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Veröffentlicht am 15.03.2019

Thomas Palzer – Die Zeit, die bleibt

Die Zeit, die bleibt
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Zwei Männer, zwei Schicksale. In München wird der Anwalt Ewart Colver an einem Frühlingsabend angefahren und schwer verletzt. Wer kann es auf ihn abgesehen haben? Hängt der offenkundige Mordversucht mit ...

Zwei Männer, zwei Schicksale. In München wird der Anwalt Ewart Colver an einem Frühlingsabend angefahren und schwer verletzt. Wer kann es auf ihn abgesehen haben? Hängt der offenkundige Mordversucht mit einem sechs Jahre zurückliegenden Fall zusammen, bei dem er sich mit einem Drogenkartell anlegte? Der Anruf eines Kommissars deutet zumindest darauf hin, doch da die Polizei nur wenig tätig wird, muss Colver wohl oder übel selbst ermitteln. Unterdessen ist Shenja Orlov in Berlin immer noch gedanklich in St. Petersburg und bei der einzigen wahren Liebe, die er jemals hatte. Es war seine Schuld, dass sie ums Leben gekommen ist und seither büßt er dafür. Wird es mit seiner Kollegin vielleicht doch einen Neuanfang für ihn geben können? Doch das Schicksal hat ebenfalls einen Plan, mit dem beide Männer nicht gerechnet haben.

Thomas Palzer erzählt die beiden Handlungsstränge parallel ohne dass sich für den Leser eine Verbindung erkennen ließe. Zeit und Ort sind derart voneinander losgelöst, dass man lange Zeit beide Männer verfolgt, sich aber doch wundert, wie diese beiden Leben miteinander in Zusammenhang stehen. Gemächlich schreitet die Handlung voran, bis sie plötzlich ein rasantes Tempo aufnimmt und sich alles auflöst.

Auch wenn die beiden Geschichten völlig verschieden sind und die Männer vordergründig kaum Parallel aufweisen, gleichen sie sich doch in mancherlei Hinsicht. Es ist ihr Psychogramm, das den Roman interessant macht, weniger die durchaus auch spannende Frage nach den Hintergründen des Anschlags auf Colver. Der Münchner Anwalt, dessen Ehe schon Jahre zuvor zerbrochen ist und der nur ein oberflächliches Verhältnis zu seinen Kindern hat, hat ebenso den Halt im Leben verloren wie der Berliner IT Spezialist. Beide sind weitgehend sozial isoliert und haben faktisch nur wenig Kontakt zu Mitmenschen. Ebenso sind sie gefangen in ihrer Gedankenwelt, in der sie versuchen ihre Erlebnisse zu verarbeiten und mit Sinn zu füllen. Für sie ergibt sich ein klares, logisches Bild, dass dies jedoch nur einseitig die Situation beleuchtet und einzig ihre Perspektive berücksichtigt, blenden sie aus. Colver versteift sich völlig in die Mordanschlagtheorie, die er mit allen Mitteln versucht zu belegen, gleichermaßen ist Orlov von der Untreue seiner neuen Partnerin überzeugt und kann logischerweise nur alles, was sie tut, unter dieser Prämisse bewerten.

Sie weisen Züge einer Paranoia auf, sie nehmen ihre Umwelt verzerrt wahr, werden gegenüber der Welt zunehmend feindseliger und misstrauisch und schaffen sich ein komplexes Verschwörungsszenario, das die beiden letztlich in die größtmögliche Katastrophe führt. Die Entwicklung der Figuren bis zum tragischen Höhepunkt ist Palzer großartig gelungen. Leicht kann man nachvollziehen, wie sich zwei grundsätzlich gesunde Menschen immer tiefer hineinsteigern und letztlich aus dem Käfig, den sie sich erschaffen haben, nicht mehr herausfinden.

Für mich ein großartiger Roman in zweierlei Hinsicht: die Konstruktion des Handlungsverlaufs geht ebenso glatt auf wie die psychologische Entwicklung seiner beiden Protagonisten. Gepaart wird das Ganze mit einer ordentlichen Portion Spannung und durchaus auch einigen gesellschaftlich und sozialkritischen Fragen.

Veröffentlicht am 11.03.2019

Alexandra Friedmann – Sterben für Anfänger

Sterben für Anfänger oder Rafik Shulmans erstaunliche Reise ins Leben
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Mit seiner Ankündigung macht sich Rafik Shulman bei seiner Mutter und seiner Oma keine großen Freunde. Neben dem Studium will er ehrenamtlich in einem Hospiz arbeiten, was die Damen nahe dem Herzinfarkt ...

Mit seiner Ankündigung macht sich Rafik Shulman bei seiner Mutter und seiner Oma keine großen Freunde. Neben dem Studium will er ehrenamtlich in einem Hospiz arbeiten, was die Damen nahe dem Herzinfarkt bringt. Also beginnt er heimlich mittwochs seine Zeit mit den todkranken Bewohnern zu verbringen. Unerwartet trifft er dort auf die lebensfrohe Charlotte, die die wenige Zeit, die ihr noch bleibt, voll auskosten will. Was hat Rafik eigentlich dorthin getrieben? Es ist die Suche nach Antworten, denn er hat seinen Vater in jungen Jahren verloren und konnte sich nicht einmal bei einer Beerdigung von ihm verabschieden. Es ist die Suche nach dem Sinn des Todes und des Lebens. Kann das Judentum, seine eigen Religion ihm dabei helfen oder wird er im christlichen Hospiz endlich das verstehen, was ihn schon seit Jahren verfolgt?

Ich habe mich sehr auf Alexandra Friedmanns zweiten Roman gefreut nachdem mich ihr Debüt „Besserland“ vor vielen Jahren schon begeistert konnte. Auch dieses Mal steht wieder ein junger Mensch, der aus dem ehemaligen Sowjetgebiet entwurzelt und nach Deutschland verpflanzt wurde, im Zentrum der Handlung. Zwar war auch hier dieses Ereignis prägend, aber es konnte Familienstrukturen nicht aufbrechen, die auch in der neuen Heimat fortbestehen und Rafik lange daran hindern, mit den Dingen abzuschließen, die er in seinem emotionalen Rucksack noch mit sich rumträgt.

Besonders gut hat mir die Mischung aus Humor und Nachdenklichkeit gefallen. Die Kleinfamilie kommt nicht ohne eine gewisse Situationskomik aus, die es auch erfordert, um das Miteinander auf engem Raum auszuhalten. Das dürfte in ukrainisch-jüdischen Familien nicht anders aussehen als in allen anderen Ländern und Kulturen auch. Rafiks Suche nach Erklärungen für den ungerechten Tod des Vaters führt ihn notwendigerweise auch zu religiösen Menschen, die er um Rat fragt. Gerade aber auch Charlotte, die ihre ganz eigenen Antworten gefunden hat auf ihre Situation und das Wissen, dass ihr nur noch wenig Zeit auf Erden bleibt, schließt die Suche für mich rund ab. Es gibt nicht die EINE Antwort oder Erklärung, nicht EINE EINZIGE Religion hat alle Weisheit gepachtet, es sind viele Facetten, die vor dem Hintergrund der eigenen Geschichte Bedeutung erlangen.

Ein Buch übers Erwachsenwerden, über das Loslösen, aber auch über das Leben und Sterben und die Frage nach dem Sinn. Mal humorvoll, mal eher ernsthaft bis traurig. Einer dieser Romane, die einem nachdenklich, aber doch zufrieden und geradezu glücklich zurücklassen.

Veröffentlicht am 10.03.2019

Anthony Horowitz - Ein perfider Plan

Ein perfider Plan
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Diana Cowper, eine elegante ältere Dame, geht zu einem Bestatter, um die Details ihrer Beerdigung zu besprechen. Dies ist nicht so ungewöhnlich, aber dennoch kommt das eher selten vor. Am selben Abend ...

Diana Cowper, eine elegante ältere Dame, geht zu einem Bestatter, um die Details ihrer Beerdigung zu besprechen. Dies ist nicht so ungewöhnlich, aber dennoch kommt das eher selten vor. Am selben Abend jedoch wird sie in ihrem Londoner Haus ermordet. Daniel Hawthorne, ein ehemaliger Detective der Londoner Metropolitan Police, hilft bei den Ermittlungen. Er bittet den Autor Anthony Horowitz seine Nachforschungen zu begleiten und ein Buch darüber zu verfassen. So kommt der berühmte Schreiber dazu, eine echte Ermittlung live mitzuerleben. Allerdings scheint der Fall ins Nichts zu führen. War alles nur purer Zufall und Mrs Cowper schlicht das Opfer eines Raubüberfalls? Als ihr Sohn Daniel jedoch erstochen in seinem Apartment aufgefunden wird, ist es offenkundig, dass der Tod der Mutter kein Zufall gewesen sein konnte. Alle Zeichen weisen auf einen Autounfall 10 Jahre zuvor, bei dem Mrs Cowper einen Jungen tötete. Aber irgendwie wollen die Puzzlestücke nicht so recht zusammenpassen. Das eigenwillige Team von Ex-Detective und Autor muss tiefer graben, bis sie sich selbst in große Gefahr bringen.

Auch nach Ende des Buchs bin ich nicht ganz sicher, ob irgendetwas Wahres an der Geschichte ist oder alles nur der Phantasie eines genialen Autors entspringt. Wie auch immer, es kommt eigentlich nur darauf an, dass man unterhalten wird und das war auf jeden Fall hier gegeben. Der Mordfall war clever konstruiert, überraschend, einfach genial.

Der Roman beginnt unerwartet. Die Planungen der Beerdigungen irritieren schon etwas, dann kommt ein harter Bruch und der Autor spricht zum Leser und es wird klar, dass man nur eine Geschichte in einer Geschichte gelesen hat. Ein recht ungewöhnlicher, aber doch kreativer Start, der bestens zur ganzen Geschichte passt.

Der Mordfall bietet alles, was man erwarten und wünschen würde: mehrere Verdächtige, alle mit zweifelhaftem Verhalten und offenkundigen Motiven. Sehr ungewöhnliche Charaktere, die einem reichlich Material zum Grübeln liefern. Nichtsdestotrotz greift am Ende alles perfekt ineinander, wenn auch die Motivation etwas überrascht, allerdings ist sie in der Gesamtschau plausibel und passt zum Plot.

So entstand ein humorvoller Krimi, der einmal mehr Horowitz‘ meisterhaftes Schreibvermögen unterstreicht.

Veröffentlicht am 03.03.2019

Antoine Laurain - Ein Tropfen vom Glück

Ein Tropfen vom Glück
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Der Zufall führt den Immobilienmakler Hubert, den amerikanischen Touristen Bob, den Bartender Julien und die Restauratorin Magalie an einem Septemberabend im Jahr 2017 in Paris zusammen. Gemeinsam genießen ...

Der Zufall führt den Immobilienmakler Hubert, den amerikanischen Touristen Bob, den Bartender Julien und die Restauratorin Magalie an einem Septemberabend im Jahr 2017 in Paris zusammen. Gemeinsam genießen sie einen alten Wein des Jahres 1954, nicht ahnend, dass sie damit eine Zeitreise in ebendieses antreten werden. Die Stadt der Lichter ist zwar gar nicht so anders als heute, aber die Menschen leben das Paris, das man nur noch aus Filmen und Legenden kennt. Legenden sind es auch, denen sie begegnen: Piaf, Dalí, Truffaut, Prévert, Gabin. So schön das alles ist, wie kommen sie zurück in die Zukunft?

Wenn man Bücher von Antoine Laurain kennt, weiß man schon vorab, worauf man sich freuen darf: eine zuckersüße Geschichte, der jedoch jede Form von Kitsch fremd ist; eine Story, die man nicht ganz ernstnehmen darf und auf deren fantastische Reise man sich einfach einlassen sollte. Für mich ist es immer ein wenig wie in „Die fabelhafte Welt der Amélie“ einzutauchen - eine bezaubernde Hintergrundmusik und wunderschöne Bilder, so sind Laurains Bücher und genau so ist auch „Ein Tropfen vom Glück“.

Viel mehr muss man eigentlich auch gar nicht mehr sagen. Mir hat das Paris des Jahres 1954 gefallen, vor allem die Szene in Les Halles konnte man bildlich vor sich sehen. Ich nehme an, dass der Autor auch einen Heidenspaß dabei hatte, all die Künstler und großen Namen mit in die Geschichte einzubauen, völlig unaufdringlich und zum Schmunzeln. Seine Figuren wie sind immer außergewöhnliche Individuen, aber dann doch nicht so sonderbar, dass sie nicht real existieren könnten, liebenswert sind sie auf jeden Fall.

Ein klassisches Wohlfühlbuch, in das man eintaucht und aus dem völlig glücklich und beschwingt wieder heraussteigt.

Veröffentlicht am 28.02.2019

Lazarus

Lazarus
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Joona Linna ist aus dem Gefängnis entlassen und soll seinen Dienst wieder antreten als man in Oslo eine grausame Entdeckung macht: in Haus eines Mordopfers finden sich zahlreiche Leichenteile, darunter ...

Joona Linna ist aus dem Gefängnis entlassen und soll seinen Dienst wieder antreten als man in Oslo eine grausame Entdeckung macht: in Haus eines Mordopfers finden sich zahlreiche Leichenteile, darunter auch der Kopf von Joonas Frau, offenbar aus ihrem Grab geraubt. Für ihn kann das nur eins bedeuten: Jurek Walter hat überlebt und nimmt so Kontakt zu ihm auf. Plötzlich werden aus ganz Europa seltsame Morde gemeldet, die alle die gleiche Handschrift zeigen und sich eindeutig an ihn richten. Sein Team mag das nicht ganz glauben, Saga weiß genau, dass sie den Serienmörder erschossen hat und die Leiche hatte man ja auch identifiziert. Joona hingegen ist sich sicher, dass sie alle in größter Gefahr sind, allen voran seine Tochter. Während er den Notfallplan aktiviert und untertaucht, geht man in Schweden der Sache nur langsam nach. Eine Entscheidung mit schwerwiegenden Folgen.

Band 7 der Serie um Hauptkommissar Linna der Stockholmer Polizei trägt die Altersempfehlung ab 16, die ich nur sehr unterstreichen kann. Der Krimi ist sowohl in physischer Hinsicht wie auch psychologisch extrem herausfordernd und das Autorenduo hinter dem Pseudonym Lars Kepler erspart dem Leser nichts. Das resultiert in Hochspannung, die tatsächlich kaum auszuhalten ist und bei zartbesaiteten Gemütern nicht ohne Alptraum-Gefahr sein dürfte.

Nach nur kurzem Vorspann beginnt die todbringende Verfolgungsjagd von Jurek Walter und Joona Linna. Die Kapitel enden meist mit geschickt platzierten Cliffhangern, die es einem quasi unmöglich machen, einfach das Buch beiseite zu legen. Es ist nicht nur das hohe Tempo der Handlung, das einem fordert, sondern auch die brutale Rücksichtslosigkeit des Mörders, die vor gar keiner noch so grausamen tat haltmacht und dieses Mal auch wirklich keine der Figuren schont. Das geht beim Lesen durchaus an die Substanz, weil man sich doch immer wieder wünscht, dass wenigsten der eine oder andere davonkommt – aber der Plan sieht anders aus.

Die Handlung ist in sich völlig stimmig und glaubwürdig, auch die Erklärung für Jureks Überleben kann man nachvollziehen, wenn ich dies auch etwas herausfordernder an die Phantasie fand. Besonders überzeugend war für mich die Figur Sagas, die unmittelbar und ganz persönlich getroffen wird von den Taten und dieses Mal ihre Grenzen überschreiten muss. Alles in allem, ausgesprochen brutal, aber kaum zu übertreffende Spannung.