Das wahre Gesicht des Krieges
Tim Tachatzki hat hier ein sehr bewegendes Kriegs- und Familiendrama mit biografischemn Hintergrund verfasst. Darin enthalten sind die Lebenserinnerungen seiner Schwiegermutter, die auch im Buch eine Rolle ...
Tim Tachatzki hat hier ein sehr bewegendes Kriegs- und Familiendrama mit biografischemn Hintergrund verfasst. Darin enthalten sind die Lebenserinnerungen seiner Schwiegermutter, die auch im Buch eine Rolle spielt.
Wir schreiben das Jahr 1919. Der Zar ist gestürzt, der Erste Weltkrieg zu Ende. In Russland kommt die politische Situation allerdings nicht zur Ruhe. Nach der Oktoberrevolution tobt der Bürgerkrieg und die Anhänger Stalins sind knapp davor die Macht zu übernehmen.
Tim Tichatzki erzählt die Geschichte von Willi und Maxim, die als Kinder Freunde waren und sich durch die politische Situation auseinander entwickeln. Willi gehört zur deutschstämmigen Mennoistengemeinde in Osterwick in der Ukraine. Maxim und sein Vater Juri wurden als Flüchtlinge von der Gemeinde aufgenommen. Die Mennoisten lehnen Gewalt generell ab und üben auch ihren Glauben trotz Verbot aus. Die Angelegenheiten der Gemeinschaft regelt ein Brüderrat. Die Gemeinschaft und das friedliche Zusammenleben stehen an erster Stelle, was die Menschen in Osterwick allerdings bald in große Schwierigkeiten bringt. Beim Einmarsch der deutschen Truppen hoffen sie auf Hilfe, doch der Traum platzt sehr schnell...
Maxim geht den gegensätzlichen Weg und wird zum Handlanger des Regimes. Als Mann ohne Familie und ohne Skrupel wird er zum Spielball der Mächtigen. Und am Ende treffen sich auch wieder die Wege von Willi und Maxim in Sibirien...
Anhand von Willis Lebensgeschichte wird dem Leser diese schlimme Zeit näher gebracht. Sie steht für Hunderttausende, die in dieser Zeit vertrieben und getötet wurden. Nur in groben Zügen war mir bisher die russische Geschichte kurz nach dem Sturz des Zaren bekannt. Die Grausamkeit, der die Bevölkerung ausgesetzt wird, ist brutal. Die Anhänger Stalins holen sich willkürlich Menschen mitten in der Nacht aus den Häusern, die nie wieder gesehen werden. "Politische" Säuberungen und Massenexekutionen sind Gang und Gäbe. Hier geht der Autor auch näher auf Wassili Blochin ein, den Henker mit der Lederschürze, ein Handlanger Stalins. In einer Nacht exekutierte er eigenhändig 200-300 Kriegsgefangene...und dies wochenlang! Der Autor erzählt schonungslos über die Grausamkeiten dieser Zeit von 1919 bis 1947, die leider nicht seiner Fantasie entspringen, sondern Tatsache sind.
"Meine ganze Hoffnung ist, dass dieses Buch einen Beitrag leisten kann, die Geschehnisse von damals nicht zu vergessen, sondern für nachfolgende Generationen am Leben zu erhalten" - Tim Tichalski
Besonders nahe gegangen ist mir die Situation der deutschstämmigen Russen, als sie als Flüchtlinge in Thüringen ein neues Leben beginnen wollen und durch die Willkür der Allierten wieder den Russen übergeben werden. Durch die Teilung Deutschlands fällt Thüringen in die russische Zone. Die nun als Deutsche gebrandmarkten Russen kommen nach Sibirien ins Arbeitslager, das die meisten von ihnen nicht überleben. Was für eine absolute Fehlentscheidung der Kriegsgewinner, die damit Hunderttausende in den Tod schickten!
Dieser Roman geht unter die Haut und zeigt doch nur das wahre Gesicht des Krieges.
Schreibstil:
Tim Tichatzkis Schreibstil ist geradlinig und ohne Schnörkel und weckt doch so viele Emotionen beim Lesen. Über den meisten Kapiteln stehen Ort und Datum oder ein Name bzw. das Thema des nächstesn Abschnittes. Neben der hervorragenden Recherche, die der Autor über diese Zeit gemacht hat, verknüpft er die Familiengeschichte seiner Schwiegermutter mit ein. So bekommt der (Kriegs-)Roman mehr Gesicht und hat nicht nur anonyme Täter und Opfer vor Augen.
Am Anfang befindet sich eine Karte der Ukraine, am Ende ein Foto der Familie Bergen.
Fazit:
Ein erschütternder Bericht über eine grausame Zeit, die durch die Familiengeschichte der Familie Bergen ein Gesicht bekommt. Grandios recherchiert und eine Mahnung an die Menschen, diese Geschehnisse nicht zu vergessen. Ein grandioses Debüt!