Veröffentlicht am 12.06.2018

Aktuelles Thema einfühlsam aus Opfersicht

Buechernarr

Bei diesem Buch fällt einem zuerst einmal sofort das Cover auf. Es ist wunderschön und verspielt, aber total irreführend. Man erwartet irgendwie ein fröhliches, leichtes Buch und das ist hier ganz und gar nicht der Fall. In diesem Buch geht es um ein sehr wichtiges Thema und ich finde es wahnsinnig gut, dass es hier angesprochen wird. Und dass es aus zwei ganz unterschiedlichen Perspektiven erzählt wird, die beide gleichermaßen ungewöhnlich sind. Bei beiden Perspektiven wird sehr einfühlsam aus der Opfersicht erzählt. Also nicht vom Cover irreführen lassen, aber trotzdem unbedingt lesen! Das ist kein Roman für zwischendurch, sondern einer, mit dem man sich beschäftigen muss, der nachhallt.

Als Rose in das Gefängnis verlegt wird, in dem auch Birdy ihre Strafe absitzt, scheint sie sich an diese nicht erinnern zu können. Birdy aber trägt eine Wut und einen Hass auf Rose in sich, seit sie ein kleines Mädchen ist. Sie will Rose an sich erinnern, an die Fehler die sie gemacht hat, als sie noch ihre Nachbarin war. Sie will sie dafür büßen lassen, dass sie ihr nicht geholfen hat, als sie die Chance dazu hatte. Nach und nach erfährt man als Leser in Rückblenden und Erinnerungsfetzen, was damals vorgefallen ist und auch, was seither passiert ist, warum beide Frauen im Gefängnis sind.

Besonders ist der Charakter von Birdy. Sie wird sehr kindlich, beinahe naiv dargestellt, ist aber so voller Wut, dass es zunächst nicht ganz leicht fällt, sie sympathisch zu finden. Sie ist geistig zurückgeblieben und Nicole Trope gelingt es mit ihrem Schreibstil, der in Kapiteln, in denen Birdy erzählt, einfach gehalten ist, diese Eigenschaft von ihr glaubhaft zu vermitteln. Schon auf den ersten Seiten lernt man Birdy als jemanden kennen, der „ schlau genug [ist], zu wissen dass [sie] langsam [ist] (S.8). Bei ihr scheint „die Tür zu ihrem Gehirn immer offen zu stehen“, was sie zu einem noch leichteren Opfer macht als andere Kinder, weil ihren Aussagen noch weniger Glauben geschenkt werden als denen der anderen. Sie scheint das Geschehene auch weniger prozessieren zu können wie andere Betroffene und die Darstellung ihrer Gedanken, ihrer Erinnerungen und ihrer Wut lassen einen als Leser geschockt, sprach- und hilflos zurück.
In den Kapiteln, in denen Rose in der Ich-Perspektive erzählt, ist die Sprache gewählter, komplexer und hochtrabender, sodass der Unterschied der beiden Charaktere schon durch den Schreibstil deutlich wird. Dennoch ist es gerade zu Anfang etwas schwierig, herauszufinden, wer in welchem Kapitel gerade spricht, eine kurze Überschrift hätte da vielleicht nicht geschadet, aber man findet als Leser sehr schnell den Rhythmus heraus.

Rose wird zunächst eher als ein mütterlicher Typ dargestellt und man fragt sich lange, wie die Tat, die sie angeblich begangen haben soll, mit ihrem zivilisierten Auftreten in Einklang gebracht werden soll. Nach und nach zeigt sich, dass sie sehr unselbstständig ist und von ihrem Mann auch bewusst so unselbstständig gehalten wurde. Auch sie legt eine Naivität und Blauäugigkeit an den Tag, vor allem, wenn es um ihren Mann Simon geht. Sie scheint bewusst die Augen verschlossen zu haben, um ihr Leben nicht zu gefährden und ja nichts von ihrem Lebensentwurf in Frage stellen zu müssen. Die Beschreibungen, die sie von Simon gibt, sind zwar nur subjektiv, zeigen aber doch, dass er einen Großteil der Schuld daran trägt, dass sie geworden ist, wie sie ist. Sie hat diesem Mann blind vertraut und ihr ganzes Leben auf ihn ausgerichtet. Als das dann zu zerbrechen droht, weigert sie sich sehr lange, die Augen zu öffnen. Man verzweifelt während des Lesens beinahe an ihr. Man möchte sie schütteln und sie anschreien, dass wegschauen nur dem Täter/den Tätern hilft, andererseits hat man natürlich Mitleid mit ihr, da ihr ganzes Leben auseinanderbricht und sich alles als eine Lüge und Täuschung herausstellt. Als dann langsam feststeht, was passiert ist, fragt man sich, warum sie nicht endlich die Wahrheit sagt, wen sie zu schützen versucht.

Ein kleiner Kritikpunkt: Die beiden Töchter von Simon sind sehr spannende, da sehr unterschiedliche Charaktere, daher hätte ich gerade bei den beiden noch gern gelesen, wie sie am Ende mit der Situation umgehen. Schade, dass dazu wenig erwähnt wird, aber natürlich liegt der Fokus des Romans vor allem auf den Charakteren Birdy und Rose.

"Ein packender Roman über Kinder, die um ihre Kindheit betrogen werden. Über Wut, Rache und die Macht der Versöhnung." Aber auch viel mehr als das: Ein Roman darüber, wie leicht etwas übersehen wird, wie leicht wir uns von Menschen täuschen lassen und wie bereitwillig wir manchmal die Augen verschließen. Ein Thema, dass so aktuell ist und so öffentlich diskutiert wird wie selten, wird in dem Roman sehr einfühlsam aus einer gänzlich anderen, oft vergessenen Perspektive erzählt.

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