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Veröffentlicht am 27.06.2023

Schwer zu fassen

Liebewesen
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In „Liebewesen“ treffen wir auf Lio und Max.
Lio stammt aus einem dysfunktionalen Elternhaus, ist traumatisiert und hat dadurch ein sehr gespaltenes Verhältnis zu ihrem Körper und ihren Gedanken.
Max ...

In „Liebewesen“ treffen wir auf Lio und Max.
Lio stammt aus einem dysfunktionalen Elternhaus, ist traumatisiert und hat dadurch ein sehr gespaltenes Verhältnis zu ihrem Körper und ihren Gedanken.
Max scheint behütet aufgewachsen zu sein, leidet aber darunter, dass der Vater die Familie verlassen hat. Er verfällt immer wieder in depressive Phasen, welche fast schon von Manie abgelöst werden.
Die beiden verlieben sich, führen eine (toxische) Beziehung, versuchen einander Halt zu geben. Als Lio schwanger wird, beginnt sie zu hinterfragen, ob dies die Zukunft ist, die sie sich vorstellt.
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Ich hab das Buch vor 2 Wochen abgeschlossen und musste es erstmal eine ganze Weile setzen lassen. Es ist keine Liebesgeschichte, es ist kein Befreiungsschlag, es ist einfach ein Aufzeigen, ein Einfühlen in eine Beziehung, die so nicht funktionieren kann.
Schmitt‘s Schreibstil ist klar und auf den Punkt. Es wird nicht viel drum herum geredet, es darf auch mal wehtun und es ist einfach sehr authentisch.
Wir verfolgen eine Beziehung, die vielleicht gar nicht mal so unüblich ist. Beide Handelnde haben psychische Probleme, beide sehen nicht das sie Hilfe brauchen, stützen sich auf die andere Person, versuchen dadurch zu heilen und scheitern schlussendlich.
Lio hat durch ihre gewalttätige Mutter und eine Vergewaltigung ein sehr unwirkliches Verhältnis zu ihrem Körper. Sie mag keinen Körperkontakt, selbst Umarmungen von Freunden empfindet sie als unangenehm. Auch neigt sie dazu alles mit sich selbst auszumachen, es anderen Recht zu machen und ihre Bedürfnisse hinten an zu stellen. Sie zeigt selbstverletzendes Verhalten und gibt sich für alles die Schuld. Während Max mir anfangs sehr sympathisch war und ich das Gefühl hatte, dass er eine Unterstützung für Lio sein könnte, wurde im Verlauf immer mehr klar, dass er durch sein Verhalten nur Öl in die Wunde gießt. Er ist sehr egoistisch, übergeht Lio, hintergeht sie und am besten sollen immer alle Rücksicht auf ihn nehmen.
Die ungewollte Schwangerschaft setzt dem ganzen dann die Krone auf. Lio will das Kind nicht, scheint auch vor sich selbst die Schwangerschaft zu leugnen, mag sich gar nicht so recht vorstellen, wie es wäre das Kind zu bekommen und hat Angst eine schlechte Mutter zu sein. In dieser Beziehung verhält sie sich wie ich finde sehr erwachsen, ist sehr reflektiert, etwas das mir in der restlichen Geschichte etwas gefehlt hat.
Die Erzählung gibt auch tolle „Nebenrollen“ her. So mochte ich Mariam mit ihrer quirligen Art und ihrem unbrechbaren Optimismus, sowie ihrer Loyalität wahnsinnig gern. Auch Karin, Max‘ Mutter ist toll und ich hätte gern noch ein bisschen mehr von ihr gelesen.
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Ich hab mich schwer damit getan mir überhaupt eine Meinung zu dem Buch zu bilden und diese auch niederzuschreiben. Auch jetzt fällt es mir schwer, anschließend etwas dazu zu sagen. Ich glaube dies liegt daran, dass ich es einfach nirgends einordnen kann. Es ist einfach die schonungslose Schilderung einer toxischen Beziehung zweier Menschen, die schon mit sich selbst überfordert sind. Und wenn ich es als genau das sehe, fand ich es sehr gut und kann es guten Gewissens weiterempfehlen.

  • Einzelne Kategorien
  • Handlung
  • Erzählstil
  • Charaktere
  • Cover
  • Themen
Veröffentlicht am 21.06.2023

Interessant und schockierend

Über den Fluss
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Eine Psychologin, gerade frisch mit der Uni fertig, tritt eine Stelle in einer Erstaufnahmeeinrichtung an. Sie hat den Anspruch zu helfen, möchte das System, welches in ihren Augen absolut dysfunktional ...

Eine Psychologin, gerade frisch mit der Uni fertig, tritt eine Stelle in einer Erstaufnahmeeinrichtung an. Sie hat den Anspruch zu helfen, möchte das System, welches in ihren Augen absolut dysfunktional ist, sozusagen von innen umkehren, muss aber schon bald feststellen, dass ihr die Hände gebunden sind. Sie ist dort lediglich dazu da Ruhe rein zu bringen und den „Gästen“ das Versprechen anzunehmen, sich für die Zeit der „Behandlung“ nichts anzutun. Therapiert wird nicht wirklich, da dies niemand zahlt und wenn man überhaupt von Behandlung sprechen kann, dann höchsten mit dem Verschreiben von Medikamenten. Dies alles führt dazu, dass sie irgendwann abstumpft und einen folgenschweren Fehler begeht.
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In diesem Buch treffen Welten aufeinander. Auf der einen Seite ist da die namenlose Protagonistin, die tief in ihrem Kern die Welt verbessern will. Auf der anderen Seite befindet sich die harte Realität.
Die Schilderungen der Zustände in der Erstaufnahmeeinrichtung schockieren: viele Menschen auf engstem Raum, Ungeziefer, Lautstärke, keine Privatsphäre, schlechte medizinische Versorgung… auch die Einblicke ins Asylsystem und die Behandlung von Menschen, die sich hier ein besseres und vor allem sicheres Leben erhoffen und dabei oft Monate, manchmal Jahre in einer solchen Einrichtung ausharren, machen wütend. Und ich denke das beides sehr realistisch dargestellt ist.
Man erfährt von vielen Einzelschicksalen, von vielen psychischen Erkrankungen, die die Flucht, die Erlebnisse, welche dazu geführt haben und die Isolation mit sich bringen. PTBS und Depressionen kommen verhältnismäßig häufig vor und das schlimmste für mich war zu lesen, wie damit umgegangen wird. Die Personen werden mit vielen Medikamenten ruhig gestellt, im Zweifel in die geschlossene Psychiatrie eingewiesen, aber wirkliche Hilfe findet nicht statt.
Trotz der Anonymität der Protagonistin konnte ich mich gut in ihre Lage versetzen, ihr Entsetzen teilen und auch die Ohnmacht und Hilflosigkeit gegenüber dem System spüren.
Pleitner versteht sich gut darauf, Gefühle zu beschreiben und nichtsdestotrotz eine gewisse Disstanz zu dem Geschriebenen zu wahren. Ihr Schreibstil liest sich sehr leicht, kommt ohne große Ausschmückung und Drama aus, was mir gut gefallen hat.
Das Ende kam mir dann doch etwas zu überstürzt, fühlte sich irgendwie nicht richtig auserzählt an, passt aber in der Retrospektive ganz gut zu dem Buch.
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Eine Empfehlung für alle die sich für das Thema interessieren und einen Blick über den Tellerrand werfen wollen.

Veröffentlicht am 16.06.2023

Was von Familie bleibt, wenn die Liebe geht

Aufrappeln
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Mal wieder ist mir als erstes das Cover ins Auge gestochen. Es kontrastiert durch die traurig, die Köpfe hängenden Tulpen und die frische hellgrüne Farbe, sodass ich sofort neugierig war, was es damit ...

Mal wieder ist mir als erstes das Cover ins Auge gestochen. Es kontrastiert durch die traurig, die Köpfe hängenden Tulpen und die frische hellgrüne Farbe, sodass ich sofort neugierig war, was es damit auf sich hat.
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Judith ist mit ihrem Leben zufrieden. Sie hat es sich mit Mann und Kind gemütlich eingerichtet und kann nicht klagen.
Als sie eines morgens einen Rattenkopf in der Toilette entdeckt, ist das der Beginn einer Berg- und Talfahrt. Kurz darauf trennt sich ihr Freund und was folgt ist eine turbulente Zeit mit Umzug, Selbstfindung und der Frage: wie kann man trotz Trennung gemeinsam für das Kind da sein.
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In „aufrappeln“ treffen wir auf ein Thema, dass viele irgendwann einmal betroffen hat oder betreffen könnte: Wie geht es nach der Trennung weiter, wenn ein gemeinsames Kind im Spiel ist. Während man eigentlich alles hinter sich lassen, die andere Person komplett aus seinem Leben ausschließen und seine Wunden lecken will, ist dies nun mal keine (gute) Option wenn es gemeinsamen Nachwuchs gibt.
Auf knapp 160 Seiten beschreibt Poznan eine mögliche Lösung, setzt auf das Wechselmodell, gemeinsame Urlaube und ein gemeinsames Essen pro Woche. Es ist eine Idealvorstellung von Familie, die eigentlich keine mehr ist und für manche kann dies sicher gut funktionieren. Je nach Tiefe der verletzten Gefühle, kann die aber für die Beteiligten unter Umständen auch sehr schwierig werden und so merkt man auch an Judith, dass diese dies alles in erster Linie für das Kind tut. Ob dies das Beste für ein Kind ist, ist sicher Ansichtssache, Fakt ist aber das hier einige wichtige Punkte angesprochen werden, die durchaus wertvoll sind: nicht schlecht von dem Ex-Partner vor dem Kind reden, an einem Strang ziehen was die Erziehung an geht, dem Kind dadurch Stabilität in einer unsicheren Zeit aufzeigen.
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Mit viel Humor und Einfühlungsvermögen führt uns die Autorin durch diese turbulente Zeit. Es macht Spaß Judith auf ihrem Weg zu gleiten, mit ihr das ein oder andere Drama und skurrile Situationen durchzustehen. An manchen Stellen war ich zu Tränen gerührt (gerade als das Kind lieber beim Papa, als bei der Mama schlafen wollte), an anderen hab ich herzhaft gelacht.
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Ein wirklich toller Roman darüber, was es bedeutet eine Familie zu sein und zu bleiben, auch wenn die Liebe nicht mehr da ist, aber auch darüber sich aufzurappeln, sich nicht hängen zu lassen und sich neu zu erfinden, wenn sich die Lebensumstände auf einen Schlag ändern.
Sehr große Empfehlung meinerseits.

Veröffentlicht am 14.06.2023

Tolle Geschichte über Zusammenhalt, Zulassen und Loslassen

Jahr der Wunder
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Es ist das Jahr 2020, das Jahr in dem die Corona-Pandemie ihren Anfang nahm, das Jahr in dem George Floyd gewaltsam zu Tode kam, das Jahr in dem Angst und Wut die Oberhand gewonnen haben.
In diesem Jahr ...

Es ist das Jahr 2020, das Jahr in dem die Corona-Pandemie ihren Anfang nahm, das Jahr in dem George Floyd gewaltsam zu Tode kam, das Jahr in dem Angst und Wut die Oberhand gewonnen haben.
In diesem Jahr begleiten wir Tookie, eine indigene Büchhändlerin und Ex-Strafgefangene durch ihr Leben, durch die Höhen und vor allem Tiefen, die die weltweite Gesundheitskrise und die Aufstände nach Floyds Tod mit sich gebracht haben.
Und als wäre das nicht alles aufreibend genug, muss sich Tookie auch noch mit dem Geist der verstorbenen Flora, eine der besten Kundinnen des Buchhandels, herumschlagen.
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Louise Erdrich beschreibt hier sehr zutreffend die damalige Situation und webt sie in ihre Geschichte ein. Die Angst und Verunsicherung der ersten Corona-Monate kommt wieder hoch und bleibt spürbar, ebenso die Ohnmacht und Wut bzgl. der Polizeigewalt. Die Bilder, die damals um die Welt gingen, die Berichterstattung, alles ist sofort wieder greifbar und versetzt einen in die Gefühle und Gedanken zurück.
Tookie als Protagonistin ist ziemlich unnahbar, ein Umstand den ihre Vergangenheit mit sich bringt, und trotzdem kann man sich gut in ihre emotionale Verfassung hineinversetzen.
Das Buch beginnt mit einem Rückblick auf ihre Verhaftung und die darauf folgenden Jahre in Gefangenschaft. Dies alles ist wichtig um Tookie als Person zu verstehen, vor allem in Bezug zu ihrem Verhältnis zur Literatur.
Überhaupt spielen Bücher eine große Rolle in der Erzählung und das mag ich ja immer sehr. In diesem Zusammenhang wird aufgezeigt, welche Macht, das geschriebene Wort über uns haben kann. Welch heilende Wirkung Bücher haben und das sie in der Lage sind uns durch schwere Zeiten zu begleiten.
Man erfährt viel über die indigene Bevölkerung, die verschiedenen Stämme und Traditionen, was mir wahnsinnig gut gefallen hat. Themen wie Enteignung, kulturelle Aneignung und Rassismus kommen zur Sprache.
In einer schönen, klaren Sprache beschreibt Erdrich das Leben in all seinen Facetten.
Es geht um Familie, Freundschaft, Liebe, Zusammenhalt, Aufgebehren, Widerstand. Es geht um Krankheit, Tod, neues Leben. Es geht ums Zulassen, Loslassen, Akzeptieren.
Und es geht darum, dass manche Menschen über den Tod hinaus, getrieben sind, Dinge zu Ende bringen müssen, die sie zu Lebzeiten nicht geschafft haben und den Umgang damit. Ob man nun an übernatürliche Kräfte, ein Leben nach dem Tod und Seelenwanderung glaubt oder nicht, es ist gut un schlüssig dargestellt, warum Flora geblieben ist.
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Ein gelungener Roman, der trotz der teils schweren Thematik gut zu lesen ist. Große Empfehlung.

Veröffentlicht am 22.05.2023

Tanzen gegen die Einsamkeit

Der Tanzende
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Arthur ist 10 als er das erste Mal das La Plage, einen Club in seiner Heimatstadt, betritt. Jahre später holt ihn diese Erfahrung wieder ein, als er mit Freunden feiern gehen will. Anfangs fühlt es sich ...

Arthur ist 10 als er das erste Mal das La Plage, einen Club in seiner Heimatstadt, betritt. Jahre später holt ihn diese Erfahrung wieder ein, als er mit Freunden feiern gehen will. Anfangs fühlt es sich absolut unwohl, findet keinen Anschluss, tanzt nicht, da er Angst hat sich lächerlich zu machen. Er beginnt zu trainieren, baut Muskelmasse auf und mit diesem neuen Körpergefühl lernt irgendwann auch sich zur Musik zu bewegen. Fortan verbringt er fast jede Nacht im La Plage. Nur auf der Tanzfläche, eingepfercht zwischen den Massen, fühlt er sich dazugehörig, doch seine tiefe Einsamkeit kann er damit nicht überwinden.
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Beim Lesen des Buches werden Jugenderinnerungen wach. Victor Jestin entführt die Lesenden direkt in die Clubkultur, beschreibt Partys, erwähnt Musik, zu der auch ich getanzt habe. Es ist einfach schön ein bisschen darin zu schwelgen und die damalige Zeit Revue passieren zu lassen.
Er beschreibt aber auch sehr eindringlich die Tiefe Einsamkeit eines Menschen.
Gerade dieser Kontrast hat mir wahnsinnig gut gefallen.
Der Protagonist Arthur lebt für den Club und während bei allen anderen die Zeit des Feierns irgendwann vorbei ist, ein Job, Beziehungen und eventuell Familiengründung im den Vordergrund rücken, scheint Arthur irgendwie hängen geblieben zu sein. Getrieben von dem Wunsch Anschluss zu finden, sich angenommen zu fühlen und gesehen zu werden, flieht er immer wieder in dieses Pseudoleben, in dem alles andere auf der Strecke bleibt. Nach außen hin führt er ein schillerndes Leben, ist der Star auf der Tanzfläche… Im Inneren sieht er in seinem Leben keinen Sinn. Nur das Tanzen gibt ihm wirkliche Befriedigung, aber auch nur ein paar Stunden pro Nacht.
Während man sich anfangs mit Arthur freut, seine Euphorie gut nachvollziehen kann, entwickelt sich im Verlauf mehr und mehr Mitgefühl für den Protagonisten und auch ein gewisses Unverständnis, da er selbst nicht zu sehen scheint, dass sein Lebensstil ihn immer mehr in die Isolation treibt, die er eigentlich zu überwinden versucht.
Auf gerade mal 206 Seiten schafft es der Autor einen tiefen Einblick in mehrere Jahrzehnte eines Menschen zu geben und seine Gefühlswelt zu offenbaren.
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Ein wirklich tolles Buch und eine große Empfehlung von mir.

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