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Veröffentlicht am 03.06.2019

Zu detailfreudig, kaum spannend

Die Rivalin
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Ich habe leider nicht so sehr auf den Kinderwagen auf dem Titelbild geachtet, sondern mehr auf den Klappentext, sonst hätte ich die thematische Ausrichtung wohl besser erkannt. Der Klappentext ist nämlich ...

Ich habe leider nicht so sehr auf den Kinderwagen auf dem Titelbild geachtet, sondern mehr auf den Klappentext, sonst hätte ich die thematische Ausrichtung wohl besser erkannt. Der Klappentext ist nämlich leider irreführend. Dieser verspricht einen spannenden Psychothriller, bei dem Agatha, „Aushilfskraft in einem Supermarkt und aus ärmlichen Verhältnissen“ „das Leben einer anderen Frau“ möchte, nämlich das von Meghan, „deren Ehemann ein erfolgreicher Fernsehmoderator ist und die sich im Londoner Stadthaus um ihre zwei Kinder kümmert“. Wir lernen zu Beginn Agatha und Meghan auch kennen, in jeweils wechselnden Kapiteln berichten sie in der Ich-Perspektive über ihr Leben. Diese wechselnden Perspektiven, ob mit Perspektiven oder Zeitebenen, begegnen mir momentan in gefühlt jedem Roman.

Agathas Kapitel sind zu Beginn durchaus interessant, denn ihre Fixierung auf Meghan und deren vermeintlich perfektes Leben wird sofort deutlich, ebenso wie recht beunruhigende Aspekte von Agathas Charakter. Man lernt ihre Abgründe in kleinen Häppchen kennen, die sich zu einem dunklen Gesamtbild zusammensetzen – das liest sich gut und interessant. Meghans Kapitel dagegen sind sterbenslangweilig. Sie führt einen – wie sie selbst zugibt – seichten Mama-Blog mit Banalitäten aus ihrem Familienleben, und so wie der Blog lesen sich auch ihre Kapitel. Wer Freude daran hat, zu lesen, welches Kind wann welches Gericht nicht mag, womit wer wann spielte, welche kleinen Zankereien es gab, der wird mit diesen Kapiteln vielleicht mehr anfangen können. Im Klappentext wird erwähnt „Denn beide haben dunkle Geheimnisse, in beider Leben lauern Neid und Gewalt.“ Das ist im Hinblick auf Meghan sehr stark übertrieben.

Da sowohl Agatha wie auch Meghan zu Beginn berichten, schwanger zu sein, häufen sich die Details zu Schwangerschaften, Geburten und ihrem Drumherum ebenfalls. Anzuerkennen ist, daß der Autor, ein Mann in seinen 50ern, die zwei Frauen absolut glaubhaft rüberbringt und sich bestens in sie einfühlen kann. Das war sicher nicht leicht und ist tadellos gelungen. Allerdings war es mir zu detailreich, dazu garniert mit sentimentalen Betrachtungen, die gar nicht mein Fall sind.

Nachdem zumindest Agathas Kapitel zu Anfang die Hoffnung aufrechterhalten, daß es spannend wird, ändert sich auch das bald. Der erste Teil des Buches läuft dann auf /Achtung Spoiler!/ eine Babyentführung hinaus /Spoiler Ende/. Diese Thematik wird in Büchern, genau wie in Stalkerkrimis, letztlich immer sehr ähnlich abgehandelt, weshalb ich diese Art Krimis normalerweise nicht lese. Genau so verläuft es dann auch hier. Der zweite Teil des Buches zieht sich sehr. An manchen Stellen konnte ich fast genau vorhersagen, was gleich passiert, dazu kommen weitere wenig interessante Details. Irgendwann habe ich ganze Absätze nur noch überflogen. Das Buch hat über 500 Seiten – nur wenige Krimis und Thriller können diese Seitenanzahl spannend füllen. „Die Rivalin“ kann es eindeutig nicht. Es kommen noch einige unnötige Zusatzgeschichten und –aspekte dazu, die leider nichts tun, außer die Geschichte noch mehr langzuziehen.

Das Ende war überraschend, aber leider auf eine recht antiklimaktische Art. Hier wurde meines Erachtens viel Potential verschenkt, viel unter endlosen Alltagsdetails vergraben und so war es zumindest für mich kein Lesevergnügen, trotz des vielversprechenden Anfangs.

Veröffentlicht am 29.04.2019

Das war leider nichts - zäh, zäh, zäh

Wie tief ist deine Schuld
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Das Buch beginnt durchaus gelungen - inmitten ihrer häuslichen Familienidylle bekommt Isa eine SMS ihrer ehemaligen Schulfreundin Kate. Ein Hilferuf, gerichtet an Isa und zwei weitere ehemalige Schulfreundinnen, ...

Das Buch beginnt durchaus gelungen - inmitten ihrer häuslichen Familienidylle bekommt Isa eine SMS ihrer ehemaligen Schulfreundin Kate. Ein Hilferuf, gerichtet an Isa und zwei weitere ehemalige Schulfreundinnen, die sich alle seit siebzehn Jahren nicht gesehen haben. Alle reisen sofort zu Kate und natürlich ist man als Leser gespannt, was alles dahintersteckt. Wir erfahren die Hintergründe in wechselnden Vergangenheits- und Gegenwartskapiteln. Das macht momentan gefühlt jeder zweite Roman so und das Konzept hat an Originalität sehr verloren, aber deshalb muß es ja nicht schlecht sein. Wenn es gut gemacht ist, lese ich Bücher dieser Art sehr gerne. Das Prinzip klappt hier auch an sich recht gut.

Der Stil war mir von Anfang an etwas zu blumig, an Stellen zu gewollt poetisch, aber durchweg schon gut lesbar. Das Erzähltempo ist ausgesprochen langsam. Zu Beginn funktioniert das noch recht gut, wir müssen immerhin die vier Freundinnen kennenlernen und etwas über ihre Geschichte erfahren. Das erste Viertel des Buches habe ich recht angetan gelesen. Dann aber, als die Grundinformationen bekannt waren, wurde es leider immer zäher. Ruth Ware verliert sich in endlosen Einheiten. Symptomatisch dafür sei hier das Beispiel von Isas Baby geschildert. Isa hat eine sechs Monate alte Tochter, Freya, die für die Geschichte nur marginal relevant ist. Wir erfahren ständig - auch wenn es zu der jeweiligen Szene überhaupt nichts beiträgt, und das tut es so gut wie nie -, wie Freyas Gesichtsausdruck ist, ob Isa sie im rechten oder linken Arm hält, ob Freyas Mund beim Schlafen offen oder geschlossen ist, wie Isa sie aus einem Wagen hebt, wie sie sie von einem Arm in den anderen nimmt usw. Diese Art der unnötigen Informationsvermittlung zu vielen Themen zieht sich durch das ganze Buch, es werden auch die banalsten Unterhaltungen genau geschildert, ebenso Unterhaltungen gleichen Inhaltes mit wechselnden Personen. Bereits Geschehenes, was man also bereits gelesen hat, wird später noch mal zusammen gefaßt. Und nochmal. Und noch einmal.

Zudem neigt Isa zum Grübeln und die Autorin neigt dazu, uns jeden einzelnen Gedanken Isas mitzuteilen, gerne auch wiederholt. Es gibt ganze Kapitel, in denen Isas Gedanken sich im Kreis drehen, die voller Wiederholungen, zähen Gedankengängen und Überflüssigem sind.

Das dunkle Geheimnis, das die vier Freundinnen verbindet, wird uns zu Anfang in Andeutungen mitgeteilt. In vielen, vielen Andeutungen. Die Andeutungen heben die Spannung nicht, weil sie viel zu inflationär eingesetzt werden. Sie gehen einem auf die Nerven und zudem sind die eigentlichen Enthüllungen nicht mehr besonders überraschend, weil man sich das Meiste aus den ganzen Andeutungen schon ziemlich gut zusammenreimen konnte.

Auf Seite 300 fühlte sich das Lesen wie eine unerfreuliche Aufgabe an und ich überschlug die nächsten 100 Seiten (fand übrigens sofort wieder Anschluß, weil eben kaum etwas passiert), um das Ende noch zu lesen. Dabei stellte ich fest, daß mir das "große Geheimnis", die Personen und was aus ihnen wurde, mittlerweile völlig gleichgültig waren, weil die Geschichte längt in Überflüssigem ertrunken war. Ich schloss erleichtert das Buch und löschte den anderen Titel der Autorin von meiner Wunschliste.

Veröffentlicht am 26.04.2019

Leider eine Enttäuschung

»Behalte mich ja lieb!«
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Vor etwa einem Jahr las ich die Briefe, die Schiller und sein Verlobte, später Ehefrau, ausgetauscht haben. Ich war begeistert, bin tief eingetaucht in diese Welt des privaten Menschen Schiller, fand diesen ...

Vor etwa einem Jahr las ich die Briefe, die Schiller und sein Verlobte, später Ehefrau, ausgetauscht haben. Ich war begeistert, bin tief eingetaucht in diese Welt des privaten Menschen Schiller, fand diesen persönlichen Blick wundervoll. Schiller war ein hinreissender Briefeschreiber und auch die Briefe von Charlotte von Lengefeld, spätere Schiller, sind lesenswert. Die Nähe der beiden zueinander strahlt aus jeder Zeile. In diesem Buch mit den Briefen von Goethe und Christiane Vulpius findet sich leider so gut wie nichts davon. Es hat mich aufgrund seiner gänzlichen Banalität regelrecht geärgert.

Sigrid Damm, bekannt durch mehrere Bücher über Goethe, Vulpius oder Schiller, hat für dieses Bändchen aus 601 Briefen eine Auswahl getroffen. Ein Vorwort, das über einige Hintergründe und die teilweise ganz eigene Wortwahl des Paares informiert, gibt es nicht. Erklärende Sätze zu den einzelnen Briefen gibt es ebenfalls nicht. So sind viele Dinge, die in den Briefen angesprochen werden, ohne ausführliches Hintergrundwissen unverständlich. Das macht die Lektüre oft ein wenig zum Rätselraten. Am Ende des Buches findet sich ein etwa 20seitiges Nachwort von Sigrid Damm, das aber so sonderlich informativ auch nicht ist. Es gibt rudimentäre biographische Informationen, ein paar allgemeine Fakten und sehr viel zu Christiane Vulpius. Hier, wie auch bei der Auswahl der Briefe, hatte ich öfter den Eindruck, daß Frau Damms Fokus sehr auf Christiane Vulpius lag. Von den 601 vorhandenen Briefen sind 354 Briefe von Goethe, 247 von Christiane Vulpius. Im Buch aber finden sich 46 Briefe der Vulpius und nur 34 Briefe Goethes. Die ausgewählten Briefe Goethes sind zudem fast überwiegend viel kürzer, so daß man den Großteil des Buches über Briefe von Christiane Vulpius liest. Eine seltsame Gewichtung, denn von wem möchte man wohl mehr Briefe lesen? Vom weltbekannten Dichter oder von der Frau, die man ausschließlich dadurch kennt, daß sie die Lebensgefährtin des weltbekannten Dichters war, selbst aber keinerlei literarische Ambitionen oder Talente hatte? Auch wenn Frau Damm uns in ihrem Nachwort versichert, wie "erstaunlich" diese Briefe wären, wie "heiter, witzig und pointiert" der Schreibstil sei - Christiane Vulpius' Briefe sind vor allem eins: langweilig.

Das kann man ihr nicht vorwerfen und, um es vorwegzunehmen: auch Goethes Briefe sind nicht sonderlich interessant. Beide schrieben nicht für die Öffentlichkeit, sondern privat aneinander und über Dinge, die sie beschäftigten; das waren wie bei den meisten Paaren irgendwann die Alltagsangelegenheiten. Reichts das für ein Buch? Es liest sich eben nicht interessant, wenn Christiane Vulpius in jedem Brief auflistet, was sie wo gekauft hat, wofür sie Geld braucht, mit wem sie geredet hat und was sich im Garten so tut. Was auch selten fehlt: Klagen darüber, daß Goethe nicht bei ihr ist, was sich anstrengend liest, aber immerhin ist das wenigstens mal einer der wenigen persönlichen Einblicke. Es scheint in den Briefen schon auf beiden Seiten eine starke Zuneigung durch, die aber häufig auch mit den immergleichen Formulierungen (Formeln) ausgedrückt wird. (Hier darf ich gar nicht an die so herrlich emotionsreichen Briefe von Schiller und seiner Lotte denken!). Was wir hier häufig lesen ist in der Art von: "Hier schicke ich Dir was Spargel. Und nun muß ich Wäsche aufhängen." Letztlich erfährt man so gut wie nichts über die Menschen hinter den Briefen, kaum etwas über die Lebensumstände, aber viel über Alltagsauflistungen.

Hinzu kommt, daß die Auswahl der Briefe etwas seltsam ist. Es gibt kaum Kontinuität, Der erste Brief ist vom 10. September 1792, der zweite vom 13. Mai 1793. Nach zwei weiteren Briefen sind wir plötzlich im Jahr 1795. So beziehen sich die meisten Briefe nicht aufeinander. Warum nun gerade die abgedruckten Briefe ausgewählt wurden, wird meistens nicht klar. Sie ähneln sich zu sehr, um an einem Brief etwas Besonderes zu finden. Im Nachwort finden sich keine Hinweise auf die Auswahlkriterien.

Und so liest man sich durch unzusammenhängende Briefe, ohne relevante Hintergrundinformationen, liest zu 80% über Waren, die hin und her geschickt werden, die Theaterbesuche und sonstigen Amüsements von Frau Vulpius, einige Allgemeinplätze von Goethe, dem gelegentlichen persönlichen Wort, und fragt sich am Ende: "Und wozu jetzt dieses Buch?" Goethe ist einem nicht nähergekommen, von Christiane Vulpius erfuhr man das, was man ohnehin schon wusste. Über die Beziehung der beiden zueinander erfährt man letztlich zu wenig.

Positiv vermerken kann man die der Insel-Bücherei eigenen wunderschöne Ausstattung.

Veröffentlicht am 23.01.2019

Faszinierend-verstörende Geschichte erstickt im Sprachgewirr

Die Klavierspielerin
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"Die Klavierspielerin" berichtet eine drastisch-verstörende Geschichte und dies durchaus mit psychologischer Raffinesse. Es geht um eine höchst ungesunde Mutter-Tochter-Beziehung und die psychologische ...

"Die Klavierspielerin" berichtet eine drastisch-verstörende Geschichte und dies durchaus mit psychologischer Raffinesse. Es geht um eine höchst ungesunde Mutter-Tochter-Beziehung und die psychologische Verstümmelung der Tochter Erika, die auf immer drastischere Weise versucht, sich selbst, überhaupt irgendetwas, zu spüren.

Das ist von der Thematik her ausgesprochen interessant und hat mich neugierig gemacht. Immer wieder las ich vorab, wie wichtig bei Jelineks Büchern auch die Sprache sei, und dem kann ich einerseits durchaus zustimmen. Der Umgang der Autorin mit Worten ist bewundernswert - hier agiert eine Sprachvirtuosin. Die gelungenen Vergleiche, die bildhafte Ausdrucksweise, die ungewohnte Verwendung von Worten haben mich gleich angesprochen.

Auch die Geschichte an sich ist, wie erwartet, faszinierend. Das Eingesperrtsein Erikas in die viel zu enge Beziehung zu ihrer Mutter ist förmlich spürbar. Ihr ganzes Leben schon wird sie von der Mutter erstickt, in die gewünschte Form gepreßt, überwacht, manipuliert. Sie wehrt sich einerseits zwar ab und an brutal, aber letztlich hat die Mutter die größere Macht. Die innerlich abgestumpfte Erika treibt es wie zum Ausgleich in die dunklere Seite der Stadt, sie wird zu Voyeurin in Peepshows, beobachtet Paare beim lieblosen Geschlechtsakt in den Praterauen. Sie fügt sich selbst körperlichen Schmerz zu und ist zu menschlichen Beziehungen nicht fähig.

So sollte doch eigentlich, wenn die Sprache so meisterhaft benutzt wird und die Geschichte derart fesselnd ist, dem Lesevergnügen nichts im Wege stehen. Leider habe ich mich durch dieses Buch mehr oder weniger durchgekämpft und nur wegen der Sprache und dem Interesse, wie es nun ausgehen wird, durchgehalten. Während ich Jelineks Sprache sehr mochte, fand ich ihre Erzählweise nahezu unerträglich zäh. In endlos langen Absätzen, die auf den Buchseiten schon wie solide Mauern wirken, nahezu ohne mündliche Rede, wird hier ausführlich erzählt und erzählt und erzählt. Jeder Gedanke wird mehrmals hintereinander ausgeführt, in lähmender Detailfreude. Jede Handlung, jedes Geschehen zieht sich dahin. Immer wieder begann ich einen neuen Abschnitt mit Interesse und merkte dann, daß sich wieder ein Berg an Worten vor mir auftürmte. Um an die Geschichte zu kommen, muß man sich durch viele redundante Worte und Sätze hindurchwühlen. Dadurch ging für mich auch die Wirkung der Geschichte meistens verloren. Ja, die Schilderungen sind oft drastisch, aber umpackt von zu viel Füllmaterial. Weniger wäre hier viel mehr gewesen.

Veröffentlicht am 23.01.2019

Der Typ auf der Party...

Nachkriegsland. Eine Spurensuche
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...der einem dem ganzen Abend im Brustton der Überzeugung erzählt, warum "das System" falsch ist, nur er es durchschaut und er überhaupt genau weiß, wie das alles so läuft, den kennen wir wahrscheinlich ...

...der einem dem ganzen Abend im Brustton der Überzeugung erzählt, warum "das System" falsch ist, nur er es durchschaut und er überhaupt genau weiß, wie das alles so läuft, den kennen wir wahrscheinlich alle. Beim Lesen dieses Buches fühlte ich mich ein wenig wie auf solch einer Party.

Ich gebe zu, daß ich mir von dem Buch an sich etwas anderes erwartet hatte: mehr Informationen, weniger Politisiererei. Es interessiert mich, wie die Nachkriegsgeneration jene Zeit erlebt hat, wie der Umgang mit den Eltern war, wie diese Eltern mit ihren Erlebnissen, Traumata und auch ihrer Schuld umgegangen sind. Ich habe mehrere Bücher gelesen, in der die Nachkriegsgeneration auf die Suche geht und das Gespräch mit oder wenigstens Informationen über die Eltern sucht. "Was haben meine Eltern im Krieg gemacht?" - eine sehr wichtige Frage für diese Generation.

Ein wenig davon gibt es in diesem Buch auch. Die fünf Kapitel von Buch 1 ("Unsere Mütter und Väter") beschreiben die Familiengeschichte, die manchmal ein wenig zu sehr in allgemeine Banalitäten abgleitet, aber im Ganzen doch recht interessant zu lesen ist. Michael Brenner berichtet hier gut, wie wichtig es ihm war, herauszufinden, welche Rolle der Vater im Krieg gespielt hat, ob und wie er sich schuldig machte. Er recherchiert hier gründlich und auch das ist interessant zu lesen, insbesondere, wenn man selbst Ahnenforschung betreibt und sich für die Möglichkeiten, an Informationen zu kommen, interessiert. Schön ist auch, wie der Autor hier differenziert. Er kennt den Vater nur von einer sehr unangenehmen, lieblosen Seite, aber er betrachtet hier - und auch später im Buch - das ganze Bild, überlegt, warum der Vater so ist, was ihn seelisch derart verkrüppelt hat (dies tut er auch bei vielen anderen aus jener Generation). Angesichts der schlimmen Kindheit, die Michael Brenner durch diesen Vater erlebte, ist das bemerkenswert und war sicher auch schwer.
In diesem ersten Abschnitt beginnt aber leider auch schon eines der Dinge, die mich am Buch leider zunehmend genervt haben: die Wiederholungen.

Es gibt zahlreiche Wiederholungen im Buch, fast alles wird mehrfach erwähnt. Das fällt zB gerade sehr in den Kapiteln über die Schule auf. So wird im Kapitel über die Lehrer letztlich immer wieder das Gleiche erzählt - keiner war offen Altnazi, aber die meisten ließen durch ihre Geschichten und Aussprüche erkennen, welches Geistes Kind sie waren. Die deutsche Schuld, die Naziverbrechen werden nicht thematisiert. Das sind relevante Punkte und auch ein wichtiges Merkmal der 50er und frühen 60er, aber der Leser hat diese Aussage schon nach den ersten drei Erwähnungen mehr als verstanden.
Im Kapitel "Auslese und Unterwerfung" geht es um das elitäre Selbstverständnis des Gymnasiums, das der Autor besucht. Auf Seite 129: "sollten unsere Eltern, besonders diejenigen aus dem ärmeren Stadteilen, doch so einsichtig sein, ihre Kinder schnell wieder von der höheren Lehranstalt zu nehmen."
Seite 136: "Schnell hatten die Lehrer uns vermittelt, daß es besser sei, in den bürgerlichen Stadtteilen (...) zu wohnen. Wer in ärmlicheren Stadtteilen lebte, erhielt am Kirchenpauer-Gymnasium weniger Chancen und wurde schlechter behandelt."
Seite 138: "In den Klassenbüchern stand hinter unseren Namen immer auch der Beruf unserer Eltern, damit die Lehrer uns schneller einordnen konnten."
Seite 138: "Hauptaufgabe meiner Schule war die soziale Selektion." leitet einen ganzen Absatz ein, in dem dies erneut ausführlich erklärt wird.
Seite 139: "Wenn Eltern aus der Mittelschicht stammten, (...) wurden ihre Kinder besser behandelt."
Diese Neigung, bereits Gesagtes immer auf's Neue zu wiederholen, zieht sich leider durch das ganze Buch.

In der zweiten Hälfte des Buches begleiten wir den Autor durch seine Jugend- und Erwachsenenzeit. Dies geschieht durch eine etwas ungeordnete Mischung von Liedzitaten (die auch mal einen ganzen Absatz einnehmen können), historischen Informationen, ein paar eigenen Erlebnissen und eigener Meinung. Die historischen Informationen waren recht sprunghaft und meines Erachtens nicht gut dargebracht, da sie oft bekannte Ereignisse wie zB den Mauerfall so berichteten, als ob man noch nie davon gehört hätte. Vielleicht wären hier Fußnoten hilfreicher gewesen, so daß der historisch nicht so informierte Leser bei Bedarf nähere Informationen dort hätte einsehen können. Manche Kapitel lasen sich so nämlich wie ein halbherziger geschichtlicher Überblick. Warum dann ein nach eigener Darstellung so kritisch Hinterfragender hier auch noch behauptet, in der DDR wären die Nazis konsequent bestraft worden und hätten keine hohen Posten erreicht, wundert mich doch sehr. Daß diese Behauptung der DDR nicht stimmt, ist mittlerweile hinreichend bekannt.

Mit seiner Meinung hält der Autor nicht hinter den Berg, was in einem Buch über das auch politische Erwachen und eine Zeit gesellschaftlicher Umbrüche durchaus seinen Sinn hat. Leider geschieht die Meinungsäußerung fast durchweg polemisch. Im Nachwort weist der Autor noch darauf hin, daß er mit Absicht die politisch korrekte Sprache vermieden hat, was ja auch in Ordnung ist, aber zwischen (Zitat aus dem Nachwort) "ritualartigen Sprachübungen" und platter Polemik liegt noch sehr viel Spielraum. Da hätte man sich vielleicht eher ein Beispiel an Willy Brandt nehmen können, der direkt und ehrlich sprach, anstatt sich auf das Niveau der im Buch so oft - zu Recht - kritisierten Bild-Zeitung zu begeben (Polemik anderer zu kritisieren und sich ihrer dann selbst zu befleißigen wirkt nicht sehr ehrlich). So gehen leider viele Ansichten in dieser Polemik unter und werden zudem nicht erklärt, sondern auf Art des oben erwähnten Typen auf der Party mit der "ich schlau, alle anderen blöd"-Methode in den Raum geworfen. Schade. Ein "Gschmäckle" bekommt das Ganze, wenn die RAF mit einem lapidaren "Einerseits soll man nie töten, aber irgendwie..." verharmlost wird.
Und wenn dann - wieder mE zu Recht - die heuschreckenartige Ausweidung des Ostens nach der Wiedervereinigung kritisiert wird, kommt plötzlich ein "Für ein anderes Unternehmen gehörte ich zu denjenigen, die (...) das Ostland nach Beute durchkämmten. Glücklicherweise war ich nur ein kleines Licht und muss mich für nichts schämen."
Diese "ich war ja eigentlich nur am Rande dabei, ich habe mir nichts vorzuwerfen"-Entschuldigung also.... Im Rahmen des sonstigen Buchtextes durchaus interessant, ein wenig entlarvend.

Am Buch interessant war die Familiengeschichte und der Umgang des Autors damit, ebenso wie die Aussagen seiner Altergenossen zu ihrer Kindheit. Auch das erwachende politische Bewußtsein, die gesellschaftlichen Umwälzungen und die Erklärungen, warum dies alles Ende der 60er / Anfang der 70er aus den jungen Leuten so herausbrach, war lesenswert und informativ. Davon hätte ich mir mehr gewünscht. Das war aber leider nur ein sehr kleiner Teil des Buches.