Veröffentlicht am 03.02.2020

Der heilige Gral der Naturwissenschaft

Helena89

Der Aal ist der rätselhafteste Fisch der Welt. Seine Existenz und sein Lebenswandel werfen uns seit jeher viele Fragen auf und bis heute hat man noch nicht alle mit Bestimmtheit beantworten können beziehungsweise die Frage nach dem „Warum?“ aus der Dunkelheit ans Licht hervorholen können. So haben viele passionierte Forscher sehr viel Zeit und Energie – nicht selten ihr halbes Leben – der sogenannten Aalfrage gewidmet. Der Däne Johannes Schmidt ist beispielsweise 18 Jahre lang durch die Meere gefahren, bevor er den Ursprungsort des Aale – die Sargassosee – entdeckt hat. Auch so manches poetische Werk, wie Günter Grass‘ „Die Blechtrommel“, Boris Vians „Die Gischt der Tage“ oder Graham Swifts „Wasserland“ haben sich dem Aal auf literarische Weise genährt. Die Reihe wird nun von Patrik Svensson fortgesetzt, der uns behutsam an die Hand nimmt und uns auf verständliche, berührende und poetische Weise in die Geschichte des Aals einführt.

„Das Evangelium der Aale“ ist halb Sach-, halb Erinnerungsbuch, denn in sich abwechselnden Kapiteln erzählt uns der Autor von wichtigen Stationen in der Mensch-Aal-Geschichte und gewährt uns Einblicke in seine eigene Geschichte, dessen Schwerpunkt die Vater-Sohn-Beziehung ausmacht. Wie sich schnell herausstellt, war das Aalfangen diejenige Tätigkeit, die Patrik Svensson und seinen Vater verbunden hat und ihr Verhältnis zueinander geprägt hat. So wird die allgemeine Aalfrage zu seiner ganz eigenen Frage nach der Herkunft, dem Sinn des Lebens und seinem Ziel, das sich auch jeder andere Mensch in unterschiedlicher Gewichtung stellt. „Das Rätselhafte, schwer Durchschaubare des Aals wird zum Echo der Fragen, die jeder Mensch in sich trägt: Wer bin ich? Woher komme ich? Wohin bin ich unterwegs?“

Im einführenden Kapitel wird uns das Grundwissen über den Aal vermittelt. So erfahren wir, dass der Aal nur an einer einzigen Stelle im gesamten Ozean – der Sargassosee – das Licht der Welt erblickt und zunächst als ‚Weidenblättchen‘ und nach der ersten Metamorphose zum Glasaal bis zu drei Jahre durch das Meer treibt, bevor er sich als Gelbaal in einem Bach, Teich oder Binnensee entschließt, angekommen zu sein. In seinem selbstgewählten Zuhause führt er fortan das Leben eines Einzelgängers, bis ihn irgendwann – normalerweise im Alter zwischen fünfzehn und dreißig Jahren – eine innere Kraft dazu antreibt zwecks der Fortpflanzung an seinen Ursprungsort zurückzukehren. Während er zurückschwimmt, bilden sich seine Geschlechtsorgane aus, während sein Verdauungssystem sich zurückbildet. In der Sargassosee angelangt, findet das Ablaichen statt, nachdem der Aal verstirbt.

Wie wir später erfahren, wurde dieses Wissen über Jahrhunderte zusammengetragen. Die Geschichte beginnt bei Aristoteles, der sich als erster großer Gelehrter ganz besonders für den Aal interessiert hat, und reicht von Sigmund Freud, dem Dänen Johannes Schmidt und der Meeresbiologin Rachel Carson bis in unsere jüngste Gegenwart hinein. Vieles von dem, was wir zu wissen glauben, ist aber bis heute nicht bestätigt. So hat kein Mensch jemals zwei Aale bei der Fortpflanzung beobachtet, noch hat man je einen ausgewachsenen Aal in der Sargassosee gesehen. Und eine weitere wichtige Tatsache: Der Aal vermehrt sich nicht Gefangenschaft. „Es war fast, als wehre sich der Aal dagegen, jemand anderem die Kontrolle über den Schöpfungsakt zu überlassen, als wäre seine Existenz ganz allein seine Sache.“ Das heißt, dass der vom Aussterben bedrohte Aal womöglich irgendwann wie der vom Autor herangeführte Dodo oder die Sehkuh für immer von der Erdoberfläche verschwunden sein wird, „bis es nichts mehr [über ihn] zu wissen gibt“.

„Das Evangelium der Aale“ ist eine ganz besondere Art von Buch. Es ist halb Sach-, halb Erinnerungsbuch, aber nicht das allein ist das Besondere daran. Es ist der Versuch das Lebewesen, „das sich aktiv der menschlichen Erkenntnis entzieht“, zu begreifen. Und es ist ein Plädoyer für den Aal als Lebewesen, aber gleichzeitig auch für den Aal als eine große verbindungsstiftende Symbolkraft, die die Geschichte der Menschen im Allgemeinen und das Verhältnis des Autors zu seinem mittlerweile verstorbenen Vater im Speziellen bestimmt. Wer hätte gedacht, dass ein Buch über Aale so bewegend sein kann? Und doch ist es so, denn oftmals ist nicht das Was, sondern das Wie entscheidend und das beherrscht Patrik Svensson meisterhaft! Ich kann dieses poetische Debüt über die Natur, die Suche nach Wissen, Menschlichkeit und Verstehen jedem nur wärmstens ans Herz legen.

Zum Produkt