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Veröffentlicht am 15.07.2019

Held wider Willen

Jakob der Lügner
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Um die Geschichte des Juden und Ghettobewohners Jakob Heym nicht dem Vergessen anheimfallen zu lassen, erzählt sie ein anonymer Überlebender des Holocaust. Er wählt dafür meist die auktoriale Erzählform, ...

Um die Geschichte des Juden und Ghettobewohners Jakob Heym nicht dem Vergessen anheimfallen zu lassen, erzählt sie ein anonymer Überlebender des Holocaust. Er wählt dafür meist die auktoriale Erzählform, streut aber auch Passagen aus der Ich-Perspektive ein. „Das meiste“ weiß er aus erster Hand vom toten Jakob selbst, manches von Zeitzeugen, und wo sich diese nicht finden ließen, füllt er die Lücken. Jakob ist für ihn ein Held, einer der zwar immer Angst hatte, der jedoch unglaublich mutig war. Angeregt zu diesem Roman hat den Autor Jurek Becker, der selbst, wie er sagte, keine Erinnerung an seine Kindheit im Ghetto von Łódź und in verschiedenen KZs hatte, eine wahre Geschichte.

Jakob Heym, ehemaliger Besitzer einer bescheidenen Restauration, lebt in einem namenlosen Ghetto im Osten. Der Zweite Weltkrieg neigt sich bereits dem Ende zu, doch sind die Bewohner des Ghettos von jeglichem Kontakt zur Außenwelt abgeschnitten und ohne Information über das Kriegsgeschehen. Die Lage ist verzweifelt, Hungertote und Selbstmorde bestimmen den Alltag. Da hört Jakob zufällig im Radio der Polizeistation, dass die Russen bereits fast bis Besanika vorgerückt sind. Seine Quelle kann er unmöglich nennen, hat doch vor ihm noch niemand die Polizeistation lebend wieder verlassen, doch gibt er die Meldung seinem Arbeitskollegen Mischa weiter, um ihn vom lebensgefährlichen Kartoffelraub abzulenken. Damit ist die Nachricht in der Welt und Jakob kann sie nicht mehr zurückholen. Da er als Quelle ein eigenes, verstecktes Radio angibt, werden er und das Gerät zum Mittelpunkt allen Denkens im Ghetto. Die allgemeine Verzweiflung schlägt in Hoffnung um, plötzlich scheint das Überleben eine reale Option und die Selbstmordrate sinkt auf null. Während die Menschen im Ghetto Pläne für eine nun plötzlich greifbar erscheinende Zukunft schmieden, wird die Situation für Jakob immer schwieriger, denn mit der einmaligen Neuigkeit ist es nicht getan. Gleichzeitig fühlen sich einige von dem verbotenen Gerät bedroht, andere werden zunehmend leichtsinniger. Jakob muss entscheiden, wie es nach der ungewollten Lüge weitergeht.

"Jakob der Lügner", der 1969 erschienene Debütroman von Jurek Becker (vermutlich 1937 – 1997) ist eines der Bücher, die schon viel zu lang auf meiner Wunschliste stehen. Nun hat sich mit dieser erstmals ungekürzten Hörfassung als Koproduktion von speak low und der SWR 2 Literaturredaktion eine Alternative geboten, die ich sehr gerne ergriffen habe. Der Sprecher August Diehl liest den Text angenehm zurückhaltend und doch an den entscheidenden Stellen mit großer Wucht. Er interpretiert die tieftraurigen Stellen genauso bewegend wie die tragikomischen und ist für mich in den 515 Hörminuten vollkommen mit der Figur des Ich-Erzählers verschmolzen.

Sehr gut gefallen haben mir auch die Box, die mit Zitaten bedruckten Hüllen der sieben CDs und das informative Booklet mit einem Text des Autors über seine fehlenden Erinnerungen und einem Aufsatz von Christine Becker zur Entstehungsgeschichte des Romans.

Veröffentlicht am 10.07.2019

Wie ein Goldfisch ohne Glas

Battle
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Amelie ist 17, als ihre Welt plötzlich aus den Fugen gerät. Nach der Insolvenz des Vaters muss sie mit ihm aus dem noblen Haus mit Pool im vornehmen Osloer Stadtteil Holmenkollen an den „Arsch der Welt“ ...

Amelie ist 17, als ihre Welt plötzlich aus den Fugen gerät. Nach der Insolvenz des Vaters muss sie mit ihm aus dem noblen Haus mit Pool im vornehmen Osloer Stadtteil Holmenkollen an den „Arsch der Welt“ in den heruntergekommenen Vorort Stovner ziehen. Ihren Freunden aus der Tanzklasse der angesagten Schule Valkyrie kann sie das nicht erzählen, selbst ihrem Freund Axel nicht, mit dem sich das Küssen so falsch für sie anfühlt. Nur ihre Freundin Ida wurde zufällig Zeugin, als Gerichtsvollzieherin und Polizei vor der Tür standen. Wenn es nach ihr ginge, würde Amelie allen die Wahrheit sagen: „Du brauchst nicht perfekt zu sein, damit die Leute dich mögen.“ Aber genau das will Amelie immer sein: beim Tanzen genauso wie vor ihrer Clique. So verstrickt sie sich immer tiefer in ein Netz aus Lügen, voller Sorge über Idas Verschwiegenheit.

Die Geschichte, aus der Sicht von Amelie erzählt, ist ein Jugendroman für Mädchen ab etwa 13 Jahren über Selbstfindung, erste Liebe, Dazugehören und Außenseitertum, Wahrheit und Lüge und vor allem über die Leidenschaft für das Tanzen. Denn Amelie möchte Tänzerin werden wie einst ihre Mutter. Sie träumt von der Balletthochschule und von einer Tanzkarriere, dafür trainiert sie unerbittlich und steckt die harte Kritik ihrer strengen Tanzlehrerin ein, die abseits der perfekten Technik die persönliche Note vermisst. Dass Amelie ausgerechnet in Stovner auf den jungen Hip-Hopper Mikael Tehrani stößt, der genau wie sie mit Leib und Seele Tänzer werden möchte, macht das abendliche Heimkehren in die schmuddelige Zweizimmerwohnung erträglicher. Doch Mikael, den dunkelhäutigen Sohn iranischer Einwanderer, kann sie unmöglich ihrer Clique aus der Valkyrie vorstellen – oder etwa doch? Mit ihm kann sie jedenfalls über ihre abwesende Mutter sprechen und vorübergehend den Schmerz über ihren Vater vergessen, der sich nach dem Bankrott völlig gehen lässt.

Die Norwegerin Maja Lunde, die in Deutschland 2017 mit ihrem Bestseller "Die Geschichte der Bienen" schlagartig bekannt wurde, hat mich mit ihrem im Original 2014 erschienenen Jugendbuch "Battle" noch mehr überzeugt, trotz einiger genretypischer Klischees und Schwarzweißmalerei. Besonders gut gelungen ist die Darstellung der inneren Konflikte der Ich-Erzählerin: „Ich war ein Goldfisch, und irgendjemand hatte mein Glas zerbrochen.“ Obwohl ich mich selbst weder aktiv noch passiv für Tanz interessiere, konnte ich mich nicht der Dramatik des "Battle", eines Tanzwettbewerbs in Stovner, entziehen, bei dem zuletzt fast alle Figuren des Romans aufeinandertreffen.

Die wunderschön gestaltete Ausgabe aus dem Verlag Urachhaus wurde zurecht von der Deutschen Akademie für Kinder- und Jugendliteratur im September 2018 als „Buch des Monats“ prämiert.

Veröffentlicht am 20.06.2019

Zwischen zwei Welten

All dies ist nie geschehen
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Was passt besser zum heutigen Weltflüchtlingstag, als ein Roman über den Dschungel von Calais? Laut UNHCR sind aktuell 70,8 Millionen Menschen weltweit von Flucht und Vertreibung betroffen, Tendenz steigend.

Zwei ...

Was passt besser zum heutigen Weltflüchtlingstag, als ein Roman über den Dschungel von Calais? Laut UNHCR sind aktuell 70,8 Millionen Menschen weltweit von Flucht und Vertreibung betroffen, Tendenz steigend.

Zwei dieser Flüchtlinge sind der Syrer Adam Sarkis und der etwa zehnjährige stumme Sudanese, den Adam Kilani nennt. Beide treffen im Juli 2016 im Lager von Calais zusammen, im sogenannten „Dschungel“. Zwar wurde dieses vermutlich größte Elendsviertel Europas, an der Küste auf einer ehemaligen Mülldeponie mit mehreren tausend Quadratkilometern gelegen, im Oktober 2016 aufgelöst, doch ist keines der Probleme dadurch verschwunden und der Roman bleibt leider weiterhin topaktuell.

Adam war 16 Jahre als Polizist in Syrien tätig, gehörte aber zuletzt der Rebellengruppe Freie Syrische Armee an und hat die Militärpolizei infiltriert. In letzter Sekunde kann er Syrien verlassen. Ziel ist das Lager von Calais, in das er kurz zuvor Frau und Tochter vorausgeschickt hat. Als er ankommt, fehlt von den beiden jede Spur. Während seiner verzweifelten Suche lernt er Kilani kennen und rettet ihn aus den Fängen der Afghanen im Lager, was der traumatisierte, verstümmelte Junge mit hingebungsvoller Anhänglichkeit belohnt.

Ein zweiter Handlungsstrang zeigt die Polizei von Calais. Die BAC, Brigade anti-criminalité, versucht Nacht für Nacht, die Flüchtlinge am illegalen Besteigen der Lastwagen nach Großbritannien zu hindern. Die BSU, Brigade de sûreté urbaine, schaut tagsüber soweit möglich über Vergehen der Flüchtlinge hinweg und hält sich vom Lager fern. Die Zustände sind unbeschreiblich, auch wenn verschiedene Helfergruppen die größte Not zu lindern versuchen. Lieutenant Bastien Miller, der sich aus familiären Gründen nach Calais hat versetzen lassen, ist schockiert vom „Calais-Style“, der angeordneten Arbeitsweise der Polizei. Als die Millers Adam und Kilani kennenlernen, können sie nicht mehr einfach wegschauen: „Wenn so etwas in den Nachrichten kommt, ist es einfach, das wieder zu vergessen, aber wenn das in deinem eigenen Wohnzimmer passiert?“.

Olivier Norek, laut Klappentext Star der französischen Krimiszene und vielfach ausgezeichnet, hat selbst drei Jahre für Pharmaciens sans frontières gearbeitet und war Police Lieutenant. Die Danksagung lässt erahnen, wie intensiv er bei der BAC von Calais und im Dschungel recherchiert und wie viele Gespräche mit Flüchtlingen er geführt hat.

"All dies ist nie geschehen" ist kein Krimi, kann es aber in punkto Spannung mit jedem Thriller aufnehmen. Dass die Geschichte wahr ist, schockiert. Über den Blick in eine unbekannte Welt hinaus, die doch fast vor unserer Haustüre liegt, hat mir sehr gut gefallen, dass Norek nicht urteilt, nur durch die Augen seiner Protagonisten beschreibt. Er zeigt durchaus auch die Gewalt, die von Flüchtlingen ausgeht, von Anwerbern des IS, von Schleppern, von Traumatisierten und Vergewaltigern: „Du kannst nicht einfach zehntausend Menschen aus den gefährlichsten Ländern der Welt zusammenpferchen und quasi gefangen gehalten, Menschen mit der Hoffnung auf eine illegale Überfahrt, die von der Großzügigkeit der Calaisiens und von den Hilfsorganisationen abhängig sind – und dann glauben, dass schon alles gut gehen wird.“ Am Ende sind alle Verlierer: die britischen Lastwagenfahrer, die Polizisten, die Einwohner von Calais, aber in erster Linie die Flüchtlinge. Hoffnung besteht nur, wenn Einzelne Zivilcourage zeigen.

Veröffentlicht am 19.06.2019

Eine akustische Reise von der Bretagne bis nach Korsika

Sehnsucht Frankreich
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Bei meiner Rezension zum Hörbuch "Sehnsucht Italien" im Juli 2017 habe ich mit der Hoffnung geschlossen, dass Der Hörverlag aus diesen wunderbaren Reisefeatures eine Reihe machen möge. Mit "Sehnsucht ...


Bei meiner Rezension zum Hörbuch "Sehnsucht Italien" im Juli 2017 habe ich mit der Hoffnung geschlossen, dass Der Hörverlag aus diesen wunderbaren Reisefeatures eine Reihe machen möge. Mit "Sehnsucht Frankreich" ist nun tatsächlich eine zweite, ebenso überzeugende Sammlung erschienen, die mir, da ich dieses Mal viele der porträtierten Städte und Regionen kenne, sogar noch mehr Hörspaß bereitet hat.

„Eine akustische Reise von der Bretagne bis nach Korsika“ lautet der Untertitel zu diesen fünf CDs, die in knapp sechseinhalb Stunden Features und Reportagen des Bayerischen Rundfunks 2 aus den Jahren 1980 bis 2018 zum Thema Frankreich bieten. Auf einer bunten Landkarte lassen sich die Stationen, die man auch dem hübsch gestalteten Booklet entnehmen kann, genau verfolgen. So bunt wie die Liste der Autoren und Sprecher ist auch die Art der 28 Beiträge: nur gesprochener Text oder mit Musik und Originaltönen angereichert, ausführlicher oder knapper, eher informativ oder eher emotional, wird es eines auf jeden Fall beim Zuhören garantiert nie: langweilig.

Es fällt mir schwer, einzelne Beiträge mit ihren gut gemachten Überleitungen besonders herauszuheben. Da sind einmal die Features, die Erinnerungen an eigene Reisen bei mir lebendig werden lassen, wie zum Beispiel an die Natur, Küche und Kultur der Bretagne, den Duft und die Musik Korsikas, den Zauber der Kapelle Notre Dame du Haut de Ronchamp, die Schlösser der Loire, das "blaue Wunder" von Chartres oder an einen Spaziergang durch Arles. Besonders gut gefallen hat mir auch der Beitrag über die Heimat der Sch’tis mit der Sprecherin Francine Singer und vielen Bezügen zum Film von Dany Boon. Andere Features haben eher Reisefieber bei mir ausgelöst, beispielsweise die Hausbootfahrt durch die Camargue, die Interviews mit den Schleusenwärtern am Canal du Midi, der Spaziergang mit einem Architekten durch Étretat oder der Besuch auf dem Friedhof Père Lachaise in Paris.

Ich habe die fünf CDs gleich zweimal gehört. Bis hoffentlich bald ein weiteres Sehnsuchtsziel erscheint, werde ich sie sicher noch öfter zur Hand nehmen.

Veröffentlicht am 22.05.2019

Immer dieser Mattis

Mattis und die Sache mit den Schulklos
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Mattis Hansen ist wahrlich nicht zu beneiden. Kaum setzt er eine seiner genialen Ideen in die Tat um, missversteht ihn sein gleichermaßen fantasie- wie humorloser Klassenlehrer und schreibt einen Beschwerdebrief ...

Mattis Hansen ist wahrlich nicht zu beneiden. Kaum setzt er eine seiner genialen Ideen in die Tat um, missversteht ihn sein gleichermaßen fantasie- wie humorloser Klassenlehrer und schreibt einen Beschwerdebrief an die Eltern. Anstatt sich die Geschichte aus Mattis‘ Sicht anzuhören, sammelt die Mutter die „Lügenbriefe“ lieber in einem schwarzen Aktenordner und prophezeit ihrem achtjährigen Sohn eine Karriere als Schwerverbrecher. Doch zum Glück ist Mattis schon in der 3c und kann die Wahrheit zu den Briefen, die seine Mutter partout nicht hören will, aufschreiben: „Damit Mama sie lesen kann. Und nicht mehr an den Schwerverbrecher glaubt. Sondern wieder an mich.“

In „Mattis und die Sache mit den Schulklos“ soll er gegen die goldene Schulregel Nummer neun, „Wir gehen mit Personen und Gegenständen unserer Schule stets sorgsam um“, verstoßen haben. Dabei hatte der Schulleiter ausdrücklich alle Klassen dazu aufgefordert, Pläne gegen die stark verschmutzten Schultoiletten zu erarbeiten. Eine solche Herausforderung ist wie für Mattis gemacht und prompt hat er eine seiner pfiffigen Ideen. Mit einem Edding, einer Flasche Badreiniger, einem Glitzischwamm, einer Wäscheklammer für die Nase und einem ausgeklügelten Schlachtplan will Mattis das Problem während der nächsten Deutschstunde auf eigene Faust lösen. Auch wenn nicht alles ganz nach Plan verläuft, rechnet Mattis fest mit einem großen Lob, aber weit gefehlt...

In zwölf Kapiteln auf 61 Seiten wird Erstlesern und Erstleserinnen ab der zweiten Klasse eine sowohl komplexe als auch gut verständliche, sehr humorvolle und altersgerechte Geschichte aus der Perspektive des achtjährigen Mattis erzählt, die sich wohltuend vom Durchschnitt der Erstleserliteratur abhebt. Obwohl ich nicht zur Zielgruppe gehöre, leide ich mit, wenn Mattis‘ gute Absichten wieder einmal in die Hose gehen und amüsiere mich darüber, wie er Aussagen von Erwachsenen wiedergibt und manches gar zu wörtlich nimmt. Die Freude an Silke Schlichtmanns Erzählkunst und ihren sprudelnden Einfällen ist eben auch bei diesem Buch wieder keine Frage des Alters. Maja Bohn hat erneut sehr aussagekräftige Illustrationen beigesteuert, wobei mir Mattis‘ pubertierender Bruder Jonathan mit seiner betont coolen Körperhaltung besonders gut gefallen hat.

Wie schön, dass die Mattis-Bände so zügig erscheinen und für August 2019 bereits der dritte Band innerhalb von nur acht Monaten angekündigt ist. Der Titel "Mattis - Schnipp, schnapp, Haare ab!" klingt nach neuem Ärger.