Veröffentlicht am 26.08.2019

Blutig, düster und hochgradig komplex

Zauberberggast

Goethe hat einmal gesagt: "Alles Gescheite ist schon gedacht worden. Man muss nur versuchen, es noch einmal zu denken."
Diesen Satz hat sich Stuart Turton mit "Die sieben Tode der Evelyn Hardcastle" wohl indirekt zu Herzen genommen, indem er literarische Genres und Motive neu gedacht, zusammengewürfelt und etwas originär Neues geschaffen hat, was an Komplexität und Imaginationskraft seinesgleichen sucht.

Die Einflüsse und literarischen Vorlagen, die der Autor verarbeitet, sind zahlreich.
Zum einen Agatha Christie. Turton sagt im Nachwort, dass sie sein Vorbild war. Christie hat den englischen Kriminalroman als "Whodunit" (Wer ist es gewesen?) gleichsam erfunden und perfektioniert, es gibt wohl kaum eine Motiv-Mörder-Kombination die sie nicht beschrieben hat. Nicht immer aber sehr häufig ist der Schauplatz ihrer Krimis ein typisch englisches Herrenhaus, also der Landsitz eines Mitglieds der britischen Oberschicht bzw. des (Land-)Adels. Wo sonst kann man so wunderbar Angehörige der verschiedensten gesellschaftlichen Schichten an einem Ort zusammenführen (“Upstairs and Downstairs” ist das Stichwort) - vor allem dann, wenn eine Party gegeben wird. Hier ist es der Landsitz der Familie Hardcastle, Blackheath Hall.
Auch Turtons Personalkarussell gibt von der verarmten Adelsfamilie, über den Wildhüter (ich erinnere nur an den seinerzeit skandalösen Bestseller “Lady Chatterley’s Lover”), den Künstler, die Vermögensverwalter und Anwälte und den obligatorischen Polizisten bis hin zu alten Freunden und natürlich dem restlichen Hauspersonal alles her, was der Liebhaber solcher Christie-Settings (dazu zähle ich mich auch) kennt und erwartet.

Ist das Landhaus schon etwas verfallen, ist das die perfekte Brutstätte für allerlei dunkle Geheimnisse in der Tradition des englischen Schauerromans ("Gothic novel"). Auch das greift Stuart Turton mit dem degenerierten Herrenhaus, das bezeichnenderweise "Blackheath" (Emily Brontës Heathcliff lässt grüßen) heißt, auf: die Zeichen des Verfalls wurden für die Party nur notdürftig renoviert, hinter der aufgeputzten Fassade fällt alles auseinander, denn - die Hardcastles haben kaum noch Geld. Eigentlich wohnen sie auch nicht mehr auf Blackheath, ein morbider Jahrestag ist der Anlass, weshalb Lord und Lady Hardcastle zum Maskenball laden. Somit ist der heimliche und doch so offensichtliche Protagonist dieses Buches das unheimliche, verlassene und verschachtelte Herrenhaus sowie seine (Jagd-)Gründe - der Ursprung allen Übels.

Wer aber jetzt einen etwas gruseligen, aber unblutigen "Cosy Krimi" erwartet, bei dem viel Tee im Salon getrunken und wie nebenbei ein Mord gelöst wird - weit gefehlt! Dieses verschachtelte Werk hat mehr mit einem Psychothriller gemeinsam, als man denkt und es gibt explizite Gewaltszenen. Psychoterror, dunkle Geheimnisse, Angst und Schuld bilden ein Geflecht seelischer Abgründe, zwischen denen sich der Plot bewegt.

Die Handlung lehnt sich neben den genannten literarischen Genres an Filme wie “Groundhog Day” an, der das Thema “Zeitschleife” und das schwierige Unterfangen, dieser zu entfliehen, populär gemacht hat. Humor, selbst schwarzer, ist aber hier im Gegensatz zum Hollywoodklassiker kaum zu finden. Aiden Bishop, das Individuum dass sich in diesem Roman in der Zeitschleife befindet und unser Ich-Erzähler, muss außerdem neben dem Tag im September, den er immer wieder erlebt, auch noch durch verschiedene Körper reisen, um sein Ziel zu erreichen: den Mord an Evelyn Hardcastle aufklären um dem “time loop” zu entfliehen.

Strukturell erinnert das Buch auch an ein Computer- bzw. ein Exit-Room-Spiel. Anhand der Karte am Anfang kann der Leser versuchen sich zu orientieren - und das ist gar nicht so einfach. In diesem Buch reiht sich eine Metaebene an und über die andere, überall Zeichen und Zeichenhaftigkeit, rote Fäden, die doch oft ins Leere laufen. Roland Barthes, der große Semiologe, hätte seine wahre Freude an diesem Roman.

Wie Aiden Bishop muss der Leser sich nicht nur im Herrenhaus, sondern auch erstmal in jedem Gastkörper zurechtfinden, muss seine Möglichkeiten, die Psyche und die Physis der jeweiligen Person ausloten, in die er geschlüpft ist. Und dann muss er sich in Blackheath seiner Aufgabe stellen, bevor die Stunde schlägt, in der Evelyn Hardcastle stirbt. Die Zeit ist der eigentliche Feind Bishops, den wir nur als körperloses Individuum kennenlernen, das sich selbst nicht mehr an sich erinnern kann. Nur die kursiv gesetzte nüchterne Stimme im Kopf, die in Zeiten größter Agitation auftritt, ist ein Traumrest seiner Persönlichkeit.

Turton stellt in diesem meisterhaften Buch auch philosophische Menschheitsfragen - sind wir determiniert oder frei, machen wir uns unser Gefängnis selbst, was passiert mit unserer Seele, etc.

Ich denke, dieser Roman polarisiert - für mich funktioniert er, auch wenn ich ihn mir persönlich weniger blutig und düster gewünscht hätte. Dennoch ist die literarische Qualität dieses Romans unbestritten!


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