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Veröffentlicht am 27.02.2024

Gedanken in der Einsamkeit

Die Verletzlichen
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Eine Frau in New York, ein Papagei und ein ungebetener Mitbewohner…
Corona greift um sich. Es ist der erste Lockdown. Eine Frau erklärt sich bereit den Papagei einer Freundin, welche bei ihren Eltern festsitzt, ...

Eine Frau in New York, ein Papagei und ein ungebetener Mitbewohner…
Corona greift um sich. Es ist der erste Lockdown. Eine Frau erklärt sich bereit den Papagei einer Freundin, welche bei ihren Eltern festsitzt, zu betreuen. Sie überlässt einer Ärtzin, die dringend gebraucht wird, ihre Wohnung und zieht bei dem Papagei ein. Was sie zu diesem Zeitpunkt noch nicht weiß: auch ein junger Mann, der gerade mit seinen Eltern ein nicht allzu harmonisches Verhältnis hat, wird bald als Gast in der Wohnung sein und ihre Geduld mehr als einmal auf die Probe stellen.
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Handlungstechnisch passiert in diesem Roman nicht besonders viel. Es ist Lockdown, alles liegt auf Eis, der Beruf der Protagonistin ist nicht systemrelevant und somit sitzt sie in der Wohnung fest. Bis auf vereinzelte Spaziergänge, verlässt sie diese nicht. Sie hat viel Zeit zum Nachdenken und nimmt die Lesenden genau in diese Gedankenwelt mit.
Es ist ein Ausflug in die Welt der Literatur, in die Vergangenheit, in Einsamkeit und Angst. Sigrid Nunenz reflektiert eine Zeit, die sicher für uns alle schwierig war. Gerade in der Anfangszeit von Corona, war Angst ein vorherrschendes Gefühl. Es gab so viele Infizierte, so viele Tote… beim Verlassen der eigenen vier Wände wurde plötzlich jeder andere Mensch zu einem potenziellen Risiko.
Praktisch über Nacht hat sich unser aller Leben geändert und es wurde zu einer Zeit die jeder Person mal mehr, mal weniger abverlangt hat. Dies hat die Autorin sehr schön eingefangen.
Die Rolle des Papageien in dem Ganzen fand ich beeindruckend. Zum einen symbolisiert er die Wichtigkeit einer Aufgabe in Zeiten, in denen man sonst nicht zu tun hat. Sich um ein Lebewesen zu kümmern, dass auf einen angewiesen ist, kann nachweislich dazu beitragen, sich selbst aus tiefen Gräben heraus zu holen. Durch sein buntes Gefieder bringt er außerdem etwas Farbe in den trostlosen Alltag.
Durch das ungewollte Zusammenleben mit dem jungen Mann, wird überdies die Notwenigkeit von sozialen Kontakten und das Zwischenmenschliche thematisiert.
Wie anfangs schon erwähnt, passiert auf der Handlungsebene fast nichts. Dahingehend ist sicher der Klappentext etwas irreführend. Zumindest mir suggeriert er eine wesentlich eingängigere Erzählung.
„Die Verletzlichen“ ist ein leiser Roman. Es passiert hier sehr viel zwischen den Zeilen und man muss gewillt sein, sich darauf einzulassen. Wenn man dies tut, wird man mit einer literarisch hochwertigen und sprachlich wunderschönen Betrachtung von Individuen in Krisenzeiten belohnt.

Veröffentlicht am 18.02.2024

Die Leichtigkeit zurück erlangen

Der Traum vom Fliegen
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Sofia ist 20 Jahre alt als sie in eine psychiatrische Privatklinik eingeliefert wird. Durch eine immense Gewichtszunahme halten es ihre Väter für wichtig, dass sie sich helfen lässt und um ihnen die Sorgen ...

Sofia ist 20 Jahre alt als sie in eine psychiatrische Privatklinik eingeliefert wird. Durch eine immense Gewichtszunahme halten es ihre Väter für wichtig, dass sie sich helfen lässt und um ihnen die Sorgen zu nehmen, spielt Sofia dieses Spiel mit. Sie hat nicht vor abzunehmen, denn es gibt einen Grund warum sie sich die Kilos erarbeitet hat, nur das sie niemandem davon erzählen kann.
In der Klinik findet sie nicht nur nach und nach wieder zu sich selbst, sondern knüpft auch Freundschaften und erfährt ungeahnte Unterstützung.
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Milena Moser versteht es mit Metaphern zu spielen und eine einzigartige, rührende Geschichte voller Emotionen, Spannung und Einsichten zu kreieren.
Sie zeichnet ein tiefgreifendes Porträt ihrer Protagonistin Sofia, sowie anderer Patientinnen und während man dem Klinikalltag, welcher in meinen Augen sehr gute Ansätze vertritt, folgt, ergibt sich mehr und mehr ein Bild. Psychische Erkrankungen, seien es Essstörungen, Depressionen, Persönlichkeitsstörungen oder Ängste, werden auf leichte und dennoch eindrucksvolle Weise eingebaut. In der Klinik selbst herrscht ein sehr wohlwollendes und wertfreies Klima.
Den Griff zum „Übernatürlichen“ (um die Symtomatiken und Probleme der Patient
innen zu beschreiben) finde ich sehr geschickt. Die doch sehr schwere Thematik wird dadurch weicher und sicher auch für Lesende, die kein Bezug zu den Thematiken haben, einfacher greif- und erklärbar.
Einen kleinen Kritikpunkt habe ich dennoch: Sofia setzt bei dem Kampf gegen ihre Angst Schmerzreize ein, was ihr auch von ihrer Therapeutin empfohlen wurde. Ich weiß, dass das teilweise auch heute noch als adäquates Mittel gesehen wird, finde es aber im Rahmen des Buches schwierig.
Nichtsdestotrotz ist es ein großartiges Buch und eine klare Empfehlung für euch.

Veröffentlicht am 01.11.2023

Süße Geschichte mit Tiefgang

Dieses schöne Leben
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Clover wächst, nach dem frühen Unfalltod ihrer Eltern, bei ihrem Großvater auf. Umgeben von Büchern und allerlei biologischen Kuriositäten häuft sie viel Wissen an, erlernt aber nie den Umgang mit Menschen ...

Clover wächst, nach dem frühen Unfalltod ihrer Eltern, bei ihrem Großvater auf. Umgeben von Büchern und allerlei biologischen Kuriositäten häuft sie viel Wissen an, erlernt aber nie den Umgang mit Menschen und wird, wie bereits ihr Opa, eine Eigenbrödlerin. Als der Großvater während einer ihrer Auslandsaufenthalte plötzlich verstirbt, steht sie ganz allein da.
Sie wird eine Sterbe-Doula und begleitet Menschen auf ihrem Weg in den Tod. Für sie ist das der ideale Job. Sie kann ihre Gefühle gut verschließen und die Menschen, mit denen sie zu tun hat, leben nicht mehr lange genug um eine Beziehung zu ihnen aufzubauen. Als die sterbendskranke Claudia in ihr Leben tritt und sie sich auf die Suche nach deren Jugendliebe macht, kommt jedoch ganz schön Schwung in ihr Leben.
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Die Geschichte ist wunderschön geschrieben und das Aufwachsen von Clover klingt toll. Auch wenn der Großvater nicht viel von zwischenmenschlichen Beziehungen versteht und seiner Enkelin diese nicht näher bringen kann, wächst sie doch sehr behütet und voller Liebe auf.
Der Job der Sterbenegleiterin wird schön beschrieben. Ich stelle es mir sehr hart vor, ständig von Menschen Abschied nehmen zu müssen und habe viel Respekt vor dieser Arbeit. Viele, gerade alte Menschen, sterben allein und einsam, da ist die Begleitung, sei es auch durch eine fremde Person sehr wertvoll.
Clovers Persönlichkeit ist sehr realistisch beschrieben und es wird schön herausgearbeitet, was es bedeutet in freiwilliger Isolation zu leben. Da sie es nicht anders kennt, vermisst sie auch nichts, ist eher überfordert im Umgang mit anderen Menschen, wurde oft enttäuscht und ist dementsprechend vorsichtig. Auch das Verhältnis zu den Eltern, als diese noch lebten, war eher distanziert, die Tochter wurde oft abgeschoben und diese Distanz abzulegen fällt schwer. Im letzten Drittel kommt hier Bewegung rein, was ich zum einen gut finde, zum anderen in dieser Ausgeprägtheit und Schnelligkeit, allerdings mal wieder für etwas utopisch halte. Ein bisschen weniger Happy End hätte der Geschichte aus meiner Sicht gut getan.
Nichtsdestotrotz ein schöner Roman um Abzuschalten, mit einer guten Story und ein bisschen Romantik.

Veröffentlicht am 25.10.2023

Tiefe Einblicke in die chinesische Gesellschaft und das Frauenbild

Die Gebärmutter
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Das Lesen von „Die Gebärmutter“ hat mir einiges abverlangt. Sheng Keyi umreist in ihrem Roman die Rechte der Frauen, Familienpolitik und Familiengefüge, Geburtenkontrolle und Abtreibung und letztendlich ...

Das Lesen von „Die Gebärmutter“ hat mir einiges abverlangt. Sheng Keyi umreist in ihrem Roman die Rechte der Frauen, Familienpolitik und Familiengefüge, Geburtenkontrolle und Abtreibung und letztendlich die Last einer Gebärmutter in der chinesischen Gesellschaft. Sie beschreibt eine Familie, meist aus weiblicher Sicht, über mehrere Generationen. Dem zu folgen fiel mir nicht immer leicht. Trotz der eingängigen, angenehmen Sprache, hatte ich Probleme mit dem Auseinanderhalten der vielen Protagonist*innen, dies lag zum einen sicher an den sehr ähnlichen Namen, zum anderen auch daran, dass die einzelnen Kapitel fast in sich geschlossene Erzählungen waren, zeitlich nicht linear verlaufen sind und somit die Übersicht ein bisschen gefehlt hat.
Trotz dieser Tatsache bin ich froh den Roman zu Ende gelesen zu haben. Er gibt einen tiefen Einblick in die chinesische Gesellschaft, teilweise wirklich erschreckend. Die Rolle der Frau, auch in den jüngeren Generationen und vor allem bei der Landbevölkerung, lässt einen vermuten man befinde sich irgendwo Anfang des 19. Jahrhunderts und nicht in der Gegenwart. Es gibt viele arrangierte Ehen, eine Vielzahl von Kindern, generationenübergreifende Erziehung, aber keine so richtige Bindung zu den Eltern. Es scheint, als würden nur kleine Arbeitskräfte erschaffen um die „Familienbetriebe“ am Laufen zu halten. Verhütung ist nicht unbedingt üblich und wenn dann allein Frauensache. Ehen werden nur noch geschlossen, wenn eine Fraue bereits schwanger ist, um den Fortbestand der Familie zu sichern. Eine Frau, die keine Kinder haben will, wird misstrauisch oder mitleidig beäugt.
Alles in allem könnte man die Frauen als reine Gebärmaschinen sehen und es ist erschreckend, dass in einem sonst so fortschrittlichem Land, ein solches Denken noch Gang und Gebe ist.
Keyi zeigt auf, dass zwar ein Wandel im Gange ist, aber übt nach wie vor Kritik an der Gesellschaft. Ihre Schilderungen legen nahe, dass Kinder kriegen oder nicht kriegen, kein persönliches, sondern in China vor allem ein gesellschaftliches und politisches Thema war und immer noch ist.
Ein wirklich guter Roman und eine Empfehlung für alle, die an einem intensiven Einblick in chinesische Familirngefüge interessiert sind. Es erfordert etwas Durchhaltevermögen, aber es lohnt sich auf alle Fälle.

Veröffentlicht am 15.10.2023

Ruhe und die Suche nach dem Selbst

Tage mit mir
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In „Tage mit mir“ erzählt Charlotte Wood die Geschichte einer Frau um die 40, die sich nach einer kurzen Auszeit in einem Kloster dazu entscheidet vorerst zu bleiben. Sie ist nicht gläubig, sie betet ...

In „Tage mit mir“ erzählt Charlotte Wood die Geschichte einer Frau um die 40, die sich nach einer kurzen Auszeit in einem Kloster dazu entscheidet vorerst zu bleiben. Sie ist nicht gläubig, sie betet nicht und doch fühlt es sich für sie an, wie zu Hause zu sein. Das karge Leben, die immer gleichen Abläufe geben ihr Struktur und Halt, schenken ihr innere Ruhe… wäre da nicht eine Mäuseplage und die Ankunft einer Bekannten aus der Vergangenheit, die ihre Welt kurzzeitig ins Wanken bringt.
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Ich hab etwas ganz anderes erwartet, als ich zu dem Buch gegriffen habe. Eine tragische Geschichte, die hinter dem Rückzug steckt, der plötzliche tiefgreifende Glaube an Gott, ein einschneidendes Erlebnis, irgendwas, was Dramatik in das Erzählte bringt. Aber so war es nicht. Wir treffen auf eine Protagonistin, die einfach der Hektik des Alltags entkommen will. Sie fühlt sich getrieben und hat den großen Wunsch nach Stabilität, nach Ruhe.
So wie die Frau Ruhe findet, so tut dies auch der Lesende. Durch die unaufgeregte Erzählweise, den Müßiggang, das Schwelgen in den Erinnerungen der Ich-Erzählerin, setzt beim Lesen eine gewisse Entspannung ein. Die Geschichte kommt ohne großes Tamtam aus, bringt Beruhigung und die Einsicht, dass es manchmal von Nöten sein kann, sich und seine Umwelt zu entschleunigen. Man sollte allerdings keine Angst vor Mäusen haben, da diese schon eine große Rolle spielen.
Sehr schön wird herausgearbeitet, dass ein Rückzug dazu führt, sich mit sich selbst auseinander zu setzen, das Leben und die Ereignisse Revue passieren zu lassen, Gedanken zu ordnen.
Man könnte jetzt sicher anfangen das Gelesene psychologisch auseinander zu nehmen (etwas was ich eigentlich sehr gern tue). Man könnte erörtern, ob der Rückzug mit dem Tod der Eltern (in kurzem Abstand) zu erklären ist, ob der generelle Wunsch nach Ruhe eine Rolle spielt und natürlich auch, was die Mäuse in diesem Zusammenhang für eine Rolle spielen… Aber manchmal kann man Dinge auch einfach hinnehmen, wertungsfrei betrachten und sich mitziehen lassen.
Ich denke was die Autorin in erster Linie vermitteln will ist Akzeptanz, Annehmen von Gegebenheiten, Hingabe und Respekt vor der Lebensrealität anderer.
Ein tolles Buch um im Alltag mal etwas runter zu kommen, um inne zu halten und den Gedanken freien Lauf zu lassen. Bekommt eine Empfehlung.