Veröffentlicht am 25.08.2020

Mahler erinnert sich

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Gustav Mahler sitzt 1911 unter einer warmen Decke gewickelt am sonnigen Deck der "Amerika" – es ist seine letzte Überfahrt von New York nach Europa, der große Dirigent und Komponist steht kurz vor seinem zu frühen Lebensende. Seit Kindheitstagen von Krankheiten heimgesucht tritt er nun seine letzte Reise an. Seine Frau Alma sitzt mit der Tochter in der Luxuskabine unterhalb des Decks – längst haben sie sich entfremdet. Fieberschübe suchen ihn heim, ein junger und zuvorkommender Schiffsjunge, der nicht weiß, wer Mahler ist, umsorgt ihn. Mahler erinnert sich – an seine Kindheit, an seine verstorbene Tochter, an seine Zeit als Direktor in Wien, an eine von ihm gefertigte Büste von Rodin, an Antisemitismus, an seine Reisen nach St. Petersburg oder Paris, an einen Besuch bei Freud und seine Zeit in New York als Chefdirigent der New Yorker Philharmoniker. Aber auch an sein Komponierhäuschen in Toblach, das Vogelgezwitscher dort und immer wieder an seine große Liebe Alma, die einen anderen Liebhaber hat. Und Mahler hadert an seiner Vergangenheit: die Einsamkeit, das ständige Überarbeiten und hilflose Kranksein, dass er noch so viel hätte komponieren sollen, was aus seinem Körper kommt, und besonders warum er die schöne Alma verloren hat. Und dass es zum Sterben zu früh ist.

In schönen Sätzen webt Robert Seethaler ein emotionales und gedankliches Konstrukt um das Innenleben eines großen Künstlers. Und doch ist es kein Künstlerroman, denn es geht um den gebrechlichen, nahbaren Menschen mit Schmerzen, der kurz vor dem Tod steht. Und so fieberhaft die letzten Momente Mahlers sind, so sind es auch seine Erinnerungen, „wie ungeordnete Schwebeteilchen, die herumirren“. Es gibt viele Metaphern und wiederkehrende Bilder wie die Vögel (die am Ende auch Vorbote des Todes sind), fliegende Fische, immer das Meer, der Himmel und der Schiffsjunge, der sich zu einem zweiten Protagonisten entwickelt.

Seethaler kann wie gewohnt wunderbar flüssig und unverwechselbar erzählen, es reihen sich in zahlreichen Rückblenden poetische Sätze und Gedanken sowie Beobachtungen aneinander und es macht Freude, in diesen dünnen Roman einzutauchen. Doch eine Frage bleibt – warum Gustav Mahler, dem vielleicht größten Schöpfer von atemberaubenden, unsterblichen Symphonien, wenn die Erschaffung von Musik in dem Buch völlig ausgeklammert wird? Die Linien und Ecken als hochsensibler und reizbarer Künstler und seiner Kunst kann der Leser nur erahnen, hier bleibt viel Spielraum zum Spekulieren. Detailreiche, melancholische und sinnliche Atmosphäre schafft Seethaler dennoch und bringt Mahler einmal als feurigen, arbeitswütigen Dirigenten zur Sprache.

Dennoch: „Der letzte Satz“ ist es ein wertvolles, gefühlvolles Kleinod über den schmerzhaften Abschied vom Leben, dem Hadern und Bilanzziehen – feinfühlig und fiktiv um einen großen, sich erinnernden Künstler komponiert, von dem man am Ende sehr viel mehr wissen und vor allem hören möchte. Mahler war am Ende alleine, einzig der Schiffsjunge war bei ihm und wird sich durch die Begegnung weiterentwickeln. Auch das waren Gedanken von Mahler – die Zeit, Vergänglichkeit und Fremdsein.

„Das Meer lebt, dachte er. Man muss nur lang genug stillstehen, um es atmen zu fühlen.“

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