Veröffentlicht am 26.01.2020

Marion Messina – Fehlstart

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Das Abitur bestanden, steht ihr die Welt im egalitären Frankreich offen. Sie weiß, wofür sie all die Jahre hart gearbeitet hat, doch dann muss Aurélie Lejeune eine herbe Enttäuschung nach der anderen erleben. Das Jurastudium an der Universität von Grenoble ist uninspiriert, mit ihren Kommilitonen verbindet sie nichts und zunehmend begreift sie sich als Außenseiterin. Mit den kolumbianischen Austauschstudenten scheint sie viel mehr zu verbinden und in Alejandro, den sie bei ihrem Nebenjob als Putzfrau kennenlernt, verbindet sie bald schon eine innige Liebe. Doch als dieser der Enge der Kleinstadt entflieht, fällt auch Aurélies Leben in sich zusammen, es stand ohnehin nur auf tönernen Füßen. In Paris hofft sie auf einen Neuanfang und die Realisierung ihrer Träume, die sie eigentlich schon gar nicht mehr hat. Sie will ihre soziale Herkunft als Kind einer Arbeiterfamilie hinter sich lassen, sieht sich bald aber schon einer viel prekäreren Situation ausgesetzt als ihre Eltern es jemals erlebt hatten.

In ihrem Debutroman stellt Marion Messina gleich mehrere Mythen ihres Heimatlandes infrage. An ihren jungen Protagonisten zeigt sie auf, dass das voller Versprechen begonnene Leben sich oftmals anfühlt, als sei es schon vorbei, bevor es überhaupt begonnen hat, wie die ungeliebte B-Seite einer Schallplatte, die niemand hören will und die nur die Aufgabe hat, einen eben noch vorhandenen Platz zu füllen, an die jedoch nicht die geringsten Erwartungen gestellt werden. Wofür soll man in dieser Existenz kämpfen? Die Wirtschaftskrise von 2008, die ganz Europa unerwartet und heftig packte, hat vor allem die Jungen und Gebildeten getroffen, die sich nach jahrelanger Mühe um beste Startchancen um ihr Leben betrogen sahen, ein klassischer „Fehlstart“, sie waren zur falschen Zeit am falschen Ort.

Messina zeichnet ein erbarmungsloses Portrait einer Gesellschaft und einer Generation, das wenig Mut und Hoffnung macht. Wo sich Alejandro einer omnipräsenten Xenophobie in einem sich selbst als weltoffen und tolerant wahrnehmenden Land ausgesetzt sieht, fühlt sich Aurélie aufgrund ihrer sozialen Herkunft ausgeschlossen, sie kennt die Codes der Kleidung, des Verhaltens und der Sprache nicht und ihre Eltern sind schon lange nicht mehr in der Lage, sie zu unterstützen. Sie soll doch mit dem bescheidenen Dasein, wie sie es selbst führen, zufrieden sein. All die Bemühungen und der Verzicht werden sich nicht auszahlen, das elitär organisierte Land hat keinen Platz für Emporkömmlinge. Das muss auch Benjamin erkennen, der einzige Freund, den Aurélie in der 12 Millionen Metropole gefunden hat und der nach jahrelangem Ackern bereit ist, aufzugeben und in die Provinz zurückzukehren.

Insbesondere das Bild der Arbeitswelt, in der die Angestellten in den niedrigen Positionen nicht nur schnell austauschbar sind, sondern die durch vorgegebene Kleidung, Make-up und Phrasen auch austauschbar wirken und dafür mit dem Mindestlohn abgespeist werden, der kaum ausreicht, um Wohnung und ausreichend Nahrung zu finanzieren, wirkt brutal, aber authentisch. Die prekäre Existenz mit Zweit- und Drittjob laugt sie so dermaßen aus, dass sie gar nicht mehr am Leben teilnehmen und von Paris außer den Gängen der U-Bahn nichts mehr sehen. „Métro-Boulot-Dodo“ wird so nicht mehr nur ein ironisches Wortspiel, sondern schlichtweg Realität.

Marion Messina untermauert die falschen Versprechungen sprachlich versiert, in kursiv erscheinen die immer wieder bemühten Phrasen, die sich jedoch als leere Worthülsen entpuppen. Ihr Roman erschien 2017 noch vor den aktuellen Protesten der Gilets Jaunes, sie legt aber den Finger in genau dieselbe Wunde und erfüllt damit eine der wesentlichen Aufgaben der Literatur: sie hält der Gesellschaft und vor allen denjenigen, die diese lenken, den Spiegel vor, in dem sie bei genauen Hinschauen eine schmerzverzerrte Fratze erkennen können. Auch 2020 noch einer DER Romane der Stunde.

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