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Veröffentlicht am 05.11.2022

Unglaublich gut

Zwischen den Welten
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Von iranischer Erzählliteratur kann ich nicht genug bekommen, aber den Sachbüchern wollte ich eigentlich keinen neuen Titel hinzufügen. Doch dann legte mir ein lieber Mensch, dem ich auch meinen Bookbeat-Account ...


Von iranischer Erzählliteratur kann ich nicht genug bekommen, aber den Sachbüchern wollte ich eigentlich keinen neuen Titel hinzufügen. Doch dann legte mir ein lieber Mensch, dem ich auch meinen Bookbeat-Account verdanke, das Hörbuch „Zwischen den Welten“ von Natalie Amiri ans Herz. Reinhören könnte ich ja mal, dachte ich während des Hundespaziergangs...und lief und lief und lief...

„Jede Geschichte, die ich erzählen wollte, war begleitet von Herzklopfen und dem Gefühl, dieses Mal holen sie dich, dieses Mal kommst du nicht davon. Dabei hoffte ich inständig, dass sich das Risiko lohnt, dass diejenigen, die mir im Westen zuhörten, den Iran nach meinen Berichten differenzierter sehen würden: Hört hin, schaut hin! [...] Hier gibt es Menschen, die darauf hoffen, dass ihr sie unterstützt. Dass ihr sie erkennt. Dass ihr ihren Durst nach Freiheit seht und begreift. Ihren Wunsch, ein anerkannter Teil dieser Welt zu sein.“

Von 2015 bis 2020 hat Natalie Amiri als leitende ARD-Korrespondentin aus Teheran berichtet. Bis es tatsächlich zu gefährlich wurde. Ihre Erfahrungen hat sie nun in einem fesselnden und sehr persönlichen Buch veröffentlicht. Geschrieben in einer Mischung aus professioneller Distanz und Herzblut, die samt fundierter Recherche und präziser Einordnung zu gutem Journalismus beiträgt. Dass sie außerdem eine stilsichere, brillante Erzählerin und trainierte Sprecherin ist, macht das Ganze zu einem großen Hörvergnügen.

Kapitel für Kapitel setzt die Journalistin das vielschichtige, funkelnde, herzzerreißende, absurde Mosaik des gegenwärtigen Iran zusammen. Differenziert, spannend, aus erster Hand. Solidarisch mit der Zivilgesellschaft, schonungslos gegenüber dem Mullah-Regime.

Natalie Amiri erzählt vom Alltag in einer nahezu schizophrenen Parallelgesellschaft, in die eine religiöse und brutale Tyrannei die Iraner zwingt und als Volk spaltet. Hinter deren verschlossenen Türen nicht nur freies Gedankengut blüht, sondern auch maßlos Alkohol und Drogen konsumiert werden und psychische Krankheiten wuchern wie sonst kaum irgendwo.

Unerträglich wird das ganze aber nie. Anekdoten wie die vom anrührenden Wiederfinden eines uralten Familienteppichs und persönliche Erlebnisse wechseln mit Reportagen über mutige Frauen, die Kraft der sozialen Medien, die Beziehungen zu Israel oder auch die abgelauschten Kniffe eines iranischen Geschäftsmannes.
Vor allem aber berichtet sie von der Sehnsucht nach Freiheit, nach ein bisschen Normalität in diesem zerrissenen und erschöpften Land.

Um ihre Geschichten und die Botschaften zwischen den Zeilen zu transportieren, riskieren Natalie Amiri und ihr Team nicht nur ihre Pressekarten, sondern auch ihre eigene Unversehrtheit.
Eher amüsant ist da noch die Szene, in der die Autorin während einer Reportage in einem Sumpf zu versinken droht, weil der iranische Producer ihr als Frau nicht die Hand reicht, um sie herauszuziehen. Das an beiden Enden gepackte Mikrofon ist schließlich die Rettung.

Das Buch steht inzwischen auch gedruckt in meinem Regal, zum Nachlesen und Verleihen, denn ich habe selten etwas Stimmigeres gehört.
Wer es gelesen hat, wird den Iran und seine Menschen in Farbe sehen können und keinen (Exil)-Iraner mehr in die vertrackte Lage bringen, die Verhältnisse in seiner Heimat relativieren, gar beschönigen oder zur Verteidigung auf 3000 Jahre Kulturgeschichte verweisen zu müssen.
Ihre Intention, den Menschen im Iran eine Stimme zu geben, hat Natalie Amiri meiner Meinung nach bestens umgesetzt.



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Veröffentlicht am 05.11.2022

Bewegendes Zeitzeugnis

Viktor
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Es gibt ein Schweigen, das so laut ist, dass es beim Leben stört. So in etwa muss Geertje es empfunden haben. Schon früh bemerkt sie, dass mit ihrer kleinen Familie etwas nicht stimmt. Über die einst so ...

Es gibt ein Schweigen, das so laut ist, dass es beim Leben stört. So in etwa muss Geertje es empfunden haben. Schon früh bemerkt sie, dass mit ihrer kleinen Familie etwas nicht stimmt. Über die einst so zahlreichen Verwandten und ihr Schicksal wird nur verbrämt gesprochen: "Die schöne Laura? Der musikalische Otto? Die leben nicht mehr." Wünscht der jüdische Nachbar über die Hecke frohen Schabbes, ist die Mutter einer Panikattacke nah. Der Vater wirft ihr in lauten Streitereien ihr "inneres Gericht, Selbstbestrafung und Minderwertigkeitskomplexe " vor. Begriffe wie Transport, Lager oder Gas sind in jedem Kontext tabu. Dass man jüdisch ist, soll möglichst niemand wissen.
Es ist 1994 in Den Haag, als die 20-jährige Geertje das alles nicht mehr aushält. Die ausbleibenden Antworten, das unscharfe Selbstbild. Wem kann man sich zugehörig fühlen, wenn man nicht weiß, wer man ist? Ein "Paprika-Jantschi, laut, lebhaft, direkt, neugierig, unbesonnen"? Eine Vielleserin, wie alle Rosenbaums, aber nicht ganz so musikalisch? Oder wie der rätselhafte, schillernde Viktor, Bruder des Großvaters, mit dem sie manchmal verglichen wird ? Na bitte schön, dann eben Rebellin. Geertje flieht nach Nimwegen, ändert ihren Namen in Judith und begibt sich auf eine radikale Suche - nach Identität, alten Familiengeheimnissen und - Viktor.
Angelehnt an die Historie ihrer Familie hat die 52jährige niederländische Autorin Judith Fanto einen preisgekrönten Debütroman geschrieben, den man nicht mehr aus der Hand legen kann.
In zwei parallelen Erzählsträngen verknüpft Fanto ein ungewöhnliches Coming-of-Age mit der um die Jahrhundertwende beginnenden Geschichte der großbürgerlichen Wiener Familie Rosenbaum, in deren Mittelpunkt der unangepasste wie großherzige Lebemann Viktor steht.
Wortgewandt, leicht und humorvoll treibt die Autorin die Handlung voran. Die detailreichen, atmosphärischen Beschreibungen, spritzige, prägnante Dialoge und ein empathischer Blick auf die versammelten Figuren, die allesamt Charakter besitzen, machen das Lesen zu einem Vergnügen, selbst als am Horizont das Unheil dräut. Und hier befinde ich mich im Zwiespalt.
Es gibt durchaus Passagen, bei denen man heftig schlucken muss, aber im Großen und Ganzen wird der Lesende doch sehr vor der historischen Wahrheit beschützt. Man muss nicht alles benennen, um es fühlbar werden zu lassen, aber hat die Autorin die Diskretion und Verbrämung stärker verinnerlicht als ihrer Roman-Judith lieb wäre?
Vielleicht schafft gerade das aber auch den Zugang zum komplexen Thema:
Das Grauen der Judenverfolgung; die von Außenstehenden schwer fassbare „Überlebensschuld“ der Geretteten; die interne Hierarchie der Opfer; das Schweigen, das noch die nachfolgenden Generationen prägt, und nicht zuletzt die immer gültige Frage, was uns als Menschen ausmacht. Das Buch berührt, bildet, unterhält und klingt nach. Lesen!







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Veröffentlicht am 05.11.2022

Gemütlicher Krimi der alten Schule

Das Geheimnis von Greenshore Garden
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Zur Auswahl bei der #readchristie2021 challenge steht in diesem Monat ein Titel, in dem ein Garten eine Rolle spielt.
Was lag da näher als jene Novelle, die durch Agatha Christies Landsitz Greenway inspiriert ...

Zur Auswahl bei der #readchristie2021 challenge steht in diesem Monat ein Titel, in dem ein Garten eine Rolle spielt.
Was lag da näher als jene Novelle, die durch Agatha Christies Landsitz Greenway inspiriert und schließlich auch dort verfilmt wurde : Das Geheimnis von Greenshore Garden. Erst 2013 in Großbritannien wiederentdeckt und neu aufgelegt, ist diese Geschichte zwar eine der kürzesten Romanveröffentlichungen Christies, doch dafür umso dichter und in der Auflösung überraschender.
🕵🏻‍♂️🌳🌹
Die Kriminalschriftstellerin Ariadne Oliver soll anlässlich des Sommerfestes auf Greenshore eine Mörderjagd inszenieren. Bei den Vorbereitungen beschleicht sie das ungute Gefühl, manipuliert zu werden und wendet sich hilfesuchend an ihren alten Freund Hercule Poirot, der sofort an den Ort des Geschehens reist. Obwohl er weises Verständnis für die nervösen Ahnungen seiner Bekannten an den Tag legt, befürchtet er zunächst, den Weg umsonst gemacht zu haben. Doch dann liegt im Bootshaus des Anwesens tatsächlich eine Leiche, und die Dame des Hauses ist spurlos verschwunden…
🕵🏻‍♂️🌳🌼
Wie so oft glaubt der Lesende recht schnell zu wissen, wo es langgeht. Denn dass mit diesem merkwürdigen Tempelbau im Wald etwas nicht stimmt, ist allzu offensichtlich. Doch dann tappt man wie immer in die Falle der Queen of Crime, verirrt sich auf den geschickt verschlungenen Pfaden. Die Novelle besticht durch einen äußerst raffinierten Plot, ein wie üblich illustres Figurenensemble, sorgsam gestreute Hinweise, die sich erst im Nachhinein erschließen, aber wie bei ihrer Heldin ein unterbewusstes Ahnen erzeugen, und natürlich durch den sympathischen Herrn und Meister der grauen Zellen.
🕵🏻‍♂️🌳🌸
Als „einladend“ bezeichnet Agatha Christies Enkel Matthew Pritchard in seinem berührenden Vorwort die Erzählungen seiner Großmutter, und genauso empfinde ich sie auch. Von der ersten Zeile kann man sich dem wohligen Schauder einer nicht allzu gruseligen Handlung hingeben und nebenbei auch die eigene Kombinationsgabe trainieren.
Das Bändchen ist eine besondere Cosy Crime Praline und schnell vernascht. Als Zugabe haben wir uns deshalb die Verfilmung „Wiedersehen mit Mrs. Oliver“ mit dem unnachahmlichen David Suchet angesehen. Symbolischerweise auf Christies Landsitz gedreht, wo auch die allerletzte Klappe für die Serie überhaupt fiel. Die dafür ausgewählte Szene trieb allen die Tränen in die Augen, wie Matthew Pritchard schreibt - Poirot, in seinem typischen Ornat, klopft an die Tür von Greenway - als käme er nach Hause.





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Veröffentlicht am 05.11.2022

Raffiniertes Schelmenstück

Die Kobra von Kreuzberg
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Die Stadt glüht, der Asphalt schlägt Blasen und selten verschwinde ich so schnell und freiwillig in der U8. In den Tunneln unter Berlin ist es derzeit noch am ehesten auszuhalten, dort, wo ich seit kurzem ...

Die Stadt glüht, der Asphalt schlägt Blasen und selten verschwinde ich so schnell und freiwillig in der U8. In den Tunneln unter Berlin ist es derzeit noch am ehesten auszuhalten, dort, wo ich seit kurzem aus dem Waggon heraus grinsend in die dunklen Schächte der Nebengleise starre, denn ich weiß jetzt Bescheid…
Es ist eiskalt und Silvester, als Beverly Kaczmarek - einziger weiblicher Spross eines polnischen Diebesclans internationaler Reichweite - beschließt, nichts weniger als die Quadriga vom Brandenburger Tor zu stehlen. Denn seit sie beim letzten Coup im Marmorpalais auf dem Rückweg durchs Fenster eine der beiden Wedgewood-Vasen zu Bruch gehen ließ, kriegen sich die lieben Verwandten in den absurdfarbenen Trainingsanzügen gar nicht mehr ein. Insbesondere die Brüder, die derweil Fabergé-Eier aus der Eremitage entwenden, lassen es an Schmäh nicht fehlen. Etwas unübertroffen Großes muss her, das die Positionen ein für allemal klärt.
Ein herrlich wild-schräg-absurdes (Lese)-Abenteuer beginnt. Nicht eigentlich spannend, aber ein großer Spaß voller Wortwitz, lustvoll auf die Spitze getriebenen Klischees, skurrilem Personal von Wetteranarchist bis Mafiaboss, pointierten Dialogen, trashigen Storyschlenkern und zahllosen Referenzen, die Michel Decar wie ein Feuerwerk auf den Leser niedergehen lässt. Geschrieben im Tempo der Großstadt und der lakonische-schnodderigen Tonart, die man dem neuköllngefärbten Kreuzberg und der kratzbürstigen Meisterdiebin ohne Blinzeln abnimmt. Nicht hundertprozentig sympathisch, aber immer schlagfertig, sehr komisch, ein bisschen dreckig. Hier kennt sich einer aus.
Was in den Tunneln unter Berlin so lauert, ob die Quadriga am Ende noch auf dem Tor steht und wie Beverly die Liebe findet und mit einigen Trainingsanzügen abrechnet, könnt und sollt ihr unbedingt selbst nachlesen.

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Veröffentlicht am 05.11.2022

Solider Krimi mit Fortsetzungspotenzial

Der Tintenfischer
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Die Straßen, Brücken und Kanäle Venedigs sind menschenleer. Der Lockdown hält Trubel und Touristen fern. Doch auch jetzt kann sich Commissario Antonio Morello mit der Serenissima nicht anfreunden. Obgleich ...


Die Straßen, Brücken und Kanäle Venedigs sind menschenleer. Der Lockdown hält Trubel und Touristen fern. Doch auch jetzt kann sich Commissario Antonio Morello mit der Serenissima nicht anfreunden. Obgleich die "schönste Stadt der Welt" wie mit Tintenfischarmen nach ihm greift, will er nur weg von hier. Zurück nach Sizilien, wo die Mafia nur auf ihn wartet. Er will endlich abrechnen, die Mörder seiner Frau stellen. Stattdessen läuft er Streife, auf der Suche nach Corona-Betrügern, die vorzugsweise ältere Bürger ausrauben, indem sie etwa vorgeben, deren Wohnungen zu desinfizieren.
Auf einem dieser Streifengänge werden Morello und seine Kollegin Anna Klotze gewahr, wie sich ein verzweifelter junger Mann in den Kanal stürzt. Die sportliche Polizistin kann ihn gerade noch retten. Es ist der 20jährige David Ekele aus Nigeria, dessen Schicksal nicht nur die beiden Ordnungshüter tief berührt, sich mit ihrem verstrickt und nach - Sizilien führt. Denn dort ist Davids Freundin, die es aus einem Bordell der nigerianischen Mafia zu befreien gilt...

In ihrem zweiten Morello-Roman stochern Wolfgang Schorlau und Claudio Caiolo @kiwi-verlag in Wespennester aus Korruption, Chauvinismus und Rassismus in staatlichen Behörden und tauchen erneut tief ins organisierte Verbrechen hinab. Diesmal nicht nur in das der Cosa Nostra, die sich zwecks Imagewandel aufs Investment verlegt, nicht nur bei Asylbewerberheimen kräftig mitkassiert und neuerdings EU-Mittel Schutzgeldern vorzieht. Im Fokus stehen die längst arrivierten und mit ihnen kooperierenden nigerianischen Cults; brutalen Bruderschaften wie Black Axe, die ihre meist studentischen Mitglieder ohne Chance auf Entkommen zu Drogenhandel, Menschenschmuggel, Mord und Prostitution zwingen.
Das alles ist hochaktuell, gründlich recherchiert, fiktiv und doch wahr, wie aus den angehängten Dokumenten am Ende des Romans hervorgeht und diesem seine inhaltliche Tiefe verleiht.

Doch keine Angst, trotz bitterem Hintergrund liefern Schorlau/Caiolo ein mit leichter Hand geschriebenes spannendes Lesevergnügen ab, bei dem der Unterhaltungswert klar dominiert - wilde Verfolgungsjagden, erotisches Knistern, Nacht-und-Nebel-Befreiungen und Rezeptsammlung inklusive. Dabei stets auf der Seite der Guten, denen mehr als einmal wundersame Rettung in letzter Sekunde widerfährt.
Und gerade, als sich Morello doch noch mit der Serenissima arrangiert, gibt es einen Cliffhanger und das Versprechen auf Band 3...
Lesen!







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