Veröffentlicht am 31.01.2022

Sanfte Geschichte mit emotionalen Wendungen

bookmedworld

„Ich bin immer noch Emma, aber was ich hier sein werde, das liegt ganz allein in meiner Hand.“

Anywhere ist der Auftakt der neuen Trilogie von Sarah Sprinz. Es geht um Emma Wiley, die auf den Spuren ihres Vaters ist und die Wahrheit hinter seinem Verlassen erfahren möchte. So reist sie nach Schottland, um an die Dunbridge Academy zu gehen, in der Hoffnung, mehr über ihre Eltern und ihre Vergangenheit zu erfahren. Denn auch sie waren Schüler und Schülerin des Internats. Bereits auf dem Frankfurter Flughafen trifft Emma auf Henry und zwischen den beiden beginnt es zu prickeln. Doch Henry hat eine Freundin. Wird Emma ihren Plan verfolgen können oder ihren Gefühlen nachgeben und sich ablenken lassen?

Das Buch wird in der Ich-Perspektive aus beiden Sichten geschrieben. So erfahren wir nicht nur Emmas Geschichte, sondern auch die Henrys. Wer schon einmal ein Buch der Autorin gelesen hat, weiß, dass der Schreibstil sehr flüssig und leicht zu lesen ist. Man ist sofort in die Klauen der Geschichte gefangen, weshalb die Seiten nur dahinfliegen. Sarah Sprinz‘ Liebe zum Detail wird an genau den perfekten Stellen ausgeweitet, die wichtig für die Handlung sind und dem Lesenden ein besseres Bild vermitteln. Und an genau den perfekten Stellen ausgespart, um der Handlung Spannung zu verleihen.

Der Prolog ist sehr interessant und lässt einen grübeln, worüber gesprochen wird, vor allem aber, von wem er handelt. Ist es Emma oder doch Henry, da beide Charaktere mit uns sprechen? Gegen Ende des Buchs wird dieselbe Szene aufgegriffen, und in dem gegebenen Kontext versteht man nun, um wen es geht. Und um was es geht. Und mit dieser Auflösung hätte wohl niemand gerechnet. Ganz und gar nicht!

Emma ist eine sehr zielstrebige Person, die das Laufen liebt. Für mich - ein Sportmuffel - nicht nachvollziehbar, doch als der wahre Grund an die Oberfläche kommt, ist man zutiefst berührt. Das Laufen hat eine emotionale Bedeutung für Emma. Das erklärt auch die Widmung, die Sarah Sprinz zu Beginn so emotional verfasst hat. Henry dagegen ist der typische Vorzeigeschüler und Schulsprecher. Auf ihn ist immer Verlass und er würde alles tun, um seine Liebsten zu schützen. Auch wenn es bedeutet, in ein Schlamassel zu geraten, das seine Zukunft aufs Spiel setzen würde.

Das Buch beginnt mit Emma, wie sie hektisch auf den Weg zum Flughafen ist und in Henry läuft. Auf diese Weise lernen sie sich kennen und legen den Weg zur Dunbridge Academy gemeinsam zurück. Dort angekommen nimmt die Autorin uns so authentisch mit an das Internat, dass man selbst das Gefühl hat, mit Emma jeden Geruch, jedes Geräusch und jede Emotion wahrzunehmen. Das Prickeln der Neugier und der Aufregung bereitet sich ebenfalls in unserem Bauch und auf unserer Haut aus. Schnell lernt man neben Henry auch seine Freundin Grace kennen, ebenso Tori und Sinclair - letzteres Henrys bester Freund. Tori ist das typische aufgewühlte und laute Mädchen, das sich nicht einkriegen lässt. Und Sinclair ist eben Sinclair. Ihn habe ich jetzt schon fest ins Herz geschlossen und freue mich sehr auf seine Geschichte!

Stück für Stück kommen wir an die Academy an und lernen die Schüler und Schülerinnen, Lehrer und Lehrerinnen kennen. Am meisten bleibt jedoch Mr Ward in Erinnerung, denn er scheint eine Vergangenheit mit Emmas Eltern zu haben. Denn direkt auf der ersten Begegnung ist er ihr gegenüber negativ gestimmt und nicht gut anzusprechen. Warum genau ist vorerst unklar. Fest steht allerdings, dass er sie noch weniger mag als die anderen Schüler. Seine griesgrämigen Züge sind nämlich allgemein bekannt. Und als gegen Ende hin das Geheimnis gelüftet wird, ist doch alles anders gekommen, als man gedacht hätte. Ich zumindest hatte einige Theorien, ganz sicher jedoch nicht die, die die Autorin eingebaut hat.

Die Atmosphäre an der Academy ist sehr einladend, offen und willkommen. Man fühlt sich direkt aufgenommen und möchte am liebsten gar nicht mehr weg. Gleichzeitig jedoch auch sehr geheimnisvoll, mystisch, aufregend und voll Adrenalin geladen. Denn die ganzen Mitternachtparties, Besuche nach der Flügelzeit und die vielversprechenden Spaziergänge durch efeubewachsenen Mauern sind alles andere als erlaubt. So ist man immer im Wettlauf mit der Zeit und des Erwischtwerdens.
Die Autorin beschreibt zwar den Alltag eines Internatsschülers, doch ist der Fokus erst einmal auf die Entwicklung beider Hauptprotagonisten gelegt. Es passiert dementsprechend nicht sehr viel und gewaltiges, doch benötigt diese Geschichte auch nichts Weltbewegendes. Das Mitverfolgen der Charakterentwicklung sowie deren Beziehung ist meiner Meinung ausreichend genug. Zwischendurch wirft die Autorin häppchenweise Hinweise bezüglich Emmas Vater uns zu, die uns mit gekräuselter Stirn zurücklassen. Ist er doch ganz anders, als Emma ihn in Erinnerung hat? Das ganze Buch baut auf das Finden Emmas Vater auf. Und als es schließlich passiert, war ich ziemlich sprachlos. Ich hatte vieles erwartet, mir die Situation auf unterschiedliche Weise vorgestellt. Doch nicht so, wie es gekommen ist. Genaueres möchte ich hier nicht erwähnen, da ich sonst zu sehr spoilern würde.

Gleichzeitig nähern sich Emma und Henry immer mehr und können die Anziehung nicht ignorieren. An dieser Stelle muss jeder für sich bestimmen, ab wann eine Beziehung unter Fremdgehen eingestuft wird. Es passiert nämlich etwas, wo ich über Henry enttäuscht war. Doch diese Enttäuschung nahm er mir sogleich wieder weg, als er mit Grace offen über ihre Situation spricht. Allerdings hätte ich mir gewünscht, dass er viel früher die Karten offen auf den Tisch legen würde.

Als schließlich nur positives in Sicht ist, nimmt die Autorin unser Herz in die Hand und reißt es gewaltsam aus unserer Brust, ohne Rücksicht auf die klaffende Wunde, die sie uns zugefügt hat. Ich war sprachlos, mein Kinn berührte den Boden, meine Augen wollten die Buchstaben nicht als Wahrheit annehmen und meine Seele unterdrückte einen Schrei. Glücklicherweise fängt uns Sarah Sprinz auf und hilft uns unseren Weg der Heilung zu finden. Zwar dauert es und es braucht seine Zeit, doch findet der Lesende wieder langsam Luft zum Atmen. Ganz heilen werden wir wohl erst wirklich mit der Zeit. Das war eine so große Wendung und so unerwartet, dass ich sprachlos zurückgelassen wurde. Wo das ganze Buch eher eine sanfte Atmosphäre mit lockeren Geschehnissen, dem Einleben und sich finden befasst - mit wenigen kleinen emotionalen Momenten - geht diese Wendung jedoch sehr unter die Haut. Sarah Sprinz schickt uns durch einen dunklen Tunnel, der nicht zu enden scheinen mag. Der Schmerz ist so stark und präsent, dass wir von ihm geblendet werden und einen Fehler nach den anderen machen und noch tiefer fallen. Die Wunde ist zu tief, als dass wir sie einfach vergessen können, und zu groß, als dass wir einfach ein Pflaster drauf kleben können. Doch irgendwann, wenn man denkt, dass man nicht mehr laufen kann, nicht mehr weiter kann, und nun endgültig untergeht, erblickt man einen kleinen Lichtfleck. Ein Funke auf Hoffnung, auf eine erträglichere Zeit. Gegen Ende hin ist längst nicht alles verheilt. Aber genau das fand ich sehr authentisch. Auch im wahren Leben braucht man Zeit, bis man die Erkenntnis trifft, dass man mit dem Schmerz und dem Loch leben lernen muss. Und genau diese Erkenntnis erfahren wir. Im Prolog wiederum, das Monate später ansetzt, sieht die Lage viel besser aus und man erkennt erste Ansätze der Heilung. Gleichzeitig stellen sich die Nackenhaare auf und der Lesende starrt gebannt und mit angehaltener Luft auf die nächsten Wörter und liest und liest und liest und wartet auf den Moment, in dem die Autorin uns wieder zu Atem kommen lässt. Und als sich alles fügt, wissen wir, dass wir endlich, endlich, endlich angekommen sind und keinen Grund zum Laufen brauchen.

Insgesamt eine sehr gelungene, schöne Geschichte, die sich mit wichtigen Themen befasst und sowohl die schönen als auch die bösen Seiten des Lebens aufgreift.

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