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Veröffentlicht am 05.09.2019

Beeindruckendes Psychogramm eines Betrügers

Der Stotterer
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Der Stotterer - Charles Lewinsky

"Mein Vater kämmte sich die Haare über seine Glatze. Mehr gibt es über seinen Charakter nicht zu sagen." Seite 12

Es handelt sich hierbei um einen Briefroman. Der Protagonist ...

Der Stotterer - Charles Lewinsky

"Mein Vater kämmte sich die Haare über seine Glatze. Mehr gibt es über seinen Charakter nicht zu sagen." Seite 12

Es handelt sich hierbei um einen Briefroman. Der Protagonist Johannes Hosea sitzt im Gefängnis eine Haftstrafe ab, wegen Betruges. Er ist hochintelligent und hochgradig psychisch gestört.
An den Anstaltspfarrer, er nennt ihn Padre, schreibt er in Briefen seine Lebensgeschichte auf. Außerdem sind da in Einschüben noch seine Tagebucheinträge, die dem Leser verraten, dass er auch dem Padre nicht die ganze Wahrheit erzählt. Zwischengeschobene eigene Geschichten lassen schon deutlich die absolut gestörte Persönlichkeit durchscheinen. Ein raffiniert aufgebautes Werk und das spannende Psychogramm eines Kriminellen, der sich auf Lügengebilde spezialisiert hat.

Wie der Titel bereits verrät ist der Protagonist ein Stotterer, von klein auf. Auch durch das Stottern hatte er eine sehr schwere Kindheit in einer Sekte. Dadurch auch eine recht belastete Beziehung zum Glauben, nichtsdestotrotz werden immer wieder Bibelzitate angebracht. Diese wurden ihm als Kind eingebläut, er hat sie nie wieder vergessen. Überhaupt handelt es sich um eine zerrissene und zutiefst gestörte Persönlichkeit. Dennoch kommt kaum Mitleid auf. Denn in erster Linie ist er absolut unsympathisch und unmoralisch in fast allem was er tut.

Wie bereits erwähnt ist dieser Gefangene hochintelligent. Durch sein Sprachproblem verlegt er sich schon früh auf die Schriftsprache als sein großes Talent. Er kann sich in jeden hineinversetzen und besitzt auf diesem Gebiet eine hohe emotionale Intelligenz. Schließlich verdient er sein Geld mit dieser Fähigkeit, wenn auch nicht legal und ohne Rücksicht auf andere. Ob als persönlicher Rachefeldzug, oder Geldeinnahmequelle gaukelt er den Adressaten der Briefe oder Mails vor was sie lesen wollen.
Der Autor nimmt den Leser mit auf eine schockierende Spurensuche nach den persönlichen Dämonen von Johannes Hosea.

"Lügen ist wie Rauchen: Wenn man einmal damit angefangen hat, tut man es bald automatisch." Seite 343

Sprachlich ist dieser Roman herausragend und genau auf den Punkt gebracht, mit einem hochinteressanten Charakter. Sehr lesenswert!


Veröffentlicht am 14.08.2019

Ein junger Mann, der loszieht, um für seinen Traum zu kämpfen

Ein feiner Typ
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Ein feiner Typ – Willy Vlautin

"Er war nichts. Ein Niemand. Ein Indianer, der kein richtiger Indianer war, und ein weißer Junge, der wie ein Indianer aussah." Seite 138

Für das Ehepaar Reese ist Horace ...

Ein feiner Typ – Willy Vlautin

"Er war nichts. Ein Niemand. Ein Indianer, der kein richtiger Indianer war, und ein weißer Junge, der wie ein Indianer aussah." Seite 138

Für das Ehepaar Reese ist Horace wie ein eigener Sohn. Bereits als Jugendlichen haben sie ihn aufgenommen, er gehört mittlerweile zur Familie und soll die Ranch bald übernehmen. Mr. Reeses quälen starke Rückenprobleme; er wird die Schafzucht nicht mehr lange bewältigen können.
Doch Horace, halb Indianer, halb Ire, aber im Herzen nur ein zurückgelassenes Kind, verlässt schweren Herzens die abgelegene Ranch der Reeses und geht nach Tucson, Mexiko, um Profi-Boxer zu werden. Er ist sich sicher, irgendwann zurückzukommen, doch erst will er sich selbst finden, sich selbst beweisen, dass er es schaffen kann. Ein junger Mann, der loszieht, um für seine Träume zu kämpfen.

Man sollte schon dem Boxsport nicht ganz abgeneigt sein, denn es werden etliche Kämpfe beschrieben. Läuft es anfangs noch gut für Horace, lernt er schon bald die Schattenseiten des Profisports kennen. Mr. Reese verfolgt die Nachrichten über seinen Schützling aus der Ferne. Als er länger nichts mehr von ihm hört, fährt er los um ihn zu suchen.

Es geht hier nicht um eine Männerfreundschaft zwischen zwei etwa gleichaltrigen Männern. Nein, dies ist eher die Beziehung zwischen Vater und Sohn, auch wenn die beiden nicht verwandt sind. Vlautin zeichnet seine Figuren mit liebevollem Respekt. Hart ist das Leben in den Bergen von Nevada und man ist aufeinander angewiesen.

Wunderbare Landschaftsbeschreibungen, die auch ganz toll rüberkommen und dem Leser Bilder wie aus einem Western vermitteln. Erwähnenswert finde ich hierzu auch noch das absolut passende und wunderschöne Cover. Die gesamte Stimmung ist wunderbar melancholisch und traurig.

Dieser Roman erinnerte mich beim Lesen relativ stark an die Werke von Kent Haruf. Die Warmherzigkeit und Wortkargheit der einfachen Landbevölkerung, die spürbare Einsamkeit, die die Geschichte und ihre Figuren prägt.
Ich habe diese wirklich lesenswerte Lektüre sehr genossen.

Veröffentlicht am 23.06.2019

Gut konstruiert und vielschichtig

Westwall
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Westwall – Benedikt Gollhardt

Ein Thriller, der beängstigend realitätsnah tief in das Milieu des Rechtsextremismus eintaucht.

Julia, die Polizeianwärterin, ist mit ihrem Vater in einer abgelegenen Kommune ...

Westwall – Benedikt Gollhardt

Ein Thriller, der beängstigend realitätsnah tief in das Milieu des Rechtsextremismus eintaucht.

Julia, die Polizeianwärterin, ist mit ihrem Vater in einer abgelegenen Kommune mit Aussteigern aufgewachsen. Für ihre Ausbildung ist sie nun nach Köln gezogen.
Sie verliebt sich in Nick, einen widersprüchlichen jungen Mann. Nach einer gemeinsamen Nacht entdeckt sie ein riesiges Hakenkreuz-Tattoo auf seinem Rücken. Ihr Vater scheint sich vor irgendjemandem aus der Vergangenheit zu fürchten. Julia beginnt auf eigene Faust zu ermitteln. Die Spur führt zurück in ihre Vergangenheit und zu einer rechtsextremen Gruppe, die sich in einem Haus am Westwall, dem alten Verteidigungssystem aus dem zweiten Weltkrieg, versteckt. Dieser Westwall war mir vor der Lektüre tatsächlich noch kein Begriff (Bildungslücke!).

Die Grenzen zwischen Gut und Böse verschwimmen und bald schon weiß der Leser nicht mehr, wer auf welcher Seite steht.
Dies ist das Thriller Debüt des Autors Benedikt Gollhardt, der sich jedoch bereits als Drehbuchautor einen Namen gemacht hat. Und tatsächlich liegt eine Stärke dieses Buches in der detailgenauen Beschreibung des Settings. Beinahe meint man, selbst irgendwo in einem finsteren Wald in der Eifel zu sein.

Gleich mehrere hochinteressante Themen und brisante gesellschaftliche und politische Entwicklungen, denen sich niemand entziehen kann, wurden hier gut verarbeitet. Dazu noch liebevoll konstruierte Charaktere machen den Thriller sehr vielschichtig.
Ein gut konstruierter Thriller mit einem brandaktuellen Thema, der nicht in der 0815-Schiene mitläuft.
In einem Interview am Anhang des Buches erzählt der Autor, dass er sich bereits Gedanken über eine Fortsetzung macht. Ich würde mich darüber freuen!
Klare Leseempfehlung!

Veröffentlicht am 21.05.2019

Gelungene Mischung aus Entwicklungs- und Kriminalroman

Für eine kurze Zeit waren wir glücklich
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Für eine kurze Zeit waren wir glücklich - William Kent Krueger

Eine scheinbar ganz normale, zumindest nach außen hin glückliche Familie, in der Frank, 13, und sein jüngerer Bruder Jake als Söhne eines ...

Für eine kurze Zeit waren wir glücklich - William Kent Krueger

Eine scheinbar ganz normale, zumindest nach außen hin glückliche Familie, in der Frank, 13, und sein jüngerer Bruder Jake als Söhne eines Pastors in New Bremen aufwachsen. Bis im Sommer 1961 der Tod in ihr Leben tritt, und das gleich mehrmals. Ihre Welt gerät aus den Fugen, denn auch die eigene Familie droht daran zu zerbrechen. Binnen weniger Wochen müssen die beiden Jungs erwachsen werden.

Die Charaktere der beiden Jungen fand ich sehr interessant, weil sie nämlich grundverschieden sind. Der Erzähler Frank ist der typische Draufgänger, der erst handelt bevor er nachdenkt und dadurch auch immer mal wieder in Schwierigkeiten gerät. Jake dagegen, leidet sehr unter seinem Stottern und ist ein nachdenklicher, schüchterner Typ, der immer wieder versucht seinen Bruder einzubremsen. Hatte ich am Anfang noch die Befürchtung, dass es sich bei den beiden um Stereotype handelt, so wird im weiteren Verlauf der Handlung eine deutliche und glaubwürdige Entwicklung der Persönlichkeiten deutlich.

Es geht um das Ertragen und den Schmerz großer Verluste, um Schuld und Vergebung, letztendlich immer ums Erwachsen werden.
"Mitten im größten Leid verstehen sie, was es heißt, einander beizustehen, eine Familie zu sein und anderen zu vergeben." Klappentext

Getragen wird diese Geschichte von einer sehr ruhigen, dennoch atmosphärischen Grundstimmung. Ein einfaches amerikanisches Landleben im Stil von Kent Haruf. Stark erinnert fühlte ich mich auch an eine Fernsehserie aus meiner Kindheit, „Unsere kleine Farm“ eine heile Welt mit viel Religion und Gottvertrauen.

Eine traurige, aber stimmige Geschichte, letztendlich versöhnlich. Trotz aller Tragödien, die sich ereignen, schafft es der Autor trotzdem, eine positive Stimmung zu hinterlassen.

Veröffentlicht am 06.05.2019

Von der Liebe zur Literatur

Die verborgene Bibliothek
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"Denn wenn jede Bibliothek eine Autobiographie ist, dann ist das Wegräumen der Bücher, als würde man seine eigene Todesanzeige verfassen." Seite 62

Viele Bibliotheken hat er schon aufgebaut und besessen. ...

"Denn wenn jede Bibliothek eine Autobiographie ist, dann ist das Wegräumen der Bücher, als würde man seine eigene Todesanzeige verfassen." Seite 62

Viele Bibliotheken hat er schon aufgebaut und besessen. In Paris, London und Tahiti, viele weitere hat er besucht, die argentinische Nationalbibliothek in Buenos Aires leitet Alberto Manguel seit 2016.
Aus verschiedenen Gründen musste er immer wieder seine Zelte abbrechen, die jeweilige Bibliothek in Kisten verpacken und darauf hoffen, seine Schätze eines Tages an einem anderen Ort wieder auszupacken. An einen ebensolchen Umzug erinnert sich Manguel in diesem Buch. Er verpackt und schweift dabei immer wieder ab, in die Geschichte des Buches und der Literatur, in verschiedene Werke und die Erinnerungen, die er damit verbindet.

Der Leser spürt richtiggehend die Liebe, die der Autor seinen Büchern und der Literatur im Allgemeinen entgegenbringt und den Glauben, dass jedes Buch seine eigene Seele hat.

Buchliebhaber werden sich sehr oft selbst wiedererkennen. Wie gut kennen wir den Drang, zu sammeln und zu ordnen, zu sortieren und zu horten.
Manguel entführt uns nun in die großen und berühmten Bibliotheken der Welt. Alexandria darf nicht fehlen, sogar Kapitän Nemos Bibliothek auf der Nautilus wird erwähnt.

Sehr gelehrt und oft poetisch führt der Autor querbeet durch Wissenswertes aus der Welt der Bücher. Das Wunderbare daran ist der eingängige und angenehme Schreibstil. Ein Muss für alle Bibliophilen! Dabei ist Manguel kein Unbekannter in diesem Genre. Bekannt wurde er bereits mit „Eine Geschichte des Lesens“. Logisch, dass dieses Buch nun auch auf meiner Wunschliste steht.