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Veröffentlicht am 01.07.2018

Hintergründig

Der Graben
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Beruflich und gesellschaftlich erfolgreich und absolut von sich selbst überzeugt, zeigt der Amsterdamer Bürgermeister Robert Walter dennoch eine nicht unbedeutende Schwäche: ihn plagt die Eifersucht. In ...

Beruflich und gesellschaftlich erfolgreich und absolut von sich selbst überzeugt, zeigt der Amsterdamer Bürgermeister Robert Walter dennoch eine nicht unbedeutende Schwäche: ihn plagt die Eifersucht. In dem Dezernenten Maarten Van Hoogstraaten glaubt er einen Konkurrenten um die Gunst seiner Frau zu erkennen. Nun sucht er nach Hinweisen für eine mögliche Affäre der beiden und interpretiert jedes Wort, jede Geste seiner Frau und seines Arbeitskollegen.
Doch es geht dem Autoren nicht nur um Walters Unsicherheit und Skepsis. Herman Koch spricht ganz aktuelle, ernste Themen an, wie etwa Flüchtlingsproblematik, Fremdenhass, Umweltprobleme, Selbstmord und erweiterten Suizid. Hautnah und gänzlich ungefiltert erhalten wir Einblick in die Gedankenwelt des Protagonisten und erleben gewissermaßen durch seine Sicht seinen Alltag.
Wie gewohnt schlägt Koch bei seinen Milieuschilderungen einen lockeren, leichten Ton an. Mit Witz und Ironie zeigt er menschliche Schwächen auf und verbindet auf geistreiche Art Unterhaltung mit Tiefsinn. So wie Robert Walter als Protagonist und Mittelpunkt des Romans fungiert, so empfindet er sich auch selbst als Zentrum, sein ganzes Denken kreist um sein Ego. Und das ist nicht der einzige „Graben“, der sich zwischen Walters Sicht auf die Welt und der Realität auftut.
Mein Fazit: Ein hintergründiger Roman, der es schafft, auf spannende und amüsante Art zum Nachdenken anzuregen.

Veröffentlicht am 26.06.2018

Auch heute noch aktuell

Von dieser Welt
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„Children have never been very good at listening to their elders, but they have never failed to imitate them. They must, they have no other models.“ ( „Kinder haben noch nie sehr gut auf ihre Eltern gehört, ...

„Children have never been very good at listening to their elders, but they have never failed to imitate them. They must, they have no other models.“ ( „Kinder haben noch nie sehr gut auf ihre Eltern gehört, aber sie haben sie bisher noch immer nachgeahmt. Sie haben keine anderen Vorbilder.“)
Dieses Zitat von James Arthur Baldwin könnte thematisch - unter anderem - seinem Buch zugrunde liegen. Sein Roman trägt unverkennbar zahlreiche autobiografische Züge. Der Schriftsteller lässt eigene Erfahrungen einfließen, wenn er sehr eindringlich die Seelenqualen seines 14jährigen Protagonisten John Grimes beschreibt, der mit Mutter, Stiefvater und jüngeren Geschwistern im Harlem der 30er Jahre aufwächst. In die Rahmenhandlung um John, welcher der fanatischen Gläubigkeit seines älteren Freundes Elisha und dessen „Erweckung“ in der afroamerikanischen Kirchengemeinde nachzueifern sucht, hat Baldwin (1924 – 1987) einzelne Kapitel eingebettet, die die Geschichte seiner Vorfahren (und somit auch Johns Entwicklung) verdeutlichen. In einer wunderbaren Sprache, reich an Bildern und Vergleichen, erzählt Baldwin die Lebensgeschichten des Stiefvaters, der Mutter und der Tante Florence, die teilweise noch als Sklaven im Süden der USA ihr Leben fristeten. Gesellschaftliche Unterdrückung und Gewalt prägen das Leben dieser Randgruppe, ihre Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit treibt sie in die Arme der Kirche. Und so nehmen Kirche und Glauben im Frust des täglichen Lebens der schwarzen Bevölkerung eine exponierte Stellung ein; die Erwartung eines besseren Lebens nach dem Tod und der damit verbundene Trost im Diesseits, Predigten, Bibelzitate und Gospels beherrschen das Leben in Johns Familie. Passenderweise heißt der Originaltitel des Romans (erstmals erschienen im Jahre 1953) denn auch „Go tell it to the Mountain“. In deutscher Übersetzung kam Baldwins Buch allerdings erst 1966 auf den Markt - doch die Thematik ist auch heute noch von großer Aktualität.

Veröffentlicht am 18.06.2018

Vertreibung und Neuanfang

Häuser aus Sand
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„Das Leben hat sie mit sich gerissen wie eine kleine Muschel, die an Land geschwemmt wird, ist über sie hinweggespült …“
Eine Erkenntnis am Ende ihres Lebens, die sicher viele alte Leute nachvollziehen ...


„Das Leben hat sie mit sich gerissen wie eine kleine Muschel, die an Land geschwemmt wird, ist über sie hinweggespült …“
Eine Erkenntnis am Ende ihres Lebens, die sicher viele alte Leute nachvollziehen können - in diesem Roman ist es Alia, die darüber nachdenkt, welche Umstände ihr Leben gelenkt haben. Sie hat als Kind die Vertreibung ihrer Familie aus Jaffa und den Neubeginn der Eltern Salma und Hussam in Nablus (Westjordanland) erlebt, zieht mit ihrem Mann Atef drei Kinder groß und muss im Verlauf der Nahostkrisen und -kriege nach Amman (Jordanien) und Kuwait übersiedeln. Der Nahostkonflikt schwebt auch über den nachfolgenden Generationen der Familie wie eine dunkle Wolke und beeinflusst ihr Leben. Dabei können sich die Yacoubs als wohlhabende Leute immerhin einen gehobenen Lebensstil leisten - im Gegensatz zu den meisten anderen Flüchtlingen, die (teilweise noch heute) in ärmlichen Lagern ihr Dasein fristen müssen.
Hala Alyan erzählt lebendig und eindrucksvoll vom Schicksal mehrerer Generationen. In jedem Kapitel wechselt sie die Sichtweise und lässt ein anderes Familienmitglied zu Wort kommen, wobei es ihr gelingt, sich glaubhaft in die unterschiedlichen Charaktere einzufühlen. Anschaulich schildert sie die Lebensumstände und auftretenden Probleme. Allerdings ist es für einen Leser, der mit dem Nahostkonflikt und seinen Ursachen nicht näher vertraut ist, etwas schwierig, diese nachzuvollziehen. Vertreibung, Flucht, Verlust der Heimat und all der Dinge, auf die man vertrauen kann, Neuanfang - was bedeutet das für die Betroffenen? Wie stark sind die Nachkommen noch mit diesen Problemen belastet? Das sind Themen, die natürlich nicht nur für Palästinenser gelten, sondern in vielen anderen Kulturen ebenso aktuell sind. „Häuser aus Sand“ bieten weder Schutz noch Zukunft; doch ein Neustart ist immer möglich, wie Hala Alyan in ihrer Familienchronik zeigt.

Veröffentlicht am 13.06.2018

Scheinbar unscheinbar

Ein ganzes Leben
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Ein hartes Leben ist es, das Andreas Egger in einem Tal, irgendwo in Österreichs Bergen führt. Als Waisenkind einem hartherzigen Verwandten anvertraut, der Andreas nur als Arbeitskraft betrachtet, ist ...

Ein hartes Leben ist es, das Andreas Egger in einem Tal, irgendwo in Österreichs Bergen führt. Als Waisenkind einem hartherzigen Verwandten anvertraut, der Andreas nur als Arbeitskraft betrachtet, ist er es gewohnt, ein karges Außenseiterdasein zu fristen. Dass es Liebe gibt, erfährt er zum ersten (und einzigen) Mal, als er Marie trifft. Gemeinsam bauen sie ein einfaches Leben auf, zufrieden mit dem Wenigen, was sie erreichen. Doch das Schicksal will es anders - wie so oft in Andreas´ Leben.
Seethalers Roman beginnt um 1902 und reicht bis in die Siebziger Jahre. Er umfasst eine turbulente Zeitperiode, voller politischer und industrieller Umwälzungen. Im Gegensatz dazu steht Andreas´ Leben, das sich (oberflächlich gesehen) eher unscheinbar an einem entlegenen Winkel der Welt abspielt. Der Fortschritt berührt ihn nicht sehr, er lebt von und mit der Natur, liebt die Stille und Majestät der Berge. Man hat den Eindruck, er wird eher von Veränderungen mitgezogen, als dass er aktiv wird. Geduldig, ohne aufzubegehren, nimmt er die Ereignisse wie sie kommen. Dabei wird weder Pathos sichtbar noch große Dramatik. Überhaupt bedient sich Robert Seethaler einer schlichten, ruhigen Sprache, die wunderbar zu Andreas´ Charakter passt. Leicht und fließend liest sich die Geschichte, wie eigentlich alle Bücher, die der Autor geschrieben hat. Er hat einen dichten, aussagekräftigen Roman geschaffen, der ein ganzes Menschenleben erzählt, zusammengesetzt aus vielen eindrucksvollen Szenen - still und zurückhaltend wie sein Held Andreas Egger.

Veröffentlicht am 31.05.2018

Gedenken an die Liebsten

Für immer
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„Im Moment, als ich glaube, angekommen zu sein, endet alles. Für immer.“
Von einem Tag auf den anderen steht Georg Metger vor den Scherben all seiner Hoffnungen und Zukunftsträume: seine langjährige Partnerin ...

„Im Moment, als ich glaube, angekommen zu sein, endet alles. Für immer.“
Von einem Tag auf den anderen steht Georg Metger vor den Scherben all seiner Hoffnungen und Zukunftsträume: seine langjährige Partnerin Carla, ihre Söhne Davin und Dion und Simona, die Freundin des ältesten Sohnes, werden brutal ermordet. Dieser schreckliche Mordfall erschüttert nicht nur die kleine Gemeinde Rupperswil, sondern wird über die Schweizer Grenzen hinaus bekannt. Wie kann man solch einen Schicksalsschlag verarbeiten? Kann man sich überhaupt jemals damit abfinden?
In seinen Aufzeichnungen hat Metger versucht, sich vieles von der Seele zu schreiben. Aus diesen Notizen ist nun mit Hilfe der Journalistin Franziska Müller ein Buch entstanden, das weniger eine Abrechnung mit dem Täter ist, sondern vor allem die Erinnerung an die Opfer aufrecht erhalten soll. Denn meist treten diese bei einem spektakulären Kapitalverbrechen in den Hintergrund, während dem Täter das meiste Interesse gilt. Sehr ehrlich und ergreifend, aber keineswegs larmoyant, schreibt Metger über seine anfängliche Fassungslosigkeit und den Schmerz über den Verlust seiner Liebsten. Ebenso eindrücklich berichtet er über die Zeit, in der er selbst und andere Familienglieder unter Tatverdacht standen, die lange Dauer des Wartens auf die Ergreifung und Anklage des Mörders. Auch der (Alb-)Druck des großen Medieninteresses, die Sensationslust vieler Menschen, ist ein wichtiges Thema. Und während er noch versucht, das Geschehen zu verarbeiten, kommt eine Menge an Formalitäten auf ihn zu. Aber auch andere Aspekte werden angesprochen, so etwa der Beistand von Familienmitgliedern, Freunden und Arbeitgeber oder auch die psychologische Opferhilfe. Metgers Buch zeigt eindrucksvoll die Verfassung eines Hinterbliebenen von Gewaltopfern, die Fragen, Zweifel und Probleme, denen er sich stellen muss. Nein, dieses Buch lässt sicherlich niemanden kalt.