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Veröffentlicht am 25.05.2018

Die Zeit, die keine gute war

Der Gott jenes Sommers
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„Frei und mittig sitzen wir unter dem Himmelsrund, und mag der Gott dieses Sommers unsere Nähe auch verschmähen – kann er sich denn weiter entfernen, als der Gedanke, der ihm gilt? Haben wir nicht alles ...

„Frei und mittig sitzen wir unter dem Himmelsrund, und mag der Gott dieses Sommers unsere Nähe auch verschmähen – kann er sich denn weiter entfernen, als der Gedanke, der ihm gilt? Haben wir nicht alles dem Menschen Mögliche versucht?“


Inhalt


Die 12-jährige Luisa erlebt die letzten Ausläufer des 2. Weltkrieges in ihrer Kindheit, ohne genau benennen zu können, was um sie herum vor sich geht. Zwar kommt sie durchaus mit den Kriegsopfern in Kontakt, sieht Leid und Elend, erlebt die Flüchtlingsströme und die verzweifelten Versuche des Regimes, den Krieg noch zu gewinnen, doch bleibt ihr das Verständnis, wozu dies alles geschieht verborgen. Was sie stattdessen erlebt, ist ein Elternhaus, in dem es wenig Gefühle gibt, eine große Schwester, die sich jedem Mann an den Hals wirft, nur um sich zu betäuben und zu spüren, dass sie lebt und einen Vater, der nur noch Gast im eigenen Hause ist. So schwärmt sie lieber für den Melker Walther, bis dieser dann einberufen wird und als ihre Schwester verschwindet und sie auf der Geburtstagsfeier ihres Schwagers mit der Willkür eines Mannes in Berührung kommt, zieht sie sich mental immer weiter aus der Welt zurück.


Meinung


Ralf Rothmann greift in diesem Roman die letzten Tage des Krieges auf, und begibt sich mit der Hauptprotagonistin Luisa auf eine Spurensuche hinein in die kindliche Vorstellungskraft von Recht und Unrecht. „Der Gott jenes Sommers“ reiht sich damit ein in die Reihe der Kriegsromane, die aus dem alltäglichen Erleben der Zivilbevölkerung erzählen und damit die Auswirkungen eines kriegsgebeutelten Landes in der Gegenwart spürbar machen. Und was anfangs noch eine interessante Kombination zwischen dem persönlichen Leben eines Mädchens und den historischen Entwicklungen scheint, bleibt leider im Folgenden etwas stecken, verharrt sozusagen auf der Stelle und verliert mit den profanen Geschehnissen doch etwas an Überzeugungskraft.


Mein Hauptkritikpunkt liegt dabei auf einer gewissen Distanziertheit, die immer mehr zunimmt. Denn obwohl Luisa als Ich-Erzählerin auftritt, gelingt es ihr nicht, den Leser direkt für sich einzunehmen, man fühlt sich beim Lesen immer wie ein Außenstehender, der zwar beobachtet, erkennt und Zusammenhänge begreift, diese aber nicht in Verbindung mit Emotionen und der Gedankenwelt der Erzählerin in Einklang bringen kann. Die Intensität des Geschriebenen wirkt vielmehr über die Sachebene, über das intensive Beschreiben einer Situation, über die detaillierten Einblicke in zwischenmenschliche Beziehungen, die jedoch mehr auf Fakten, denn auf Gefühlen basieren. Gerade für einen Roman, der sich auf kindlicher Ebene abspielt, hätte ich mir eine Palette an Emotionen gewünscht, angefangen von Wut über Trotz, meinetwegen auch Unsicherheit und Trauer – doch Luisa wirkt abgestumpft, blasser als gehofft und selbst ihre Naivität kauft man ihr nicht so recht ab.


Positiv hervorheben möchte ich die Auseinandersetzung mit dem Kriegsgeschehen, denn dieser Teil lebt durch Schilderungen, durch detaillierte Bilder, mit einer Wucht und Konsequenz, die den Leser erbarmungslos daran erinnert, wie das wirkliche Leben damals aussah und wie durchschlagend das nationalsozialistische Gedankengut einst war und welch fatale Auswirkungen der Krieg mit sich brachte. Immer, wenn sich die Erzählung in Richtung Hintergrundhandlung bewegte, konnte sie mich ausgesprochen überzeugen. Mit leichten Pinselstrichen zeichnet der Autor ein Bild der Verwüstung, brennende Städte, Schutt und Asche, Leichenberge und wandelnde Skelette, die in den Trümmern ihre verlorene Vergangenheit suchen. Der Schreibstil ist durchaus anspruchsvoll und erfordert Konzentration, er bleibt sachlich-neutral und vermag es trotzdem, genau die richtigen Punkte zu berühren.


Fazit


Ich vergebe 3,5 Lesesterne (aufgerundet 4) für diesen schonungslosen, sachlichen, stillen Kriegsroman, der zwar das Leben thematisiert aber dennoch viel mehr vom Verlust der Unbeschwertheit berichtet als vermutet. Was er nicht so recht schafft, ist das Verständnis für die Menschen, die hier agieren, sie bleiben irgendwo auf der Strecke, verloren an ihre Zeit, die keine gute war. Was er vermag, ist die Schilderung einer Zeit, der man nur mit stoischer Ruhe entgegenwirken konnte und in der Hoffnung verborgen und nur schwer zugänglich zu entdecken war. Wer einen eher sachlichen Blick auf das Leben der Menschen zum Kriegsende werfen möchte, ist hier richtig. Wer Gefühle sucht, wird hier langfristig etwas vermissen. Da dies mein erstes Buch des Autors war, der bereits mit seinen vorhergehenden Romanen für Schlagzeilen sorgte, möchte ich gerne noch ein weiteres Buch lesen, die Kritiken sind durchaus positiv, vielleicht konnte mich dieser Text nicht ganz erreichen, weil ich mir etwas anderes davon versprochen hatte. Lesenswert ist er aber dennoch.

Veröffentlicht am 24.04.2018

Erinnern, Erzählen, Ertragen

Was nie geschehen ist
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„Die Grenzen zwischen Wahrheit und Fiktion setzen wir selbst, und je besser wir unsere Fiktion im Griff haben, desto besser haben wir auch unsere Realität im Griff.“


Inhalt


Drei Generationen, drei ...

„Die Grenzen zwischen Wahrheit und Fiktion setzen wir selbst, und je besser wir unsere Fiktion im Griff haben, desto besser haben wir auch unsere Realität im Griff.“


Inhalt


Drei Generationen, drei Leben, drei Frauen. Verbunden durch eine gemeinsame Familiengeschichte, begibt sich Nadja Spiegelman auf eine Reise ins vergangene Leben ihrer Mutter und Großmutter. Eine Art Spurensuche, die sich damit auseinandersetzt, wie Erinnerungen auf Menschen wirken, wie unterschiedlich der gleiche Sachverhalt wahrgenommen werden kann und welche Folgen sich für das Selbstbild des Einzelnen daraus ergeben. Dabei versucht Nadja, nicht nur zu erklären, warum sie selbst sich oft nicht „gut genug“ gefühlt hat, sondern auch, warum ihre Mutter eine so disziplinierte aber kühle Frau ist und warum selbst die Großmutter Josée nichts von einer liebevollen, gütigen, älteren Frau in sich trägt. Dabei schwankt sie zwischen Traurigkeit und Akzeptanz, versöhnt mit wenigen glorreichen Momenten, mit Nähe, die durch intensive Gespräche im Erwachsenenalter einhergeht, deren Wurzeln für Unverständnis aber weit in die Kindheit hinein reichen.


Meinung


Dieser Debütroman der jungen Autorin Nadja Spiegelman, die selbst eine tragende Rolle in diesem Buch bekommt, zeichnet auf teilweise erschreckende Art und Weise ihr Leben als Tochter der New Yorker Kunstredakteurin Françoise Mouly und des berühmten Cartoonisten Art Spiegelman nach. Wobei sie nicht nur viele Details aufleben lässt, nein sie nimmt die Wesensart ihrer Mutter, später auch die ihrer Großmutter unter die Lupe und zerpflückt deren Charakter in allerhand kleine Puzzleteilchen, die erst in ihrer Gesamtheit das komplette Bild der Frauen ergeben. Dabei begreift der Leser vor allem eines: so genau, so umfassend, kann man analysieren, ohne nachtragend zu beschuldigen aber auch ohne echte Liebe zu empfinden.


Ich bin hier etwas zwiegespalten, denn für mich ist der vorliegende Roman ein absolut persönliches, individuelles Werk, welches durchaus innerhalb der Familie bleiben sollte, weil das Erzählte so bitter und vielschichtig wirkt, dass ich das Gefühl hatte, die Geschichte bringt möglicherweise die handelnden Personen einander näher, doch für mich als unbeteiligten Dritten ist sie eine traurige Lebens- und Liebesgeschichte zwischen den drei Frauen, die sich vielmals untereinander nicht verstehen, die sich lieben, ohne es zu vermitteln und die ein ganz diffuses Mutter-Tochter-Beziehungsgeflecht reflektieren, in dem ich keine konkrete Aussage festmachen kann.


Besonders störend beim Lesen empfand ich die zahlreichen Wechsel zwischen den Protagonisten. Denn obwohl Nadja ganz klar in die Rolle der Erzählerin schlüpft, wechselt doch die Person immer wieder sprunghaft und nicht klar ersichtlich. Selbst, wenn es streckenweise um Françoise geht, taucht plötzlich Josée auf, nur um dann wieder Parallelen zu Nadja zu ziehen. Immer musste ich ein paar Sätze lesen, um überhaupt wahrzunehmen, wer jetzt gerade über wen redet und in welchem Zusammenhang, mit welcher weitreichenden Bedeutung. Diese Art der Schriftführung ist definitiv nicht meins, so dass auch die Kapiteleinteilungen des Buches mehr oder weniger überflüssig waren.


Positiv beurteilen möchte ich aber die Mühe, die Intensität, die in jedem Satz steckt, die so generalistisch wie abstrakt wirkt und die mich hier eigentlich bei der Stange gehalten hat. Denn es werden fatalistische Dinge, wie Selbstmordversuche, Essstörungen, Depressionen und Verzweiflungstaten preisgegeben, die gerade, wenn es öffentlich gemacht wird, eine Menge Mut und absolutes Vertrauen erfordern – darin das Beziehungen nicht auf ein vorgefertigtes Maß reduzierbar sind, sondern sich wandeln können und erst im Angesicht der Wahrheit, auf allen Seiten eine neue Dimension einnehmen können. Deshalb empfinde ich diesen Roman weniger als eine Abrechnung mit der Vergangenheit und trügerischen Erinnerungen als vielmehr eine Möglichkeit, das schwer greifbare, zwischenmenschliche Interaktionsniveau wahrzunehmen und weiterzugeben. Auch der Aspekt, die Überlegung, wie wenig man normalerweise über solche Dinge nachdenkt, wie seicht und einfach Beziehungen sein können und wie aufwühlend solche, in denen eigentlich immer das Entscheidende fehlt.


Fazit


Ich vergebe 3,5 Lesesterne, die ich zu 4 aufrunden möchte für diesen äußerst individuellen, biografischen Roman, der mich oft verstört hat und ganz und gar nüchtern auf das Geschehen hat blicken lassen. Was ihm für meinen Geschmack fehlt, ist etwas Greifbares, eine Substanz, die über die Romanfiguren hinauswächst, die beim Leser in Erinnerung bleiben wird – was er hat ist eine individuelle Sichtweise, eine schonungslose Offenbarungsfreude und ein ehrlicher Blick auf menschliche Verfehlungen. Was er aufwirft, ist das Bedürfnis intensiver über die Beweggründe der allernächsten Verwandten nachzudenken und zu zeigen, wie wichtig es ist, sich in Gedanken und Gesprächen nahe zu sein, damit das Verständnis füreinander erhalten bleibt.

Veröffentlicht am 27.02.2018

Das Recht des Stärkeren

Die Vergessenen
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„Doch sie spürte die Kraft, die in seinen Händen wohnte. Wenn er wollte, könnte er mich damit töten. Einfach so, schoss es ihr durch den Kopf.“


Inhalt


Vera Mändler, die als Journalistin arbeitet und ...

„Doch sie spürte die Kraft, die in seinen Händen wohnte. Wenn er wollte, könnte er mich damit töten. Einfach so, schoss es ihr durch den Kopf.“


Inhalt


Vera Mändler, die als Journalistin arbeitet und sich nach einem beruflichen Vorwärtskommen sehnt, gerät durch ihre Familie in eine seltsame Verkettung von unerklärlichen Umständen. Ihr chronisch blanker Cousin, bettelt mal wieder um Geld, bei der gemeinsamen Tante, die kurz darauf einen Schlaganfall erleidet und ins Krankenhaus eingeliefert wird. Doch auch Cousin Chris ist wenig später tot, weil er anscheinend in Besitz einer besonderen Information war, die Fremde dazu veranlasst, unwillkommene Zeugen auszuschalten. Veras Jagdinstinkt ist geweckt – in welchen längst vergangenen Fall, war ihre schwerkranke Tante, denn verwickelt und wer hat so großes Interesse daran, unerkannt zu bleiben. Sie macht sich auf die Suche nach den ominösen Dokumenten, die angeblich irgendwo versteckt sein sollen, doch davon wissen noch mehr Leute und die beobachten Vera ganz genau. Ein Privatermittler, der selbst ein dunkles Geheimnis hütet, schlägt sich auf ihre Seite, doch auch er muss im Verborgenen bleiben, damit die Gerechtigkeit endlich zum Zug kommt und die Missetaten, die fast in Vergessenheit geraten sind, doch noch ans Tageslicht kommen.


Meinung


Die bekannte deutsche Kriminalautorin Inge Löhnig, schreibt hier unter dem Synonym Ellen Sandberg einen groß angelegten Spannungs- und Familienroman, der sich mit historischen Verbrechen der jüngeren Vergangenheit beschäftigt und zeigt, wie schnell aus Menschen Mörder werden, wie effektiv ein schlechtes Gewissen übergangen wird und wie aus Mitläufern manchmal Mittäter werden. Sie wählt bewusst einen dunklen Punkt in der deutschen Geschichte, der eben nicht in Vergessenheit geraten darf, damit wenigstens diesmal nicht das Recht des Stärkeren, sondern tatsächlich die Gerechtigkeit siegt.


„Die Vergessenen“ ist ein sehr kurzweiliger, unterhaltsamer Roman, der durch verschiedene Erzählstimmen bereichert wird. Einerseits agiert die motivierte, persönlich beteiligte Journalistin, die durch privates aber auch berufliches Interesse in den Fall eingebunden ist, zum anderen handelt der etwas undurchsichtige Privatermittler Manolis Lefteris, dem es nicht nur um Rache für seine eigene Familiengeschichte geht, sondern ganz allgemein um Gerechtigkeit, die den Schwächeren zusteht, die sie aber nur selten erfahren. Und so konzentriert sich das Zentrum der Erzählung auf längst vergangene Missetaten, und ihre endgültige Aufklärung. Der Roman ist dabei ein gelungener Mix aus einer kleinen Portion Historie, einer etwas größeren Portion Familiengeschichte in Verbindung mit Verbrechen, die bisher keiner gesühnt hat.


Ein kleiner Kritikpunkt besteht für mich in der etwas lockeren und dadurch leicht oberflächlich wirkenden Erzählweise, die sehr umgangssprachlich daherkommt und etwas Tiefgang vermissen lässt. Die sehr spannenden Verbrechen der Vergangenheit, tauchen immer wieder in kurzen Episoden auf, verlieren sich dann aber wieder in der seichten Gegenwartshandlung, die auch das Privatleben der Hauptprotagonisten intensiv beleuchtet. An dieser Stelle hätte ich mir persönlich noch mehr Hintergrundwissen und längere historisch inspirierte Erzählmomente gewünscht und im Gegenzug weniger lückenfüllendes Material über das private Leben und Leiden der Protagonisten.


Fazit


Ich vergebe 3,5 Lesesterne (aufgerundet 4) für diesen klassischen Unterhaltungsroman mit einer spannenden Hintergrundhandlung in stimmiger, leicht lesbarer Erzählqualität. Eine runde Geschichte über die Schatten der Vergangenheit, die lange Hand der Gerechtigkeit und Schuld, die nicht verjährt. Ein Buch für Jedermann, dem es zwar etwas an Aussagekraft und Hintergrund mangelt, welches ich aber als lesenswert und interessant beschreiben würde.

Veröffentlicht am 16.01.2018

Die unberechenbaren Winkelzüge des Schicksals

Traumsammler
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„Man soll einen Sinn im Dasein finden, heißt es, und dann leben, aber manchmal stellt man erst im Alter fest, dass das eigene Leben tatsächlich einen Sinn gehabt hat – wenn auch nicht den, den man sich ...

„Man soll einen Sinn im Dasein finden, heißt es, und dann leben, aber manchmal stellt man erst im Alter fest, dass das eigene Leben tatsächlich einen Sinn gehabt hat – wenn auch nicht den, den man sich vorgestellt hat.


Inhalt


Pari und Abdullah leben mit ihrer Familie in großer Armut in einer bescheidenen Hütte in der Wüste Afghanistans, die Mutter gestorben, der Vater hat sich eine neue Frau genommen und die Geschwister suchen aneinander Halt in ihrer kleinen Welt, die durch Unruhe geprägt ist. Doch Pari weckt das Interesse eines wohlhabenden Ehepaares aus Kabul, die selbst kinderlos sind und sich in das kleine Mädchen verliebt haben. Und so trennen sich die Wege der beiden fast für ein ganzes Menschenleben. Und während Pari in Frankreich ein gut situiertes Leben führt, bleibt Abdullah in der Heimat. Nur ihrer beider Onkel Nabi weiß noch um die genauen Zusammenhänge, weil er es auch war, der den Kontakt zwischen Paris Pflegefamilie und seinem Bruder hergestellt hat. Und erst in seinem Nachlass taucht ein Brief auf, der es den Nachkommen ermöglicht, an einer Familienzusammenführung im Alter mitzuwirken – damit sich findet, was einst zusammen gehörte …


Meinung


Der aus Afghanistan stammende Autor Khaled Hosseini entführt den Leser in seinen Büchern in seine Heimat und schildert das Leben und Leiden der Menschen vor Ort. Seine zahlreichen Romane wurden zu Weltbestsellern und erschienen in 70 Ländern. Für mich war „Traumsammler“ allerdings das erste Buch des Autors, welches ich gelesen habe und obwohl es mich nicht ganz überzeugen konnte, würde ich sehr gern ein weiteres lesen. Denn eines kann man der Erzählsprache nicht abstreiten – sie ist intensiv, empathisch und ergreifend, sie berührt den Leser auf eine sehr leise, Art und Weise und weckt das Interesse an Menschen, Emotionen und Wendungen des Schicksals.


Zugegeben habe ich mir unter der vorliegenden Geschichte zunächst ein Geschwister-Schicksal und die Auswirkungen auf das jeweilige Leben der Beteiligten vorgestellt, doch dieser Aspekt bildet lediglich den Handlungsrahmen des Romans. So war ich während des Lesens immer etwas enttäuscht, das weder Abdullah noch Pari den Stellenwert bekamen, den ich ihnen zugedacht hätte. Der Autor legt nicht unbedingt Wert auf einen Hauptprotagonisten, vielmehr schafft er ein ganzes Heer an Nebencharakteren, die dann jedoch aus ihrer Sicht, Bruchstücke der erlebten Geschichte wiedergeben. Es sind demnach mehr die Schnittstellen einzelner Schicksale und die zufälligen Ereignisse im Leben diverser Menschen, die den eigentlichen Kern der Erzählung vermitteln.


Dadurch entstehen viele kleine Episoden, die fast wie Fragmente das Gerüst der Gesamterzählung ausmachen. Und dieser irgendwie zerfaserte Erzählstil, ist auch mein Hauptkritikpunkt an einer ansonsten tiefgründigen, stillen Erzählung über das Leben der Menschen in der Fremde. Hosseini greift auf sehr elementare Gefühlsregungen zurück, er beschreibt nicht nur Orte, sondern zeigt auch, warum sie wichtig waren. Er bezieht Stellung zu Nächstenliebe, Leben in der Fremde, einem fehlenden Zugehörigkeitsgefühl aber auch zu Wandlungen, zu Verfehlungen seiner Protagonisten, zu Schuld und Reue und damit auch zum Schicksal selbst.


Immer wieder ist es dieser unbenannte Handlungsschwerpunkt, der mich nachhaltig faszinieren konnte. Im inneren der Geschichte liegt für mich der tief verwurzelte Glaube an eine Sinnhaftigkeit des Lebens, an die Gewissheit des Einzelnen, dass sein Dasein, egal wie bitter es auch erscheinen mag, einen ganz bestimmten Zweck erfüllt. Und das die unberechenbaren Winkelzüge des Schicksals eines Tages für die Erfüllung ebenjener Aufgabe stehen, dass nichts umsonst war und das die Hoffnung nicht nur bei einem Menschenleben liegt, sondern auch in der Gesamtheit einer Familie, eines Interessenverbandes oder auch im Herzen der Verstorbenen.


Fazit


Ich vergebe 3,5 Lesesterne (aufgerundet 4) für diesen Roman, der die Thematik Familie, Leben, Schicksal und Bestimmung berührt und eine weitreichende Geschichte über viele Generationen hinweg beschreibt. Wer einen gefühlvollen, sinnreichen Roman über Herkunft, Heimat und Zugehörigkeit sucht wird ihn hier definitiv finden. Allerdings muss man sich auf die Erzählweise einlassen, denn die Menschen hinter der Geschichte bleiben ungewöhnlich blass und austauschbar. Namen, Beweggründe und Handlungen sind so zahlreich und unübersichtlich, dass ich mir schlicht und einfach eine klare Erzählstruktur mit eindeutigen Aussagen gewünscht hätte. Zu vieles bleibt der Sicht des Lesers überlassen, zu vieles bleibt ungesagt und manche Figuren schleichen sich still und heimlich davon, fast wie der Wüstensand, der kilometerweit verweht wird und doch nur ein Körnchen im Getriebe war.

Veröffentlicht am 06.01.2018

Sehnsucht nach Größe, Sehnsucht nach Nähe

Olga
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Sie sah, dass die Rolle, die sie in Herberts Leben spielte, an die Rolle der Geliebten im Leben eines verheirateten Mannes erinnerte. Der verheiratete Mann lebt in seiner Welt und geht seinen Dingen nach, ...

Sie sah, dass die Rolle, die sie in Herberts Leben spielte, an die Rolle der Geliebten im Leben eines verheirateten Mannes erinnerte. Der verheiratete Mann lebt in seiner Welt und geht seinen Dingen nach, und gelegentlich spart er aus seinem Leben ein Stück aus und verbringt es mit der Geliebten, die an seiner Welt und seinen Dingen keinen Anteil hat. Aber Herbert war kein verheirateter Mann, es gab keine Frau und keine Kinder, zu denen er zurückgekehrt wäre.“

Inhalt

Am Vorabend des ersten Weltkrieges beginnt die Liebesbeziehung zwischen dem ambitionierten Herbert und der unangepassten Olga. Nachdem sie bereits in Kinderjahren gute Freunde waren, entwickelt sich nun eine echte Liebesbeziehung, die allerdings in Familienkreisen nicht gutgeheißen wird. Für Herbert wäre eine deutsche, tugendhafte Frau, die sich anpasst und ins Familienleben einfügt genau die richtige Partie, doch Olga besucht das Lehrerinnenseminar und meistert ihr Leben sehr konsequent. Auf einen Beschützer ist sie nicht angewiesen. Unbeirrt meistern sie gemeinsam ein Stück des Weges, überzeugt von der Funktionalität ihrer Beziehung und der Echtheit ihrer Liebe. Doch Herbert strebt nach Größerem und kann Olgas Sehnsucht nach Nähe nur spärlich erfüllen. Schon bald ist ihr klar, dass es mit diesem Mann kein normales Familienglück geben wird. Und als Herbert schließlich eine Expedition ins arktische Eis antritt, wird es für Olga immer schwerer, an ein glückliches Ende zu glauben …

Meinung

Bernhard Schlink, der sich mit seinem beeindruckenden Debütroman „Der Vorleser“ in die Herzen der Leserschaft geschrieben hat, greift auch in dieser Erzählung eine sehr ungewöhnliche, definitiv nicht alltägliche Liebesbeziehung auf und seziert sie auf ihre tatsächlichen Bestandteile. Die, je genauer man hinschaut, immer weiter zerfasern und wenig Substanz besitzen, dafür umso mehr Nachhaltigkeit und Beständigkeit. Eine Beziehung, die zwar auf Liebe basiert, in der die Gefühle aber nicht wirklich zum Ausdruck kommen, eine Paarbeziehung, bei der die starken Einzelcharaktere die Weichheit und Freude abschleifen und der es mehr um Durchhalten, als um Zusammenhalten geht.

Während Olga die zentrale Figur der Geschichte ist und der Leser sehr genau in ihr Gefühlsleben aber auch in ihren Alltag Einblick gewinnt, bleibt Herbert, der männliche Part eine diffuse, eher blasse Figur, die zwar vom Ehrgeiz zerfressen aber gleichzeitig unfähig ist, eine zwischenmenschliche Beziehung zu führen. Sehr unterschiedlich wirken die beiden Menschen hier, bei denen der Leser nur hin und wieder spürt, warum sie in Liebe zueinander gefunden haben. Meist jedoch fragt man sich, welches Band die beiden tatsächlich miteinander verbinden konnte. Es bleibt ein kleines Mysterium, ein Fragezeichen im Raum und letztlich auch der Grund dafür, warum man als Leser sehr genau wissen möchte, welches Ende diese Liebe nimmt.

Der Autor teilt sein Buch in drei Abschnitte, im ersten erzählt Olga von ihrer Liebe zu Herbert und den Schwierigkeiten eines gemeinsamen Alltags, im zweiten erfährt der Leser aus dritter Hand von Olgas Leben nach der Expedition ihres Geliebten und im letzten Teil kann man direkt die Liebesbriefe von Olga an Herbert lesen, die über einen Zeitraum von vielen Jahren schildern, welche Beweggründe die junge Frau für ihre Handlungen hatte und welche Wünsche in ihrer Seele schlummerten. Prinzipiell eine sehr gut gewählte, vielschichtige Perspektive, die hier jedoch etwas unter der Kargheit einer unterkühlten Liebe leidet. Stellenweise kam es mir so vor, die Protagonistin füllt den Raum mit ihrer eigenen Person, weil das Gegenüber schlicht und einfach niemals da ist und die kurzen Momente dieser Liebe nicht reichen, um über Jahrzehnte die gleiche Intensität zu bewahren. Zumindest dieser Punkt wirkt sehr glaubhaft für den Leser.

Trotzdem fehlt der Erzählung einiges, um zum Lieblingsroman zu werden. Zunächst ist es die ständige Distanz, nicht nur zwischen den handelnden Personen, sondern auch zwischen dem Leser und der Geschichte an sich. Alles wirkt sehr sachlich, stellenweise zu glatt und trifft stets einen bedauernden Unterton, der kaum unterbrochen wird. Statt Liebe und Zuneigung findet man hier eher eine intellektuelle Auseinandersetzung mit zwei unterschiedlichen Menschen, die sich zwar alles bedeuten aber andererseits auch sehr gut allein leben können. Spürbar wird die Kluft allemal, auch der Wunsch nach Veränderung, im Wechsel mit dem Wunsch nach uneingeschränkter Akzeptanz - und das alles vor einem historischen Hintergrund, der mitnichten nach Verbindung und Lebensgestaltung schreit. Insgesamt wollte mir der Autor hier eindeutig zu viel. Er greift viele Fäden auf, verwebt Historisches mit Persönlichem und bleibt trotzdem irgendwo zwischen Können und Wollen hängen.

Letztlich fehlt es mir an Aussagekraft, an einer runden Geschichte, selbst wenn es sich hier um ein Drama handeln sollte, so würde ich nicht einmal das richtig spüren. Erzählerisch mag ich die schlichte, wortschöne Erzählweise des Autors sehr, die Lesestunden vergehen wie im Flug und die Geschichte hat Potential, man ist interessiert und möchte gerne mehr erfahren. Doch letztlich überwiegt diese Ungewissheit, es scheint nur die Abbildung eines Menschenlebens zu sein, wie es eben passiert sein könnte. Jede andere Wendung wäre aber auch denkbar gewesen und so fehlt mir trotz einer schönen Erzählung das gewisse Etwas, vielleicht auch nur die Antwort auf die Frage: „Warum leben wir in Paarbeziehungen, die niemals so werden, wie wir sie erträumen?“ Und wenn man schon in einer derartigen Situation ist, so muss es doch möglich sein, mehr Emotionen an die Leserschaft zu transferieren.

Fazit

Ich vergebe 3,5 (aufgerundet 4) Lesesterne für diesen Roman über unerfüllte Liebe, historische Ausnahmezustände, entschlossene Menschen und dem unabdinglichen Verlauf des Lebens. Vielversprechende Ansätze, deren Ausarbeitung mich nicht immer überzeugen konnte, dafür jedoch ein Buch mit viel Liebe zum schriftstellerischen Handwerk, mit einem unverwechselbaren Generalismus, der sich auf kleine Details ebenso wie auf weltbewegende Veränderungen konzentriert. Mit „Olga“ trifft man eine starke Frau, die sich sehr bewusst war, was es heißt zu lieben, ohne gleichermaßen zurückgeliebt zu werden. Und im Nachhinein betrachtet, ist diese Erkenntnis doch ein bitteres Los.