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Veröffentlicht am 24.08.2020

Wagemutiges Debüt

Schwarzpulver
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Die Autorin versteht ihr Handwerk, auch wenn sie gerade nicht den perfekten Roman abliefert, der alle Leser zufrieden stellt. Aber es nimmt für Laura Lichtblau ein, wie hingebungsvoll sie sich der Gestaltung ...

Die Autorin versteht ihr Handwerk, auch wenn sie gerade nicht den perfekten Roman abliefert, der alle Leser zufrieden stellt. Aber es nimmt für Laura Lichtblau ein, wie hingebungsvoll sie sich der Gestaltung ihres Debütromans widmet.
Das beginnt schon mit der Aufstellung der drei Hauptfiguren.
Da ist einmal Burschi, das Landei, ein bayrisches Urviech, das mit männlich konnotiertem Kosenamen seinen Weg durch die kalte Hauptstadt eines nicht nur temperaturmäßig kalten Deutschland sucht. Ihre abweichende sexuelle Orientierung macht sie in diesem normengläubigen, - ja -hörigen Land von vornherein verdächtig. Diesem Solitär von Protagonistin gegenübergestellt ist das symbiotisch verbandelte Mutter-und-Sohn-Gespann Charlotte und Charlie, deren Namensgleichklang ungutes Zeugnis ablegt von der ungesunden Bindung, die die Mutter um jeden Preis aufrecht zu erhalten sucht, während der Sohn sein Heil in neuen sozialen Bezügen zu finden hofft.
Zweites Indiz für Lichtblaus Könnerschaft ist ihre Gestaltung des Schauplatzes. Ganz allmählich nur entpuppt sich Berlin als Szenario eines autokratisch geführten Staatsgebildes, rechts und faschistisch, bejaht und unterstützt von Bürgern, die offenkundig ihren Glauben an Freiheit und Demokratie verloren haben. Symptomatisch für dieses System ist die von Lichtblau erdachte Institution der militanten Bürgerwehr, aus deren Fängen sich die Scharfschützin Charlotte nur durch die Flucht in die Paranoia zu befreien vermag.
Ein drittes Moment für das von der Autorin inszenierte Vexierspiel ist die Wahl der Zeit, in der die Ereignisse des Romans ablaufen. Es sind die Rauhnächte, die Twelfth Night zwischen Weihnachten und Epiphanias, im Volksglauben eine Zeit der Magie, des Ungeheuren, des Bedrohlichen, die aber die Hauptfiguren gleichsam in einen Kokon einspinnt, in dem jede einzelne Figur Gewissheit über sein Außenseitertum in dieser totalitären Gesellschaft erlangt.
Ihren ganz persönlichen Stempel drückt die Autorin ihrem Werk durch ihre Sprachgestaltung auf. So fallen einmal die ungemein poetischen Formulierungen ins Auge, gelegentlich übermäßig gesucht und überzogen, doch immer eigenständig und originell. Lichtblaus Darstellung erhält so einen unwirklichen, geradezu märchenhaften Ton. Dagegen kontrastiert eine klare knappe Begrifflichkeit, wenn die Mechanismen dieses Staatswesens gekennzeichnet werden. Und zu guter letzt brilliert sie mit einem ungeheuren Witz, einer erfrischenden Schnoddrigkeit, die sie ihren Figuren in den Mund legt.
Laura Lichtblau legt mit „Schwarzpulver“ ein vielversprechendere, facettenreiches Debüt vor, dessen begrenzter Umfang den Leser nie ermüdet, sondern kaleidoskopartig einen ersten Eindruck von den Talenten dieser Autorin vermittelt.

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Veröffentlicht am 25.03.2020

Heimatliebe

Offene See
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Benjamin Myers reiht sich ein in die breite literarische Tradition, die englische Autoren ihrer tiefen Verbundenheit mit der Heimat Ausdruck verleihen lässt. ‚Cider with Rosie‘ von Laurie Lee oder Carrs ...


Benjamin Myers reiht sich ein in die breite literarische Tradition, die englische Autoren ihrer tiefen Verbundenheit mit der Heimat Ausdruck verleihen lässt. ‚Cider with Rosie‘ von Laurie Lee oder Carrs erst vor kurzem wiederentdecktes ‚A Month in the Country‘ bieten literarische Beispiele, an denen sich diese Neuerscheinung zweifellos orientiert.
Die Liebe zu der Natur Nordenglands, das nagende Trauma des gerade erst beendeten Krieges, die faszinierte Erkundung aller Möglichkeiten, die Sprache eröffnet - das sind die Bestandteile, aus denen der Autor die polyphone Sinfonie seines Romans komponiert. Sprachmächtig, bildmächtig, aber von einem unbestimmten Grauen vorwärtsgetrieben, hören wir seinem Singen und Sagen zu: die Folgen eines inhumanes Krieges immer noch vor Augen, die Furcht vor dem scheinbar vorgezeichnetem Leben im Bergwerk im Herzen, der Triumph, vermittels der Sprache Erlebtes und Erdachtes für sich und andere erlebbar, ergreifbar zu machen: das sind die Komponenten, die dem Leser ein außergewöhnliches Lektüreerlebnis versprechen.
Allerdings darf nicht verschwiegen werden, dass der Autor gelegentlich über das Ziel hinausschießt. Allzu gewollt poetisch gestaltet er seine Diktion, etwas stereotyp verbalisiert er wieder und wieder seinen Abscheu gegenüber dem gerade erst beendeten Weltkrieg. Übermäßig pointiert fällt das Porträt der zum Dozieren neigenden Dulcie aus. Auch Anachronismen unterlaufen dem Autor gelegentlich: das moderne Wort ‚Genpool‘ KANN nicht im Wortschatz eines Bergarbeitersohns im Jahr 1946 enthalten sein.
Trotzdem soll dieser neue Roman dem deutschen Leser empfohlen sein, der eine Vorstellung vom Rauchen Charme der Landschaft von Yorkshire gewinnen möchte.

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Veröffentlicht am 22.03.2020

Schnitzeljagd, Puzzle, Labyrinth

Miracle Creek
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Toll gemacht, auch wenn die Ausgangsidee nicht neu ist: ein Ereignis integriert jedes beteiligte Individuum in ein unsagbar kompliziertes Geflecht von Beziehungen.
Involviertheit, Abhängigkeit, Schuld, ...

Toll gemacht, auch wenn die Ausgangsidee nicht neu ist: ein Ereignis integriert jedes beteiligte Individuum in ein unsagbar kompliziertes Geflecht von Beziehungen.
Involviertheit, Abhängigkeit, Schuld, nur drei Determinanten, die den Leser atemlos in diesen Mikrokosmos einer amerikanischen Kleinstadt eintauchen lassen.
Von Kapitel zu Kapitel, jedesmal aus einem anderen Blickwinkel dem Geschehen folgend, zwingt die Lektüre beständig, als wahr erachtete Positionen zu revidieren. Jedes Mosaiksteinchen verändert kontinuierlich das Bild der Kleinstadtidylle, die für immer zerstört ist.
Dieses literarische Debüt wird in dem Genre des Gerichtsromans einen ehrenvollen Platz einnehmen: ein ausgefeilter Plot, eine beständig sich steigernde Spannung, eine Charakterzeichnung, die nicht eindeutig die Figuren nach gut und böse sortiert, sondern oszillierende Portraits schwankender, getriebener, dem Schicksal ausgelieferter Menschen bietet, sorgen für ein ausgesprochenes Lesevergnügen, bei dem der Leser begeistert an der literarischen Schnitzeljagd teilnimmt, das Puzzle zu vervollständigen sucht, seinen Weg durch das Labyrinth zu finden hofft!

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Veröffentlicht am 15.11.2019

Polit-Thriller

Alles, was wir sind
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Doktor Schiwago, wie der Titel von Psternaks Hauptwerk in der deutschen Übersetzung lautet, ist als Buch ein Welterfolg, moderne Weltliteratur - ergreifend, spannend, ein historisches Panorama aus der ...

Doktor Schiwago, wie der Titel von Psternaks Hauptwerk in der deutschen Übersetzung lautet, ist als Buch ein Welterfolg, moderne Weltliteratur - ergreifend, spannend, ein historisches Panorama aus der Zeit der Revolution, als Film ein Klassiker der Cineasten. Der jungen Autorin Lara Prescott ist es zu danken, dass der Blick jetzt auch auf die Hintergründe der Veröffentlichung gelenkt wird. Mehrere Aspekte kommen in ihrem Debütroman zum Tragen: mehrere Liebesgeschichten sind mit dem Geschehen verwoben, am ergreifendsten die Beziehung zwischen dem Dichter Psternak und seiner langjährigen Geliebten. Daneben erhält der Leser Einblick in Willkür und Terror des Sowjet-Regimes. Millieuschilderungen aus verschiedenen Lebensbereichen diesseits und jenseits des Eisernen Vorhangs bereichern das Bild. Doch atemlos macht die Lektüre des Polit-Thrillers, der letztlich auch zur Verbreitung von Pasternaks Werk im Land seiner Entstehung führte. Schon der Auftakt ein Meisterstück: ein geschickt komponierter Romananfang, aufgebaut in strengem Antagonismus, in Nuancen der Verschiebung. Die beiden Schauplätze jeweils in den Hauptstädten der beiden Großmächte lokalisiert, Washington und Moskau. Die Atmosphäre in beiden Kapiteln aufgeladen durch die Ansiedelung im Geheimdienstmilieu. Zwei weibliche Personen, die nurmehr Atome der Bedeutungslosigkeit repräsentieren, austauschbare Schreibkraft die eine, Opfer des Systems die andere, die im gefürchteten Labyrinth der Lublianka verschwindet, der Willkür des Verhörs ausgeliefert. Ärgerlich nur der eher dümmlich-nichtssagende deutsche Titel - der lässt eher eine anspruchslose Schmonzette vermuten!

Veröffentlicht am 18.10.2019

Drei Leben - eine Frau

Die Zeit des Lichts
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Die Autorin gestaltet ihren Debütroman mit einem ambitioniertem Aufbau. Staunend registriert der Leser, dass ihm in der Gestalt der bekannten amerikanischen Fotografin Lee Miller drei vollkommen unterschiedliche ...


Die Autorin gestaltet ihren Debütroman mit einem ambitioniertem Aufbau. Staunend registriert der Leser, dass ihm in der Gestalt der bekannten amerikanischen Fotografin Lee Miller drei vollkommen unterschiedliche Persönlichkeiten entgegentreten. Herzzerreißend ist die Darstellung der alternden Frau, die alkoholkrank und nur mühsam organisiert eine Abendeinladung für liebe Freunde zu bewältigen sucht. Dieses Eingangskapitel verfügt über eine ungeheure atmosphärische Dichte. Wie die Protagonistin des Romans zu einem solchen körperlichen und emotionalen Wrack hat werden können, verdeutlichen die beiden anderen Perspektiven auf diese prominente Künstlerpersönlichkeit des 20. Jahrhunderts. Zu knapp fällt dabei der Blick auf die Rolle der Kriegsberichterstatterin aus, ein Novum in der Zeit des 2. Weltkriegs. Wie sehr diese Erfahrungen die Hauptfigur mental zerrüttet haben, hätte vom Umfang her weit mehr in den Vordergrund gestellt werden können. Stattdessen wird die Ambivalenz von Millers Beziehung zu Man Ray viel zu kleinschrittig dargestellt. Eine Verknappung dieses Handlungsstrangs hätte ein wesentlich prägnanteres Bild, ein viel überzeugenderes Porträt der Wandlung, der Emanzipation, oder wie das aktuelle Modewort lautet, des empowerment der Lee Miller zu einer eigenständigen, souveränen, zutiefst schöpferischen Künstlerpersönlichkeit geschaffen. Gelungen ist hingegen das vermittelte Bild vom Paris der frühen 30er Jahre als Weltmetropole der Kunst: die großen Namen der Epoche treten dem Leser in griffigen, scharfumrissenen Entwürfen entgegen. Alles in allem eine lohnende Lektüre, um eine plastische Vorstellung einer entscheidenden Facette des Kunstlebens vor und im 2. Weltkrieg zu bekommen.