯𝘥𝘸𝘪𝘦 𝘶𝘯𝘴𝘪𝘤𝘩𝘵𝘣𝘢𝘳 𝘻𝘶 𝘸𝘦𝘳𝘥𝘦𝘯. … 𝘈𝘣𝘦𝘳 𝘥𝘢𝘴 𝘸𝘢𝘳 𝘴𝘤𝘩𝘰𝘯 𝘪𝘯 𝘖𝘳𝘥𝘯𝘶𝘯𝘨 𝘴𝘰. 𝘋𝘢𝘴 𝘞𝘪𝘤𝘩𝘵𝘪𝘨𝘴𝘵𝘦 ...

„𝘚𝘪𝘤𝘩 𝘻𝘶 𝘬𝘶̈𝘮𝘮𝘦𝘳𝘯, 𝘢𝘶𝘧𝘻𝘶𝘰𝘱𝘧𝘦𝘳𝘯, 𝘢𝘭𝘭𝘻𝘦𝘪𝘵 𝘣𝘦𝘳𝘦𝘪𝘵 𝘻𝘶 𝘴𝘦𝘪𝘯 𝘪𝘮 𝘒𝘢𝘮𝘱𝘧 𝘨𝘦𝘨𝘦𝘯 𝘥𝘢𝘴 𝘜𝘯𝘸𝘰𝘩𝘭𝘴𝘦𝘪𝘯 𝘥𝘦𝘳 𝘢𝘯𝘥𝘦𝘳𝘦𝘯, 𝘩𝘪𝘦ß 𝘯𝘶𝘳 𝘣𝘭𝘰̈𝘥𝘦𝘳𝘸𝘦𝘪𝘴𝘦 𝘢𝘶𝘤𝘩 𝘪𝘳𝘨𝘦𝘯𝘥𝘸𝘪𝘦 𝘶𝘯𝘴𝘪𝘤𝘩𝘵𝘣𝘢𝘳 𝘻𝘶 𝘸𝘦𝘳𝘥𝘦𝘯. … 𝘈𝘣𝘦𝘳 𝘥𝘢𝘴 𝘸𝘢𝘳 𝘴𝘤𝘩𝘰𝘯 𝘪𝘯 𝘖𝘳𝘥𝘯𝘶𝘯𝘨 𝘴𝘰. 𝘋𝘢𝘴 𝘞𝘪𝘤𝘩𝘵𝘪𝘨𝘴𝘵𝘦 𝘸𝘢𝘳 𝘴𝘤𝘩𝘭𝘪𝘦ß𝘭𝘪𝘤𝘩, 𝘥𝘢𝘴𝘴 𝘦𝘴 𝘢𝘭𝘭𝘦𝘯 𝘨𝘶𝘵 𝘨𝘪𝘯𝘨. 𝘈𝘭𝘭𝘦𝘯 𝘢𝘯𝘥𝘦𝘳𝘦𝘯.“ (𝘚. 14/15)

Katha macht es sich schon sehr früh im Leben zur Aufgabe sich um andere zu kümmern. Sie versucht die Ehe ihrer Eltern zu retten und als sie damit scheitert, nimmt sie der Mutter allerhand Pflichten ab. Sie kümmert sich um ihre jüngere Schwester Nadin, schmeißt den Haushalt, fühlt sich für alles und jeden in ihrer Umgebung verantwortlich.
Sie macht sich klein, versucht unter dem Radar zu bleiben, arbeitet gegen ihre eigenen Bedürfnisse, scheint sie nicht einmal zu kennen, bis sie eines Tages auf Angelica, die Mutter einer Klassenkameradin, trifft. Zum ersten Mal in ihrem jungen Leben fühlt sie sich gesehen. Angelica stellt Fragen, ist aufrichtig interessiert und legt ihr immer wieder ans Herz auch an sich selbst zu denken.
Angelica wird mehr und mehr Mutterersatz, aber das ändert sich schlagartig, als sie krank wird und kurz darauf stirbt. Mit ihrem Tod bricht für Katha eine Welt zusammen, ein Zustand aus dem sie sich nicht so schnell befreien kann.
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Sina Scherzant zeichnet in ihrem Debüt ein großartiges Bild eines Mädchens/ einer jungen Frau, die ihr Leben in den Schatten aller anderen stellt. Dies passiert nicht freiwillig, sondern als erlerntes Verhalten auf äußere Umstände.
Von frühester Kindheit an, fühlt sich Katha verantwortlich für eigentlich alles, traut ihrem Umfeld nicht zu mit Problemen oder Emotionen umzugehen, lädt sämtliche Last auf ihre Schultern. Gepaart mit magischem Denken entwickelt sich ein Verhalten, dass nicht gut für die Protagonistin ist, dass sie fast daran zerbrechen lässt. Die kindliche Sichtweise auf die Dinge, macht es teilweise sehr bedrückend zu lesen. Vor allem die Selbstverleugnung, das nicht Einsehen-wollen, dass man selbst Hilfe braucht.
„𝘌𝘴 𝘪𝘴𝘵 𝘰𝘧𝘵 𝘢𝘭𝘭𝘦𝘴 𝘰𝘬𝘢𝘺, 𝘢𝘭𝘭𝘦𝘴 𝘨𝘶𝘵, 𝘯𝘪𝘤𝘩𝘵 𝘴𝘰 𝘴𝘤𝘩𝘭𝘪𝘮𝘮, 𝘬𝘦𝘪𝘯 𝘗𝘳𝘰𝘣𝘭𝘦𝘮, 𝘬𝘦𝘪𝘯 𝘚𝘵𝘳𝘦𝘴𝘴, 𝘯𝘦𝘪𝘯, 𝘢𝘭𝘭𝘦𝘴 𝘣𝘦𝘴𝘵𝘦𝘯𝘴, 𝘮𝘢𝘤𝘩𝘵 𝘦𝘶𝘤𝘩 𝘬𝘦𝘪𝘯𝘦 𝘎𝘦𝘥𝘢𝘯𝘬𝘦𝘯, 𝘪𝘤𝘩 𝘮𝘢𝘤𝘩𝘦 𝘮𝘪𝘳 𝘥𝘰𝘤𝘩 𝘴𝘤𝘩𝘰𝘯 𝘨𝘦𝘯𝘶𝘨.“ (𝘚. 349)
Katha ist sehr realistisch dargestellt und ich denke der/die ein oder andere wird sich gut in ihrem Verhalten wiederfinden, wodurch es nicht einfach nur ein Roman ist, sondern durchaus auch zur Reflexion einlädt.
Durch die Begleitung über mehrere Jahre wird schön herausgearbeitet, in wiefern sich das fehlen von Urvertrauen auf die späteren Erwachsenenjahre auswirkt.
Durch die Figur der Angelica wird zwar ein bisschen was abgefedert, aber eben nicht komplett. Angelica übernimmt hier die Aufgaben die eigentlich den Eltern obliegen sollte: Katha Selbstvertrauen zu geben, sie in ihren Bedürfnissen zu bestärken, sie Kind sein lassen… etwas was den Eltern nicht möglich ist. Der Vater ist nach der Scheidung größtenteils abwesend, wird von der Mutter schlecht gemacht. Die Mutter versinkt zeitweise in Depression und lenkt sich die restliche Zeit mit arbeiten ab. Gerade im Teenageralter, wo sowieso alles drunter und drüber geht und Halt wichtig ist, muss sich Katha diesen selbst geben, wozu sie natürlich gar nicht in der Lage ist.
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Scherzants Schreibstil ist voll von Metaphern, der die kindlichen Gedanken erlebbar macht und lässt sich schön lesen. Über die Seiten hinweg, macht nicht nur Katha, sondern auch das Geschriebene eine Entwicklung durch und ich wäre der Geschichte gern noch weiter gefolgt.
Im Faziz ein tolles Debüt mit einer schönen Tiefe und eine Empfehlung für euch.

Veröffentlicht am 27.09.2023

Wie weit geht es nach unten?

Der berühmte Tiefpunkt
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Mariekes Leben ist, um es mal nett auszudrücken, gerade etwas suboptimal. Ihr absolut unsympathischer Freund Blok hat sie vor die Tür gesetzt und den Zugriff auf das gemeinsame Konto gesperrt. Sie wohnt ...

Mariekes Leben ist, um es mal nett auszudrücken, gerade etwas suboptimal. Ihr absolut unsympathischer Freund Blok hat sie vor die Tür gesetzt und den Zugriff auf das gemeinsame Konto gesperrt. Sie wohnt in einem Mietwagen, die Waschmaschine im Waschsalon gibt ihre Wäsche nicht frei und die zuständige Person ist gerade im Urlaub. Überdies ist gerade eine regelrechte Gluthitze ausgebrochen, was die Tatsache, dass Marieke gerade nur eine Jeans und ein Sweatshirt hat, noch schlimmer macht, denn so langsam fängt sie auch an zu riechen. Auf Hilfe aus der Familie kann sie nicht zählen. Obwohl sie als Kind mehr oder weniger als Rettungsanker für die Mutter herhalten musste, hält diese lieber zu Blok. Auch die Schwestern bilden eher für sich eine Einheit in der Marieke außen vor ist. Alles in allem könnte man sagen: Es ist ziemlich kompliziert.
Auf ihrer Arbeit läuft es auch nicht gerade rosig. Sie ist allein auf ihrer Station im Pflegeheim, alle anderen sind schon ins neue (klimatisierte) Gebäude umgezogen und scheinen sie vergessen zu haben. Es gibt jeden Tag Wurst mit Apfelmus (was ist das bitte für eine Zusammenstellung???) und auch das Wasser, sowohl zum Trinken, als auch zur Pflege, kommt in Flaschen, da leider die Leitung abgestellt wurde. Und so versucht sie ihr Bestes die Patienten am Leben zu erhalten.
Es geht nicht schlimmer? Ja doch, geht es: zu allem Überfluss tritt ihr Vater wieder in ihr Leben, eine Person die sie lange ausgeschlossen hat und sie sieht sich mit ihrer Vergangenheit/Kindheit konfrontiert und muss sich längst überfälligen Fragen stellen.
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Als allererstes, und das mache ich sonst super selten, möchte ich das Wahnsinns-Cover hervorheben. Es ist bunt, es ist chaotisch, es ist lebendig, es ist einfach sehr meins und extrem gut gelungen. Hätte ich genug Platz um einzelne Bücher mit der Vorderseite nach vorn ins Regal zu stellen, dies hier wäre eins davon.
Kommen wir nun zur Geschichte. De Gryse erschafft eine vielschichtige, tiefgreifende Erzählung auf gerade mal knapp 250 Seiten. Marieke als Protagonistin ist gut gelungen, auch wenn ich mich nur selten mit ihr identifizieren konnte.
Thematisch werden sehr viele Themen berührt: die Kindheit, die geprägt war von toxischen Verhältnissen, der Depression der Mutter, des Wegbleiben des Vaters und der damit einhergehenden, viel zu zeitigen Übernahme von Verantwortung auf Seiten von Marieke, was sich bis ins spätere Leben auswirkt. Auch jetzt ist Marieke eher ein Mensch der einsteckt, Dinge mit sich selbst ausmacht, sich herumschubsen lässt. Die Verhaltensweisen der Mutter halten bis heute an und sind geprägt von Vorwürfen und Schuldzuweisungen.
Es verwundert nicht, dass Marieke in einer Beziehung landet, die ebenfalls lieblos und auf Abhängigkeit ausgelegt ist. Sie wird nicht gesehen, nicht anerkannt und schaut man dann noch die mehr als übergriffige Mutter von Blok an, setzt dies dem Ganzen die Krone auf.
Überdies wird mit den Abschnitten die im Pflegeheim spielen sehr harte Kritik an dem System geübt. Völlig zurecht wie ich finde. Auch wenn es hier sicher überzogen ist, wird klar, dass der Pflegenotstand ein großes Problem ist, dem viel zu wenig Aufmerksamkeit gewidmet wird.
Auch gut fand ich die Einbindung von Essen als Lösung der Probleme. Nicht an sich die Tatsache, aber die Thematisierung. De Gryse beschreibt sehr bildlich, wie Marieke sich immer wieder in den „Genuss“ flüchtet und das dies schon seit frühester Kindheit ein Problem ist. Ich denke auch hier ist es wichtig, dass dies mal aufgefasst wird, denn auch wenn rein theoretisch klar ist, dass Essen keine Probleme löst, ist es doch für den/die ein oder andere*n eine Bewältigungsstrategie, die weitere Probleme nach sich zieht.
Apropos Essen: Fleischesser werden definitiv auf ihre Kosten kommen, denn die Beschreibung und Zubereitung von Mahlzeiten geht sehr ins Detail. Für mich war es nix, schon allein die Beschreibung wie es sich anfühlt bestimmte Fleischarten zu kneten, fand ich ein bisschen eklig, aber das ist ein sehr persönliches Empfinden und nach fast 20 Jahren Fleischverzicht denk ich nachvollziehbar.
Der Schreibstil hat mir sehr zugesagt, ist locker und leicht und manchmal weiß man nicht, ob man lachen oder weinen soll. Es ist eine gute Mischung aus Humor und Drama und durch die immer wieder stattfindenden Rückblicke bekommt man einen tollen Gesamteindruck von Mariekes Leben. Zudem ist man mit der Anfangsszene, in der die Protagonisten nackt in ihrem Mietwagen aufwacht, weil jemand ans Fenster klopft, sofort drin in der Geschichte und kann es dann kaum aus der Hand legen.
Es ist eine Geschichte von Freundschaft, Rückschlägen, Familie und am Ende auch von der Befreiung aus alten Strukturen. Es geht um Selbstfindung und Selbstbestimmung.
Kurz gesagt: es ist ein fantastisches Debüt, dass ich euch sehr ans Herz legen kann.