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Nilchen

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Veröffentlicht am 07.12.2025

Zwischen Tango und Projektorlicht – Litas Reise ins Herz der Geschichten

Mr. Saitos reisendes Kino
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Lita wächst in einem Leben auf, das vom ersten Atemzug an aus dem Takt der gewöhnlichen Welt fällt. Ihre Mutter Fabiola – eine Frau, die den Tango nicht nur tanzt, sondern im Blut trägt – wirbelt sie durch ...

Lita wächst in einem Leben auf, das vom ersten Atemzug an aus dem Takt der gewöhnlichen Welt fällt. Ihre Mutter Fabiola – eine Frau, die den Tango nicht nur tanzt, sondern im Blut trägt – wirbelt sie durch eine Kindheit, die von Leidenschaft, Chaos und plötzlichen Wendungen bestimmt ist. Als die politischen Verhältnisse ihrer Heimat ihnen den Boden unter den Füßen wegziehen, geraten Mutter und Tochter auf eine abgelegene Insel vor Neufundland: ein Ort, an dem der Wind Geschichten erzählt und die Menschen eher dem Meer vertrauen als ihrem eigenen Glück. In einem alten Seemannsheim, bevölkert von schrägen, aber herzoffenen Gestalten, findet Lita eine neue Welt, die langsam – völlig unerwartet – zu ihrem Zuhause wird. Dort begegnet sie Oona, der gehörlosen Tochter der Gastgeber, deren stille Stärke mehr sagt als jedes Wort. Und eines Tages rollt ein Mann namens Mr. Saito seinen Projektor aus, spannt ein Laken in die salzige Luft und bringt Bilder, Hoffnung und Veränderung auf diese windumpeitschte Insel. Seine Ankunft bleibt nicht ohne Folgen: Für die Bewohner, für Fabiola – und vor allem für Lita.
Was Annette Bjergfeldt daraus formt, ist ein Roman, der weniger eine Geschichte erzählt als ein Leben einatmet. Ihre Sprache hat eine Musikalität, die spürbar macht, dass sie nicht nur Autorin, sondern auch Musikerin ist. Jeder Satz wirkt rhythmisch gesetzt, jede Szene wie ein leuchtendes Bild, das langsam in die nächste überblendet. Man liest und hat das Gefühl, der Roman sei selbst eine Art Wanderkino: lichtdurchflutet, melancholisch, manchmal flackernd, aber immer mit Wärme und stiller Kraft.
Stark ist vor allem die Art, wie Bjergfeldt Emotionen nie breit ausmalt, sondern sie in kleinen, präzisen Momenten aufflammen lässt. Wenn die Inselbewohner in Mr. Saitos Filmen Dinge erkennen, die sie sich selbst nicht zu sagen trauen – unerfüllte Wünsche, verlorene Träume, heimliche Hoffnungen –, dann spürt man, dass Kino hier mehr ist als Unterhaltung: Es ist ein Spiegel, eine Rettungsleine, ein geheimer Raum. Besonders Lita findet im Licht des Projektors etwas, das ihr Leben neu ausrichtet – nicht wie ein Paukenschlag, sondern wie ein langsames, inneres Aufleuchten.
Die Erzählstruktur, die sich in sieben „Wellen“ gliedert, spiegelt nicht nur das Auf und Ab von Litas Lebensreise, sondern schenkt dem Roman einen ruhigen, fließenden Rhythmus. Manche Passagen wirken beinahe träumerisch, als würde man im Gleichklang mit der Brandung lesen. Wer rasante Handlung sucht, könnte hier ungeduldig werden – aber wer sich gerne in atmosphärische Welten fallen lässt, wird sich in diesem Tempo verlieren wie in einem langen Kinonachmittag, der im Dämmerlicht endet.
Was jedoch am stärksten nachhallt, ist dieses Gefühl, dass Familie nicht immer die ist, in die man hineingeboren wird, sondern jene, die einen auffängt, wenn man aufs offene Meer hinaustreibt. Die Freundschaft zwischen Lita und Oona, die exzentrischen Seemänner, der wortkarge Mr. Saito – sie alle werden zu Ankern in einem Leben, das von Anfang an auf Bewegung eingestellt war.
Mr. Saitos reisendes Kino ist ein Roman voller Zwischentöne: melancholisch, warm, humorvoll, poetisch. Ein Buch, das nicht laut ruft, sondern leise bleibt – und gerade deshalb lange im Herzen vibrierend zurückbleibt. Ein großes, stilles Kino, das zeigt, wie sehr Geschichten verändern können. Und wie manchmal schon ein flackerndes Bild auf einem weißen Laken reicht, um ein Leben ins richtige Licht zu rücken.

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Veröffentlicht am 16.11.2025

Zwischen leisen Schatten und hellen Momenten – Schirachs Kunst des Hinsehens

Der stille Freund
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Von Schirach bleibt seinem Stil treu: präzise, reduziert, manchmal fast asketisch – und doch voller Atmosphäre. Vierzehn Geschichten versammelt er hier, und sie führen an Orte, die nachklingen: Berlin, ...

Von Schirach bleibt seinem Stil treu: präzise, reduziert, manchmal fast asketisch – und doch voller Atmosphäre. Vierzehn Geschichten versammelt er hier, und sie führen an Orte, die nachklingen: Berlin, Kapstadt, Rom, Wien, die Côte d’Azur. Es sind Begegnungen, die sich wie zufällige Splitter eines Lebens anfühlen, aber immer etwas Größeres in sich tragen: die Verletzlichkeit des Menschen, seine Sehnsucht, seine Abgründe.
Der Autor erzählt von Menschen, die ihm begegnet sind, von Freunden, vergessenen Persönlichkeiten, Berühmten und Stillen. Einige dieser Figuren tragen historische Namen – Gottfried von Cramm, Adolf Loos, Egon Friedell – andere könnte man auch im Café nebenan treffen. Und wie so oft bei Schirach verschwimmen Realität und Fiktion in einem Ton, der nichts behauptet, nichts bewertet, sondern einfach beobachtet.
Wie in seinen früheren Bänden Schuld oder Verbrechen gibt es Geschichten, die sich festsetzen – Szenen, die blitzen wie ein unerwartetes Schlaglicht. Andere ziehen eher leise vorbei. Manche wirken intellektuell herausfordernder, vielleicht sogar etwas distanziert; andere treffen ohne Vorwarnung mitten ins Herz. Genau dieses Changieren macht seine Erzählbände für mich so reizvoll.
Ich gebe zu: In Schirachs jüngsten Veröffentlichungen empfand ich manchmal eine gewisse Müdigkeit. Dieses permanente Umgeben-Sein von berühmten, reichen Menschen, dieses weltläufige Flanieren von Hotelbar zu Hotelbar – das hatte für mich bisweilen einen „alte-weiße-Männer“-Vibe, der mich eher kaltließ. Doch Der stille Freund überrascht mich: Viele der Texte wirken wieder näher, menschlicher, wärmer. Die besten Geschichten sind jene über Bekannte und Freunde – da, wo er selbst ein Stück zurücktritt und seine Figuren leuchten lässt.
Gerade deshalb empfinde ich dieses neue Buch als Rückkehr zu jener Stärke, die ich an Schirach immer am liebsten mochte: die kunstvolle Einfachheit, die moralische Offenheit, das klare Sehen ohne Urteil. Es ist ein stilles Buch, ein schmaler Begleiter – aber einer, der lange nachhallt.

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Veröffentlicht am 16.11.2025

Eine ungarische Adelsfamilie in den Turbulenzen des 20. Jahrhunderts

Lázár
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Diesem Buch konnte man gar nicht entfliehen auf Bookstagram und überall wo viel über gute Bücher gesprochen und geschrieben wurde, daher hab auch ich es zur Hand genommen, obwohl Romane mit Pferden auf ...

Diesem Buch konnte man gar nicht entfliehen auf Bookstagram und überall wo viel über gute Bücher gesprochen und geschrieben wurde, daher hab auch ich es zur Hand genommen, obwohl Romane mit Pferden auf dem Cover sonst so gar nicht meines sind!
“ Der Schriftsteller fürchtet sich vor nichts mehr als vor dem Glück, was nur verständlich ist, denn Schreiben ist Konservieren, Festhalten, Ordnen, das Glück aber meidet die Sprache, entzieht sich den Wörtern, versteckt sich in der Vergänglichkeit und zerfällt, wenn man es zu erklären versucht.” (S. 108)

Und ich muss das Fazit vorziehen: Es hat sich gelohnt! Was ein tolles Buch. Die unabhängigen Buchhändler:innen haben dieses Buch in 2025 zu ihrem Buch des Jahres erklärt. Gute Wahl!
Nelio Biedermann findet eine äußerst gute Sprache für so vieles unaussprechliches. Für Dinge und Umstände, für die man zur damaligen Zeit keine Worte fand. Geschickt springt er in der Zeit, erzählt episodenhaft, aber zeichnet ein rundes Bilder einer Familie über Generationen hinweg.
“Auch sie, die die Hoffnung nicht verloren hatten, hofften eigentlich nicht auf die Zukunft, sondern auf die Rückkehr der Vergangenheit.” (S. 290)
Es geht um eine adelige Familie in Ungarn, die zurückgezogen in einem Waldschloss lebt. Zunächst im Glauben, dass der Adel und die Lebensweise ohne Umbrüche immer so weiter geht, aber dann kommt der erste Weltkrieg, dann der Zweite und dann die Kommunisten. Eine tragische Verstrickung von Ereignissen.
Wieder ein Buch, dass schafft durch eine fiktionalisierte Geschichte einen emphatischen Raum zu öffnen und die Imagination antreibt sich auszumalen wie die vergangenen Zeiten die Gegenwart geprägt hat.
Ich habe es sehr gern gelesen und wünsche Lazár viele Leser. Ach ja, und ignorieren sie das Pferd, auch wenn ihnen beim Lesen klar wird, welche Rolle es spielt.

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Veröffentlicht am 11.11.2025

Kunst, K-Drama und Küsse

The Seoul Season
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Ich sag’s gleich vorweg: The Seoul Season von Patricia Bouslair ist so gar nicht mein übliches Beuteschema. Normalerweise tummeln sich auf meinem Nachttisch eher Krimis, verschrobene Familiengeschichten ...

Ich sag’s gleich vorweg: The Seoul Season von Patricia Bouslair ist so gar nicht mein übliches Beuteschema. Normalerweise tummeln sich auf meinem Nachttisch eher Krimis, verschrobene Familiengeschichten oder Bücher, bei denen man mindestens drei Mal nachdenken muss, bevor man versteht, warum die Hauptfigur plötzlich im Jahr 1862 steht. Aber – und das ist das Schöne am Viellesen – manchmal stolpert man in Genres hinein, die man sonst links liegen lassen würde … und landet prompt mitten in Seoul, zwischen Kirschblüten, Kunst und K-Drama-Vibes.
Schon nach den ersten Kapiteln hatte ich das Gefühl, ich binge-watche statt lese. Location-Scout Maya ist so eine dieser Figuren, die man gleichzeitig schütteln und umarmen möchte. Beruflich ehrgeizig, emotional leicht chaotisch, und immer mit der Kamera im Anschlag – wie eine Mischung aus Karrierefrau und Tagträumerin auf Koffein. Und dann taucht Jae-ho auf, der grumpy Künstler mit der charmanten Aura eines Mannes, der zu viele Espresso und zu wenig Komplimente bekommen hat. Natürlich prallen die beiden aufeinander wie Öl und Wasser – und genau das macht’s so herrlich.
Was mir richtig gefallen hat, war, wie Bouslair die Stadt selbst zur dritten Hauptfigur macht. Zwischen Neonlichtern, stillen Galerien und Gassen, die nach Streetfood riechen, hat man das Gefühl, Seoul atmet mit jeder Seite. Ich musste kurz nach Flugpreisen googeln, bevor ich mich wieder daran erinnerte, dass mein Kontostand die „Reise“ auf Papier eindeutig bevorzugt.
Ja, die Story ist stellenweise vorhersehbar, und die obligatorische „Oh nein, eine Lüge droht alles zu zerstören“-Szene kommt pünktlich wie der Abspann einer Netflix-Romcom. Aber wisst ihr was? Ich habe es genossen. Diese Mischung aus leichter Melancholie, Humor und Fernweh ist einfach ansteckend. Und der „Slow Burn“ zwischen Maya und Jae-ho? Ein emotionaler Tanz auf Glut, bei dem man am liebsten selbst mitfächeln würde.
Fazit einer sonst genrefremden Vielleserin: The Seoul Season ist wie ein hübsch gestalteter Farbschnitt – vielleicht nicht tiefgründig wie ein Dostojewski, aber wunderschön anzuschauen, charmant in seiner Einfachheit und perfekt, wenn man Herzklopfen und Reisesehnsucht auf einmal spüren will.
Wer Romantik mag, bekommt hier Seoul fürs Herz. Wer sonst anderes liest, bekommt eine angenehm süße Überraschung. Und ich? Ich überlege gerade, ob ich mich doch mal an ein K-Drama wage … nur zu Recherchezwecken natürlich.

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Veröffentlicht am 27.09.2025

Zwischen Sehnsucht und Schärfe

Moscow Mule
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Ich gestehe: Eigentlich kam ich über den Drink zum Buch. Ein Moscow Mule gehört für mich zu den besten Cocktails überhaupt – frisch, scharf, ein bisschen wild. Genau so fühlt sich auch dieser Roman an. ...

Ich gestehe: Eigentlich kam ich über den Drink zum Buch. Ein Moscow Mule gehört für mich zu den besten Cocktails überhaupt – frisch, scharf, ein bisschen wild. Genau so fühlt sich auch dieser Roman an. Und so wie der Drink zu meinem Lieblingsgetränk wurde, so hat Maya Rosas Debüt Moscow Mule direkt einen festen Platz in meinem Bücherregal gefunden.
Wir folgen Karina und Tonya, zwei Studentinnen im Moskau der frühen 2000er Jahre. Sie teilen nicht nur das Leben im Wohnheim, das ständige Geldproblem und den schwarzen Humor, der sie über Wasser hält – sondern vor allem einen großen Traum: Europa. Ein neues Leben, raus aus den engen Strukturen, raus aus der Korruption, raus aus der bleiernen Schwere eines Systems, in dem Zukunft oft wie ein leeres Wort klingt.
Maya Rosa zeichnet dieses Setting mit einer Wucht, die mich sofort hineingezogen hat. Man riecht die abgestandene Luft der Wohnheime, spürt die Kälte der Moskauer Straßen, hört die lauten Widersprüche dieser Stadt: Luxusautos und Kaviar für wenige, Nudeln aus dem Wasserkocher für viele. Die Figuren sind keine Heldinnen aus Hochglanzprosa, sondern junge Frauen voller Sehnsucht, Fehler, Schlagfertigkeit und Zorn. Gerade Karina, mit ihrer unbändigen Energie, wirkt wie eine Naturgewalt, während Tonya eher leiser, nachdenklicher bleibt.
Was dieses Debüt so stark macht, ist der Tonfall: direkt, schnörkellos, gleichzeitig poetisch und mit einem Witz, der manchmal so unerwartet daherkommt, dass man laut lachen muss. Doch unter dieser Leichtigkeit lauern immer die Schwere und der Ernst der Lage: Korruption, Perspektivlosigkeit, politische Repression. Maya Rosa verknüpft das Persönliche mit dem Politischen, ohne belehrend zu wirken. Man liest von Freundschaft, Freiheit, Identität – und begreift gleichzeitig viel über die gesellschaftliche Wirklichkeit Russlands dieser Zeit.
Besonders berührt hat mich, wie klar hier gezeigt wird, dass Träume nicht nur Flügel geben, sondern auch Mauern errichten können. Der Wunsch nach einem anderen Leben wird für Karina so stark, dass selbst die engste Freundschaft Risse bekommt. Diese Ambivalenz – zwischen Nähe und Distanz, Hoffnung und Ernüchterung – macht den Roman so wahrhaftig.
„Moscow Mule“ ist ein Debüt, das in Erinnerung bleibt: sprachlich packend, inhaltlich relevant und emotional zutiefst bewegend. Wie der Drink, nach dem es benannt ist, vereint es Leichtigkeit und Schärfe, Süße und Bitterkeit. Für mich war es ein absolutes Highlight, und ich vergebe ohne Zögern fünf Sterne. Ich freue mich jetzt schon auf das, was Maya Rosa als Nächstes schreiben wird.

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