Cover-Bild Kirchberg
22,00
inkl. MwSt
  • Verlag: Aufbau
  • Themenbereich: Belletristik - Belletristik: zeitgenössisch
  • Genre: Romane & Erzählungen / Sonstige Romane & Erzählungen
  • Seitenzahl: 366
  • Ersterscheinung: 15.09.2017
  • ISBN: 9783351036904
Verena Boos

Kirchberg

Roman
„Ein Blütenschweif gleitet durch den Türspalt nach draußen. Folge mir.“

Was macht eine Frau ohne Aussichten aus ihrem Leben? Was ist Heimat, was ist Zeit? Wie kann, bei allem, was geschehen ist, Frieden herrschen? – In ihrem neuen Roman erzählt Verena Boos die Geschichte einer Frau, die die Sprache verliert und zurückkehrt ins Dorf ihrer Kindheit und Jugend. „Kirchberg“ handelt auch von den Jahreszeiten einer Freundschaft, oder einer Liebe. Verena Boos erzählt groß von einer kleinen Welt, von der unsrigen.

»Verena Boos verbindet großes Erzähltalent mit h istorischer Präzision.« Jan Brandt

»Eine souveräne Schriftstellerin, die sich unterschiedlichster Sprach- und Denkmuster bedient und stoffliche Vielfalt in einem großen erzählerischen Bogen zu spannen weiß.« Stefanie Laaser, SWR2

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Lesejury-Facts

Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 10.02.2019

Was bleibt, wenn die Sprache geht?

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Hanna wuchs bei ihren Großeltern auf, weil ihre Mutter sie nicht wollte. Es trieb sie hinaus aus dem Dorf, hinein in die große weite Welt voller Menschen und Abenteuer. Zwanzig Jahre später kehr sie nach ...

Hanna wuchs bei ihren Großeltern auf, weil ihre Mutter sie nicht wollte. Es trieb sie hinaus aus dem Dorf, hinein in die große weite Welt voller Menschen und Abenteuer. Zwanzig Jahre später kehr sie nach Kirchberg, den Ort ihrer Kindheit, zurück. Sie ist gebrochen, denn ein Schlaganfall raubte ihr die Sprache und schränkt ihre Motorik stark ein. Doch schnell wird klar, dass sie auch psychisch gebrochen ist. Sie wird begleitet von Sehnsucht, von unerreichter Liebe, negativer Erinnerungen. Und nun ist sie vollkommen auf andere angewiesen. So sehr das Haus, in dem sie aufgewachsen ist, ihr Halt gibt, so fremd und distanziert ist es in anderen Augenblicken. Hanna muss den Zugang zu ihren Mitmenschen, Nachbarn und alten Freunden wieder finden und darüber hinaus sich selbst ein Stück weit finden.

Verena Boos schildert in leicht sperriger und anspruchsvoller Sprache, was Hanna erlebt hat. Sie nimmt uns mit in die Erinnerungen der Kindheit, der Jugend, Momente voller Liebe, Sehnsucht und Kummer. Dabei spielt Schulfreund Patrizio, der schon immer in Hanna verliebt war, eine große Rolle. Er begleitet sie in ihren letzten Tagen und Wochen.
Die anspruchsvolle Sprache passt sehr gut zur Thematik. Während der gesamten Lektüre schwang eine gewisse Melancholie, ein Hauch Schwermut mit. So wie Hanna sich fragt, was sie im Leben erreicht hat, woran sie sich festhält und was ihr noch bleibt, tut der Leser dies auch.

Ich habe sehr lange an diesem Buch gelesen, immer nur wenige Kapitel auf einmal, und habe die Melancholie und die doch griffige Atmosphäre sehr genossen. Eine absolute Empfehlung für Leser, die auf anspruchsvolle Lektüre und Ernsthaftigkeit stehen!

Veröffentlicht am 26.02.2018

Eine starke Geschichte

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Johannas Leben war bewegt, und doch irgendwie durchschnittlich. Als Baby von ihrer überforderten Mutter an die Großeltern abgegeben, wägst sie in einem beschaulichen Dorf in Schwaben auf, der Großvater ...

Johannas Leben war bewegt, und doch irgendwie durchschnittlich. Als Baby von ihrer überforderten Mutter an die Großeltern abgegeben, wägst sie in einem beschaulichen Dorf in Schwaben auf, der Großvater Dorfschullehrer, die Großmutter immer da, wenn sie gebraucht wird. Jetzt kehrt Johanna zurück in die Heimat, die Großeltern leben nicht mehr, doch das Haus gehört ihr. Nach einem Schlaganfall kann sie kaum sprechen, sich schwer bewegen und dennoch zieht es sie in die Einsamkeit des leerstehenden Hauses, ohne Hilfe. Es wird eine Reise in die Vergangenheit, auch für die Dorfbewohner, denn Johannas Anwesenheit ist auch für sie nicht immer leicht zu akzeptieren.
Verena Boos überzeugt in ihrem Roman „Kirchberg“ gerade durch die Beschreibung der Normalität, die einen als Leser sofort fasziniert. Es ist nichts Spektakuläres am Leben der Protagonistin, und doch fesselt einen Johannas Geschichte sofort. Die Sprachlosigkeit mit der sie kämpft ist gerade für sie, die doch als Wissenschaftlerin an der Uni arbeitet und immer gelesen und geschrieben hat, furchtbar zu akzeptieren. Sie sucht die Einsamkeit, doch stattdessen findet sie alte Freunde und eine Dorfgemeinschaft, die sie nicht ausstößt, obwohl sie immer ein Dorn im Auge aller war. Das Kind ohne Vater, aufgezogen von den Großeltern, wo gibt es denn sowas? Sicher eine schwierige Ausgangssituation für eine junge Frau in einem konservativen Dorf, wo man dies und jenes nicht tut, aber immer genau weiß, was der Nachbar gerade macht. Die Beschreibungen und Rückblenden, mit denen Verena Boos dem Leser das Leben ihrer Hauptfigur langsam entblättert, gehen sehr Nahe und lassen einen nicht los. Der Autorin ist es großartig gelungen, einen mit der Geschichte zu berühren, ohne um Mitleid für Johanna zu heischen oder um Mitgefühl zu betteln. Sie ist eine starke Person und wird ernst genommen, sowohl vor als auch nach dem alles verändernden Schlaganfall.
Mit „Kirchberg“ hat Verena Boos einen bewegenden Roman vorgelegt, der gar keine Extravaganzen oder spektakuläre Überraschungen braucht, um den Leser tief zu bewegen. Es ist die Hauptfigur selbst, die uns beim Lesen immer dichter rückt und bis ins Innerste berührt mit ihrem Kampf, ihrer Suche und ihrer Verzweiflung. Ein starkes Buch über eine starke Frau.

Veröffentlicht am 20.12.2017

Rückkehr

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Eine Frau steht mitten im Leben. Denkt sie. Und dann gibt es auf einmal einen Break und alles ist anders: Tumor, Schlaganfall, Gehirnschäden und auch solche der körperlichen Art. Da kann Hanna, deren Stern ...

Eine Frau steht mitten im Leben. Denkt sie. Und dann gibt es auf einmal einen Break und alles ist anders: Tumor, Schlaganfall, Gehirnschäden und auch solche der körperlichen Art. Da kann Hanna, deren Stern gerade am Aufgehen war, nicht mehr weitermachen. Weder mit ihrer Habilitation noch mit sonst etwas in ihrem bisherigen Leben.

Hoch hinaus war sie schon gekommen und wollte noch höher steigen, fort von dem schwäbischen Dorf, in dem sie aufgewachsen war, bei den Großeltern. Nachdem ihre Mutter sie nicht wollte, sie gar zur Adoption freigegeben hatte. Hatten deren Eltern das halt übernommen.

Wie man sieht, Hanna, eigentlich Johanna, hatte es nie so richtig leicht, auch wenn ihre Großeltern besondere Menschen waren, doch war sie immer eine Außenseiterin. Auf ihre Art jedenfalls. Doch eines war sie nie: Sprachlos. Erst jetzt, mit über 40, hat die Sprache als wichtigstes Kommunikationsmittel sich (fast) von ihr verabschiedet.

Hanna kehrt zurück in ihr Dorf, in das Haus ihrer Kindheit, das nun leer ist und mit Leben gefüllt werden will. Und das wird es auch - auf ganz überraschende Weise.

Ein Buch voller Einblicke und Rückblicke. Hannas Leben wird auf eine besondere Art vor dem Leser ausgebreitet, nicht nur sie spielt eine Rolle, nein, es ist auch ihr Umfeld, das zu Wort kommt. Jeder Protagonist hat sozusagen seine Zeit. Und die Autorin Verena Boos belässt es nicht bei der Vergangenheit, sondern wagt auch einen Blick in die Zukunft.

Ein Buch, in dem viel Schmerz enthalten ist, der allerdings auf so gelassene Art transportiert, für so selbstverständlich genommen wird, dass er dem Leser gar nicht immer so deutlich vor Augen ist. Ein Buch über die Grenzen, die dem Menschen gesetzt sind, aber auch über die Möglichkeiten. Über Freundschaft, Liebe, Offenheit, Verschlossenheit und Abgrenzung. Manchmal kam es ein wenig spröde daher, auch wenn die Figuren durchaus Charme haben, vor allem Lisa, ein kleines, ein sehr kleines Mädchen, das der bereits gebrochenen Hanna auf bemerkenswert unvoreingenommene Weise begegnet und so manche Lanze für sie bricht. Doch manchmal hatte ich den Eindruck, als stehe die Autorin sich selbst im Weg, könne diesem Familienroman - denn nichts anderes ist er - nicht das Engagement, die Größe, das Herz schenken, die es verdient. Ein Buch, das ich gerne gelesen habe, auch wenn irgend etwas - ich kann gar nicht klar formulieren, was - fehlte!

Veröffentlicht am 13.12.2017

Ein Leben in der sprachlichen Dunkelkammer

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„Hier hat er sich auf die Suche begeben, nach Klarheit, nach Heimat, nach sich selbst. Nichts davon hat er final gefunden, dieses Leben, diese Welt sind einfach nicht klarzukriegen. Jedes Land, jede der ...

„Hier hat er sich auf die Suche begeben, nach Klarheit, nach Heimat, nach sich selbst. Nichts davon hat er final gefunden, dieses Leben, diese Welt sind einfach nicht klarzukriegen. Jedes Land, jede der beiden Städte kehrt andere Facetten in ihm hervor, und es bleibt das Bedauern, dass sie ihn jenseits des Kirchbergs kaum kannte.“


Inhalt


Hanna kehrt zurück an den Ort ihrer Kindheit, in das Haus in dem sie jahrelang mit ihren Großeltern gelebt hat, nachdem ihre Mutter sie nicht haben wollte und sich aus der Erziehung ausgeklinkt hat. Doch beide Großeltern sind verstorben und Hanna ist nicht mehr die offene, interessierte junge Frau, die sie noch vor wenigen Monaten war. Ein Schlaganfall hat ihr nicht nur die Sprache geraubt und den Sinn für komplexe Zusammenhänge, sondern drängt sie immer weiter aus dem Leben. Das Haus auf dem Kirchberg soll ihre Zufluchtsstätte werden, ein Ort der Einsamkeit und inneren Abkehr, ein Platz an dem sie nichts mehr muss und nichts mehr soll, nur noch ein bisschen leben, vor sich hin träumen und die Tage in aller Langsamkeit verbringen. Für ihren Jugendfreund Patrizio, ist klar, das er Hanna zur Seite stehen wird und sie unterstützt, auch wenn die Zeit für eine echte Liebesbeziehung nun vergangen ist, auch wenn er die Vergangenheit nicht mehr ändern und die Zukunft mit ihr nicht mehr gestalten kann, so bleiben ihm doch wenige glückliche Momente an der Seite einer Frau, der das Schicksal den Boden unter den Füßen weggerissen hat …


Meinung


„Verena Boos erzählt groß von einer kleinen Welt, von der unseren.“ Das verspricht der Klappentext und diesem Urteil kann ich mich voll und ganz anschließen. Es ist diese Echtheit und Realitätsnahe, die „Kirchberg“ zu einem bewegenden, eindrucksvollen Roman über das ganz normale Leben macht, über die Wendungen des Schicksals, die Menschen in unserer Nähe, die Verfehlungen im zwischenmenschlichen Bereich und die Bedeutsamkeit geliebter Menschen für den Verlauf des eigenen Lebens. Die junge Autorin die bereits mit ihrem Debütroman „Blutorangen“ bekannt geworden ist, fängt hier nichts anderes als den Alltag einer jungen, von einer Krankheit gezeichneten Frau ein, die große Pläne hatte, innige Gefühle hegte und nicht mit dem Ende ihrer Selbstständigkeit in so jungen Jahren gerechnet hat.


Es ist faszinierend aus nächster Nähe zu erleben, wie es sich anfühlen muss, wenn man sich in einer Art sprachlichen Dunkelkammer bewegt, wenn man nicht mehr in der Lage ist, die einfachsten Dinge zu artikulieren und sich eingestehen muss, dass man auf andere angewiesen ist. Und es stimmt sehr nachdenklich und traurig, wahrzunehmen, wie der Alltag aussieht, den man sich ganz gewiss niemals so erhofft hat. Verena Boos konzentriert sich bei dieser Erzählung nicht nur auf die Gegenwart, sondern entwirft das Bild eines Lebens mit einer bewegten Vergangenheit, einer nicht ganz einfachen Kindheit und einer großen unerfüllten Liebe. Und sie setzt es in Verbindung mit der Zeit nach dem Schlaganfall, einer Zeit des Neubeginns, in dem alles an Sinn und Bedeutung verliert nur nicht die Menschen, die uns begleiten, Menschen die vorher nur Randfiguren in einem Spiel waren werden nun zu Ankern in der Bitterkeit des Augenblicks.


Der Schreibstil ist durchaus anspruchsvoll und fordert den Leser, immer mal wieder wechselt die Zeitebene oder auch die Erzählstruktur, doch diese leicht holprige Schreibweise passt ausgesprochen gut zur Thematik, zeigt wie das Erleben funktioniert, wenn nicht mehr alles begriffen wird. Und eine klare Abgrenzung der Kapitel sowohl im Schriftbild als auch durch die Jahreszahlen, lässt den Leser den Überblick behalten.


Das Besondere an diesem stillen, melancholischen Roman, der eine Traurigkeit an sich ausstrahlt, ist die Griffigkeit der Situation. Selten findet man ein Buch, welches sich so intensiv in die Sicht des Beschädigten vertieft, welches zeigt, was fehlt, wenn vieles verloren ist und es dennoch vermag eine durchgehende Lebenslinie aufzuzeigen mit Kanten, Sprüngen und schönen Tagen, die langsam aber sicher verblassen. „Kirchberg“ kratzt sehr am Menschlichen, es macht betroffen und sprachlos, es fängt Gefühle ein ohne sie direkt zu benennen und es beansprucht Raum für die vielen Gedanken, die aufgegriffen und nicht zu Ende gedacht werden. Und obwohl es in keiner Weise sentimental geschrieben ist, brachte mich die Erzählung doch nahe an den Abgrund zur traurigen Wahrheit und lässt die Frage: „Was bleibt von uns in dieser Welt, wenn wir nicht mehr sind, was wir waren?“, voller Absicht im Raum stehen.


Fazit


Ich vergebe 4,5 Lesesterne und eine Leseempfehlung für alle, die gerne tiefgründige Romane mit viel Aussagekraft und Gefühlsreichtum lesen. Für Leser die sich Gedanken machen möchten, worauf es im Leben ankommt und welche Dinge man regeln sollte, bevor einen das Schicksal unerbittlich einholt. Man sollte aber keine Wohlfühllektüre erwarten und muss bereit sein sich auf das geschriebene Wort einzulassen, insofern kein Buch für Zwischendurch dafür eines, was nachwirkt und mich sehr betroffen gemacht hat, insbesondere was die Kostbarkeit des Augenblicks anbelangt.

Veröffentlicht am 23.11.2017

Kirchberg - oder der Verlust der Worte

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Hanna, eine Frau des Wortes, hatte einen Schlaganfall und kann nicht mehr sprechen. Erschöpft zieht sie sich in das Haus ihrer Großeltern zurück, in dem sie als uneheliches Kind aufgewachsen ist. Doch ...

Hanna, eine Frau des Wortes, hatte einen Schlaganfall und kann nicht mehr sprechen. Erschöpft zieht sie sich in das Haus ihrer Großeltern zurück, in dem sie als uneheliches Kind aufgewachsen ist. Doch nicht nur Hanna kommt in ihr altes Dorf, ihr altes Dorf kommt auch zu ihr. Patrizio, der Freund aus Jugendtagen, und ihre Nachbarin Sabrina suchen ihre Nähe. Wals als selbstgewählte Einsamkeit gedacht war, wird zu einer Erkundungsreise, die eng mit der Geschichte dieses Hauses auf dem Kirchberg verwoben ist. So eignet sich Hanna ihr Leben noch einmal an und vermag schließlich auch zu erkennen, wer ihr Vater ist. Dieses meisterhafte Buch entfaltet ein weites erzählerisches Panorama, das von den Kriegsjahren bis heute und morgen reicht. (Quelle: Klappentext)

Meine Meinung:

Der Roman beginnt mit der Ankunft Johannas (Hanna) in dem kleinen Dorf irgendwo im Schwarzwald, wo sie bei Katharina und Erich, ihren Großeltern, eine liebevolle Kindheit hatte und in dem Haus am Kirchberg aufwuchs. Ihre Mutter Maria schien überfordert und gab das kleine Mädchen zur Adoption frei; die Großeltern adoptierten Hanna daraufhin. Nach dem Abitur studiert Hanna und lebt in Berlin, wo sie sich mit Jessie, ihrer Freundin, eine Wohnung teilt. Sie ist eine Frau des Wortes und möchte ihren Habil fertigstellen, um ein Stipendium in Harvard zu bekommen. Oft unterwegs, hält sie Vorträge und referiert über historische Themen, als sie in New York den Saxophonisten Leo kennenlernt - und sich in ihn verliebt. Die Liaison wird für beide sehr leidenschaftlich, aber auch verzehrend. Hanna fällt es schwerer, geistige Arbeit zu leisten, da ihre Kopfschmerzen immer stärker werden....

Nach einer Operation und einem Schlaganfall ist es ihr nicht mehr - oder sehr schwer - möglich, an ihre Sprach- und Erinnerungsschätze heranzukommen: Verena Boos gelingt es hier überragend, auch emotional, die Psyche einer Frau auszuleuchten, der es die Sprache (durch den Schlag) sprichwörtlich verschlagen hat: "Da kratzt eine Erinnerung von unten am Eis" - als Beispiel: Diese Sätze machen die Ausdrucksstärke dieses Romans aus und drücken auch gleichzeitig die Kraft aus, die Anna innewohnt. Sie erkennt jedoch, dass sie ohne fremde Hilfe nicht auskommen wird, um das Haus winterfest zu machen und nimmt Hilfe von Nachbarn und Freunden an, die man im Romanverlauf kennenlernt: Eine sehr sympathische Figur ist hier Patrizio, der Hanna von Kindesbeinen an kennt und sie liebt; er und Daphne ziehen als temporäre Mitbewohner in Hannas Haus ein; Daphne hat hier einen Werkstattraum und Patrizio beschließt, seine italienische Familiengeschichte in Form eines Comics zu zeichnen und sich dafür eine Auszeit zu nehmen. Ein kleines Mädchen ist für mich auch heldenhaft gewesen, wenn es um die Hilfe für die behinderte Hanna ging: Lisa, die kleine Tochter der Nachbarin Sabrina.

In 10-Jahres-Schritten wird die Zeit seit der Geburt Hannas (1974) und ihr weiteres Leben bis in die Zukunft (2024) gezeichnet, in einer Weise, wie ich sie bisher noch nicht gelesen habe. Wenn es etwas heißt: "Sie (Hanna) war von Essays zu großen historischen Zusammenhängen auf Einkaufszettelniveau abgestürzt" (Zitat S. 247); diese realen statements gehen sehr unter die Haut, im Kontext mit der größer werdenden Hilflosigkeit, die der Sprachlosigkeit folgt und sich kommunikativ in Schnalzen äußert. Nicht zu lange Kapitel sind oftmals gleichbedeutend mit Zeitsprüngen, die diesen Roman sowohl inhaltlich als auch strukturell anspruchsvoll sein lassen: Bis zur Mitte des Romans hatte ich gewisse Schwierigkeiten mit der Sprache, die nüchtern, hölzern, gar sperrig klingt und ungewohnt zu lesen ist: In der zweiten Romanhälfte jedoch gab sich das und mir gefiel dieser sehr menschliche, auch etwas melancholische Ton durchaus.
Im Nachhinein würde ich sagen, dass die Sprache sehr im Kontext zur Handlung steht und gewollt teils sperrig daherkommt. Der Roman ist eine Art Zeitreise mit einer gesunden jungen Frau, die - ohne den Vater zu kennen und ohne Mutter - bei den sie sehr liebenden Großeltern aufwächst; Abitur macht, studiert und sehr große Lebenspläne verfolgt: Sich der Freundschaft von Patrizio immer gewiss sein kann, seine Liebe jedoch spät erkennt. Die durch einen Tumor und erlittenen Schlaganfall die Ziele ihrer Lebensreise ändern muss - und mit der Behinderung zu leben versucht. Letzteres ist Verena Boos sehr einfühlsam, emotinal und grandios gelungen, auch mit der Sprache konnte ich mich im Nachhinein durchaus versöhnen. Der Roman endet mit einer letzten Reise nach Venedig, wo sie mit Patrizio nach San Marco fährt, um den Löwen zu sehen.

Fazit:

Anspruchsvoll, stilistisch und sprachlich gewöhnungsbedürftig; im Nachhinein betrachtet jedoch sehr stimmig zur Romanhandlung: Der Leser wird entschädigt (und mehr als das) mit einem äußerst intensiven Einblick in das Leben und die Psyche einer noch recht jungen Akademikerin mit großen Plänen, die ihre Lebensreise nach einem erlittenen Schlaganfall völlig zu ändern gezwungen ist. "Kirchberg" lässt den Leser u.U. betroffen zurück, ist jedoch absolut lesenswert. Von mir 4 * und 89°/100 auf der Werteskala.