Was ist ein Menschenleben wert?
Die spürst du nichtDaniel Glattauers neuer Roman ist gesellschaftskritisch und bewegend. Er regt zum Nachdenken an und hat mich, nachdem ich die letzte Seite gelesen habe, noch lange beschäftigt.
Unsere Hauptpersonen sind ...
Daniel Glattauers neuer Roman ist gesellschaftskritisch und bewegend. Er regt zum Nachdenken an und hat mich, nachdem ich die letzte Seite gelesen habe, noch lange beschäftigt.
Unsere Hauptpersonen sind Melanie und Engelbert Binder, eine Winzerfamilie aus Niederösterreich und ihr neunjährigen Sohn Benjamin, sowie die befreundete Wiener Familie Strobl-Martinek. Elisa ist Nationalratsabgeordnete der Grünen und ihr Mann Oskar, Dozent an der Universität. Sie haben zwei Töchter: Lotte und Sophie Luise. Beide Familien sind gutsituiert und kommen aus der gehobenen Mittelschicht. Gemeinsam machen sie Urlaub in der Toskana. Damit die 14-jährige Sophie Luise gleichaltrige Gesellschaft hat, nehmen die Strobl-Martineks das somalische Flüchtlingsmädchen Aayana mit in den Urlaub, mit der sich ihre Tochter ein bisschen angefreundet hat. Die Grünpolitikerin sieht sich mit diesem Statement schon auf den bereits in Aussicht gestellten Ministerposten. Doch kaum sind die beiden Familien in der Villa angekommen, kommt es zur Katastrophe an der schlussendlich alle zu zerbrechen drohen.....
Die Medien schlachten die Tragödie aus. Man konzentriert sich auf die Strobl-Martineks und lässt die Binders außen vor. Das große Thema ist das somalische Flüchtlingskind und die Grünpolitikerin. Niemand kümmert sich um die zurückgebliebene Flüchtlingsfamilie oder um Sophie-Luise, die sich immer mehr abkapselt und in sich selbst zurückzieht. Die Eltern merken nichts davon. Mutter Elisa ist selbst zu vielen Anfeindungen ausgesetzt und Vater Oskar fühlt sich sowieso nicht verantwortlich für das Drama. Er wollte ja nie, dass Aayana mitkommt...
In einem Internetforum findet Sophie-Luise einen jungen Mann, der sich ihre Probleme anhört und sie versteht. Das Teenagermädchen flüchtet immer mehr in diese Welt und verliebt sich in den Unbekannten. Beim Lesen schrillten bei mir alle Alarmglocken! Das Tüpfelchen auf dem i kommt allerdings noch, denn obwohl die italienische Polizei die beiden österreichischen Familien von jeglicher Schuld frei sprach, meldet sich ein Anwalt bei den beiden Familien und fordert im Namen der Flüchtlingsfamilie Schmerzensgeld in überdurchschnittlicher Höhe ein. Es kommt zu einem juristisches Nachspiel.
Abwechselnd wird aus der Sicht von Mutter Elisa und Tochter Sophie-Luise erzählt. Schon zu Beginn erkennt man, dass die Ehe der Strobl-Martineks nicht gut läuft. Oskar muss ständig seine geistige Überlegenheit mit besserwisserischen Bemerkungen demonstrieren. Elisa hat seit geraumer Zeit einen Liebhaber, der ihr jedoch vor dem Urlaub "abhanden" kommt.
Neben den beiden Sichtweisen streut der Autor auch Kommentare aus den sozialen Netzwerken zu Zeitungsartikel oder Interviews ein. Diese sind unheimlich authentisch, wenn man selbst schon Kommentare zu diversen Begebenheiten gelesen hat. Dadurch lässt sich der Roman sehr kurzweilig lesen.
Glattauer versteht es seinen gesellschaftskritischen Roman mit Wortwitz zu füllen. Obwohl das Thema alles andere als amüsant ist, schafft er es den schweren Stoff immer wieder aufzulockern. Man wird nachdenklich, aber man wird nicht hinuntergezogen. Man befasst sich mit der Thematik und nickt unwillkürlich bei einigen Passagen oder man schüttelt bei anderen wiederum nur unverständlich den Kopf. Vorallem die Scheinheiligkeit und die Ignoranz gewisser Menschen, denen es in Wirklichkeit nur um sich selbst geht, stellt Glattauer meisterlich dar. Manche Charaktere sind gewollt überzeichnet und stereotyp.
Im Verlauf des Romans fragt man sich unweigerlich, warum nicht näher auf die Familie von Aayana eingegangen wird und wie diese mit dem Verlust zurechtkommen. Glattauer hat das nicht ohne Grund getan, denn deren Schicksal geht wirklich unter die Haut und berührt zutiefst und ist doch nur stellvertretend für viele Menschen auf der Flucht, die aus ihrer Heimat vertrieben worden sind.
Fazit:
Daniel Glattauer hat eine Sozialstudie in Romanform geschrieben, deren Botschaft zum Nachdenken anregt. Eine Geschichte, die unter die Haut geht und nachhallt. Von mir gibt es eine Leseempfehlung!