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Veröffentlicht am 15.07.2019

Bellmans Tochter

WEST
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In einer Zeitung liest er von den großen Tieren und er muss sich auf den Weg machen, um sie zu suchen. Im Jahr 1815 verlässt Cy Bellman seine 10jährige Tochter Bess. Mit einem schwarzen Zylinder und einem ...

In einer Zeitung liest er von den großen Tieren und er muss sich auf den Weg machen, um sie zu suchen. Im Jahr 1815 verlässt Cy Bellman seine 10jährige Tochter Bess. Mit einem schwarzen Zylinder und einem langen Mantel, zu Pferd und bewaffnet, einige Dinge im Gepäck, die sich zum Eintauschen eignen. Er verspricht, seiner Tochter so häufig wie möglich zu schreiben. In der Obhut ihrer Tante, die von Bellmans Unternehmung absolut nichts hält, beginnt Bess auf Nachricht von ihrem Vater zu warten. Bellman reitet westwärts, dahin wo er sein Ziel vermutet. Häufig schreibt er, aber wichtiger ist ihm seine Expedition.

Bellmans Leben ist etwas eingefahren, seine geliebte Frau ist allzu früh gestorben, seine Maultierzucht ist erfolgreich, aber auch ein Einerlei. Seine Tochter Bess kann ihn nicht halten, zu sehr ist er auf sein Abenteuer fixiert. Die Sehnsucht nach der Ferne ist zu groß. Sein Weg ins Ungewisse ist beschwerlich, doch beschwerlich es auch für Bess, ohne ihren Vater groß zu werden. Die daheim gebliebenen halten seine Reise für den größten Unsinn und das kann Bess nicht gelten lassen. Doch die Briefe ihres Vaters lassen auf sich warten.

Die Schauplätze in diesem ergreifenden Roman wechseln zwischen Bess’ Erlebnissen und denen ihres Vaters hin und her. Als Leser weiß man also, wie es in beider Welt zugeht. Man erfährt den Enthusiasmus, mit dem sich Bellman auf den Weg macht. Und man erlebt Bess’ Trauer über das Fehlen ihres Vaters, ihr Leben mit der strengen Tante und dem Nachbarn, der bei der Bewirtschaftung des Hofes hilft. Ob dessen Hilfe so selbstlos ist? Je länger ihr Vater fort ist, desto sehnsüchtiger beginnt Bess zu warten. Und je länger Bellman vergeblich nach den großen Tieren fahndet, desto häufiger werden die Gedanken an seine Tochter und desto größer wird seine Hoffnung, dass seine Briefe sie erreichen.

Eine einfache Geschichte von Vater und Tochter, eine Geschichte, die abgerundet ist, die traurig ist, vergeblich, sehnsuchtsvoll und doch eine große Stärke ausdrückt. Zu Beginn ahnt man nicht, welche Reise einem bevorsteht, mit jeder Leseminute, die vergeht, wird man immer mehr berührt von Bellmans und Bess’ Schicksal. Dieser Roman ist ein echtes Kleinod aus der Zeit des wilden Westens, in der der Forschergeist manchmal stärker war als die Liebe zum eigenen Kind.

Veröffentlicht am 21.06.2019

Die Vier

All die unbewohnten Zimmer
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Aus einem Haus heraus wird eine Frau erschossen und ein Polizist schwer verletzt. Kommissarin Fariza Nasri fordert zwar Verstärkung an, doch allein betritt sie das Haus, aus dem die Schüsse kamen. Zum ...

Aus einem Haus heraus wird eine Frau erschossen und ein Polizist schwer verletzt. Kommissarin Fariza Nasri fordert zwar Verstärkung an, doch allein betritt sie das Haus, aus dem die Schüsse kamen. Zum Glück tritt kein weiteres Unheil ein, der Täter ist bereits geflohen. Ein eher mittelmäßiger Neuanfang nach der Sache damals, wegen der sie jahrelang in der Provinz Dienst schieben musste. Ihr Chef Polonius Fischer ist nicht ganz zufrieden, baut aber weiter auf ihre Qualität als Ermittlerin. Bald muss der pensionierte Polizist Jakob Franck einem Vater eine Todesnachricht überbringen. Und der inzwischen als Privatdetektiv arbeitende Tabor Süden bekommt den Auftrag eine verschwundene Person zu suchen.

Hier stehen sie schließlich zusammen, die vier Ermittler besonderer Güte. Ein Geflecht aus Fällen, die möglicherweise zusammenhängen oder auch nicht. Ein Jeder, eine Jede trägt etwas bei, sei es Spürsinn, Kombinationsgabe oder einfach das Kribbeln im Nacken, das untrüglich sagt, hier stimmt was nicht. Jeder auf seine Weise gräbt nach der Wahrheit, eine Wahrheit, die man, nachdem man sie unter den Schichten der Lüge hervorgezerrt hat, vielleicht lieber nicht gewusst hätte. München scheint ein Moloch aus Verbrechen, Hass und Gewalt zu sein. Ein Ort, an dem es nur kleine Inseln der Hoffnung gibt, Menschen, die über sich hinauswachsen, die für andere einstehen. Wie soll die Polizei noch ihre Arbeit tun, wenn sie selbst von der Gewalt durchströmt ist.

Im ersten Moment kommt schon die Frage auf, ob es etwas zu viel ist, die geballte Kraft der aufrechten Kämpfer für Wahrheit und Gerechtigkeit zu vereinen. Doch folgt man den feinen Verästelungen der Handlung, stellt man bald fest, dass jeder auf seine Art gebraucht wird. In diesem düsteren Bild unserer Gesellschaft, verliert man fast die Hoffnung auf eine andere Zeit. Man wünscht die Düsternis möge sich selbst zu viel werden und sich andere Gestade suchen. Ein Funke aufrechten Handelns möge eine farbenfrohe Helligkeit entfachen, eine Aufbruchstimmung, die eine freiere Welt verheißt. Und wenn es dazu dieser vier standhaften Ermittler bedarf, dann nimmt man ihre Hilfe gerne an.


Veröffentlicht am 13.06.2019

Der Bär

Die stille Tochter
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Vor vielen Jahren hat sich eine junge Frau aus einer Sportmannschaft bei einem Aufenthalt in Oslo in den Westen abgesetzt. Sie ist am Ziel ihrer Träume und wird doch nicht glücklich. Und irgendwann ist ...

Vor vielen Jahren hat sich eine junge Frau aus einer Sportmannschaft bei einem Aufenthalt in Oslo in den Westen abgesetzt. Sie ist am Ziel ihrer Träume und wird doch nicht glücklich. Und irgendwann ist sie nur noch eine vermisste Person. Als im Jahr 2016 in einem See eine Frauenleiche gefunden wird, ist es Tommy Bergmann, der versucht etwas über die Identität der Toten herauszufinden. Noch nach der langen Zeit ist erkennbar, dass die Frau keines natürlichen Todes gestorben ist. Und so wird aus einem Leichenfund unversehens eine Mordermittlung, in die bald auch der Geheimdienst eingreift.

Der kalte Krieg, lange vorbei, so glaubt man wenigstens, und doch bietet er einen fesselnden Hintergrund zu diesem packenden Kriminalroman. Tommy Bergmann hat sich gefangen, bleibt aber doch er selbst. Mit Ecken und Kanten und nicht immer im Sinne seines Vorgesetzten handelnd, so kennt man ihn. Zum Teil wird seine Art genutzt, um zweifelhafte Aktionen auszuführen, dann wieder wird sie ihm vorgehalten, um ihm mit Jobverlust zu drohen. Gerade so wie es passt. Tommy Bergmann bleibt am Ball, ihm geht es um die Wahrheit und nicht um die Produktion eines Ergebnisses, das manchen gut in den Kram passen würde.

Ist der kalte Krieg überhaupt jemals zu Ende gewesen? Jedenfalls wirkt er in die Gegenwart nach und hat manche Menschen nie losgelassen. In den 1970ern und 80ern war manchmal nicht mehr klar, wer Freund und wer Feind ist. Jeder spionierte gegen jeden und eine junge Frau gerät zwischen die Fronten. Durch die Flucht hat sie jeglichen Kontakt zu ihrer Familie verloren, allein muss sie ihre Entscheidungen treffen. Man könnte meinen Tommy Bergmann ist in einer ähnlichen Situation, ein Einzelgänger, der manchmal keine Rücksicht auf Verluste nimmt. Mit fein ziselierten Worten schildert der Autor wie Bergmann bei seinen Ermittlungen vorgeht. Stück für Stück deckt er die Strukturen auf, die die junge Frau damals umgaben und letztlich zu ihrem Tod führten. Durch den Wechsel zwischen Rückblende und Gegenwart wird der Leser langsam in immer größer werdende Anspannung versetzt. Welches Bild wird sich am Ende ergeben. Die gekonnte Mischung aus Politthriller und Mordermittlung ist sehr überzeugend. In diesem Fall ist nichts so wie es scheint.


Veröffentlicht am 11.06.2019

Florida Industrial

Die Nickel Boys
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Elwood scheint vom Leben begünstigt zu sein. Er lebt bei seiner Großmutter, die ihrem Enkel ein besseres Leben wünscht. Sie hält ihn an fürs College zu sparen, obwohl farbige Jugendliche in den 1960ern ...

Elwood scheint vom Leben begünstigt zu sein. Er lebt bei seiner Großmutter, die ihrem Enkel ein besseres Leben wünscht. Sie hält ihn an fürs College zu sparen, obwohl farbige Jugendliche in den 1960ern kaum eine Chance haben, eine höhere Schule zu erreichen. Ruhig, mit großem Gerechtigkeitssinn, beseelt von Dr. Martin Luther King ergreift Elwood die Möglichkeit, an einem Kurs am College teilnehmen zu können. Doch gerade in seinem glücklichsten Moment schlägt das Unheil zu. Obwohl er nur zur Schule trampen wollte, wird er als sich herausstellt, dass das Fahrzeug, in dem er nur Beifahrer ist, gestohlen war, zu einem Aufenthalt in einer Besserungsanstalt verurteilt.

Auch in seinem neuesten Werk greift der Autor die Thematik des Rassismus in Amerika auf. An einem Beispiel, dass einem fast das Herz rausreißen muss, stellt er die Situation zu Beginn der 1960er Jahre vor. In die gleichen Restaurants wie die Weißen dürfen sie nicht, allenfalls als Bedienstete, aber in Besserungsanstalten können die Farbigen schnell mal landen. Ein beinahe schon lächerlich nichtiges Vergehen reicht. Es ist als wolle die so genannte vorherrschende Schicht auch noch jede kleinste Chance zerstören, das sich etwas ändern kann. Gleichberechtigung bedeutet schließlich auch, dass die mal abgeben und zurückstecken, die es noch nicht gewöhnt sind. Möglicherweise eine lehrreiche Erfahrung.

Ein wenig Zeit braucht man, um in diesen Roman hineinzufinden. Doch spätestens, wenn man sich über die Ungerechtigkeit aufregt, die Elwood seiner Chancen beraubt, ist man angekommen. Auch an diesem fürchterlichen Ort bleibt Elwood ein ruhiger Vertreter, der versucht, seinen Weg möglichst schnell hinaus zu finden. Man ist dabei, die Daumen für eine Art Gelingen zu drücken und weiß doch, dass an solchen Orten der widerwärtigen Machtausübung, Daumen drücken meist nicht nützt. Elwoods Schicksal berührt, er ist ein so geradliniger Charakter, der eine gute Zukunft verdient. Mit unnachahmlicher Kunst schafft der Autor einen stillen Helden, den man so schnell nicht vergisst. Auf diesen fesselnden und nachdenklich machenden Roman will man sich gerne einlassen, auch wenn die innewohnende Tragik machmal das Herz beklemmt.

„Hier drin ist es genauso wie draußen, nur muss hier keiner mehr so tun als ob.“


Veröffentlicht am 31.05.2019

Turing

Maschinen wie ich
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Er hat einen, er hätte lieber eine Eve gehabt, aber wenigstens hat er einen Adam ergattert. Fast sein ganzes Geld ist dabei draufgegangen. Charlie Friend beginnt mit der Aufladung und Programmierung seines ...

Er hat einen, er hätte lieber eine Eve gehabt, aber wenigstens hat er einen Adam ergattert. Fast sein ganzes Geld ist dabei draufgegangen. Charlie Friend beginnt mit der Aufladung und Programmierung seines Maschinenmenschen Adam. Seine Nachbarin Miranda bezieht er mit ein, insgeheim möchte er eine intensivere Beziehung zu ihr. Charlies Konzept geht auf, Miranda und er kommen sich näher. Doch Adam, eigentlich eine Maschine, entwickelt bald eigenwillige Züge. Sollte er etwa ein Auge auf Mrianda geworfen haben? Können künstliche Wesen das überhaupt? Bald schon scheint Adam Charlie auszustechen und Charlie nimmt ihm das Versprechen ab, dass seine Freundschaft zu Miranda platonisch bleiben muss.

In einem etwas anderen England Anfang der 1980er Jahre. Der bekannte Wissenschaftler Alan Turing ist nicht früh gestorben, Computer und Internet sind viel früher entwickelt worden und Maschinen haben die Arbeit vieler Menschen übernommen. Die Eltern des Anfangdreißigers Charlie sind bereits verstorben, das Erbe durchgebracht, der letzte Rest für den Erwerb des Adams aufgewendet. Miranda, Anfang Zwanzig, sorgt sich um ihren kranken Vater und scheint in manchen Momenten sehr in sich zurückgezogen. Zu ihnen kommt einer der ersten 25 Adams und Eves. Das Zusammenleben mit der Maschine entwickelt sich anders als erwartet, denn Adam entpuppt sich schnell, er ist kein reiner Befehlsempfänger. Er saugt Informationen auf und hat ganz eigene Moralvorstellungen.

Mal wieder auf seine ganz eigene Art wirft der Autor einen Blick auf die Welt. Nur ist es diesmal eine Welt, die wir nur so ungefähr kennen. Irgendwie sind es die 1980er, irgendwie auch nicht. Schon das gibt der Lektüre einen besonderen Reiz, jedem Wiedererkennungseffekt wohnt auch etwas Fremdes inne. Hinzu kommt die Auseinandersetzung mit künstlicher Intelligenz wie es sie heute - man möchte sagen zum Glück - noch nicht gibt. Mehr als einmal schaudert es einen bei dem Gedanken, wie so eine fast menschliche Maschine agiert. Sind Menschen nicht bald überflüssig. Adam ist derjenige, der den Durchblick zu haben scheint, der körperlich kräftig ist und moralisch eine Instanz bildet. Charlie und Miranda wirken dagegen manchmal etwas unzulänglich in ihren Entscheidungen, sprunghaft in ihren Gedanken und Emotionen. Wer mag bei dieser Aussicht auf die Zukunft nicht verzweifeln. Doch Ian McEwan wählt einen anderen Weg, der der Menschheit eine Hoffnung gibt, die auch ertragen werden muss.

Mit diesem ausgesprochen intelligenten Werk macht der Autor seinen geneigten Lesern die große Freude, ein hochaktuelles Thema aufzuarbeiten und mit seinen Schlüssen zu überzeugen.