Veröffentlicht am 30.10.2018

Weggesperrt in den Tiefen seines Wesens

jenvo82

„Henning will die Familie nicht mit seinen Neurosen belasten. Er will ein Mann sein, den es zu lieben lohnt.“


Inhalt


Der Urlaub über den Jahreswechsel auf der Vulkaninsel Lanzarote wird für den Familienvater Henning zu einer echten Belastungsprobe. Schon seit längerer Zeit leidet er unter Panikattacken und fühlt sich in seinem Alltag vollkommen überlastet, obwohl er gar keine immensen Anforderungen erfüllen muss. Hin- und hergerissen zwischen seiner Verantwortung als Ehemann und Vater und seiner Verletzlichkeit reibt er sich immer mehr auf und findet selbst bei gemeinsamen Erlebnissen kaum noch etwas Schönes und Erfüllendes für sich selbst.

Am Neujahrstag macht er sich allein daran den Steilaufstieg nach Femés mit dem Rad zu bewältigen, um den Kopf frei zu bekommen und sich seiner Zukunft bewusst zu werden. Als er vollkommen erschöpft ankommt, nimmt ihn Luisa, die Bewohnerin des einzigen Hauses auf dem Berg auf und bewirtet ihn, damit er wieder zu Kräften kommt. Sie hat das Anwesen gekauft und nutzt es als Kunstatelier, doch während Henning durch die Räume geführt wird, holt ihn die eigene Erinnerung ein, denn er kennt die Möbel, die Muster an den Wänden, die Lage der Zimmer bereits, er weiß, was hinter dem Haus lauert und schlagartig rührt sich die Bedrohung aus längst vergangener Zeit …


Meinung


Die deutsche Erfolgsautorin Juli Zeh, die bereits zahlreiche Literaturpreise gewonnen hat, widmet sich in ihrem aktuellen Roman einer sehr alltäglichen und doch besonderen Geschichte. Denn den Hauptprotagonisten Henning könnte man direkt persönlich kennen, greift seine derzeitige Situation doch die vieler Menschen auf, die sich irgendwo in der Rush-Hour ihres Lebens befinden und sich selbst aus dem Blick verlieren, vor denen sich bedrohliche Berge unlösbarer Probleme auftürmen und die seelische Schäden von ständiger Überlastung tragen.

Doch das ist nur die halbe Geschichte. Besonders wird sie vor allem, durch die Erinnerung des Geschädigten, der endlich die Ursache für seine tiefliegenden Probleme gefunden hat, wenn auch durch eine Zufallsbegegnung. Es sind förmlich zwei Geschichten, die hier aus der gleichen Erzählperspektive geschildert werden, jedoch mit einem Zeitsprung von gut 30 Jahren.

Zunächst bekommt der Leser den erwachsenen Henning präsentiert, dann ist er plötzlich in der Rolle des großen Bruders, jedoch selbst noch ein Kind. In dieser Vergangenheitsperspektive macht sich große Beklemmung bemerkbar, schiere Verzweiflung und die immense seelische Verantwortung, die Henning ganz unfreiwillig übernehmen musste und die sich Jahre später immer wieder in seinen Panikattacken manifestiert. Ein kindliches Trauma, unbehandelt, verschüttet in den Tiefen der Seelen, wartet nur darauf wieder an die Oberfläche zu gelangen und mit später Zerstörungskraft zurückzuschlagen.

Sprachlich konnte mich der Roman überzeugen, eine leichtlesbare, erzählerische Nuance, direkt aus dem Leben im Wechsel mit der Stimme der Verzweiflung – dadurch kann man direkt eintauchen in das Geschehen und baut zu den Charakteren eine gewisse innere Nähe auf. Interessant, wie die Autorin Alltagssituationen mit der Gefühlsebene koppelt und dadurch Bilder erzeugt, die sich ins Gehirn einbrennen. Eine Wand voller Spinnen, ein dunkles Brunnenloch, in dem ein Monster wohnen könnte und ein altes, buntes Sofa, auf dem sich eine Untat ereignet – einfach, treffend und dennoch vielschichtig mit einem unverkennbaren Wiedererkennungswert.


Fazit


Ich vergebe sehr gute 4 Lesesterne für diesen eindringlichen, direkt beängstigenden, beklemmenden Roman, der seine Kraft aus der Vergangenheit zieht und immer wieder in kleinen Momenten die Verzweiflung eines kindlichen Individuums fokussiert. Das es der Autorin gelungen ist, die Angst einzufangen, sie direkt zu benennen und damit dem erwachsenen Mann eine Hilfestellung zu geben, sich in seiner gegenwärtigen Situation mit den Dämonen der Vergangenheit auszusöhnen, hat mir besonders imponiert. Und trotz der Tatsache, dass der Roman sehr persönlich erscheint und wenig Aussagekraft für die Allgemeinheit hat, konnte mich die Intensität der Gefühlspalette auf den knapp 200 Seiten überzeugen. Definitiv lesenswert und wer selbst beängstigende Kindheitserinnerungen hat, sieht vielleicht die ein oder andere Parallele.

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