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ElisabethBulitta

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Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 08.12.2018

So wirft der Tod um uns alle sein Netz in der Stunde, da wir diese Erde betreten.

Blutsbruderschaft
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Berlin im Herbst 1989, die Wende wirft ihre Schatten voraus. Während die DDR-Regierung ihr Jubiläum feiert, das von heftigen Protesten begleitet wird, ereignet sich im Westteil der Stadt ein grausamer ...

Berlin im Herbst 1989, die Wende wirft ihre Schatten voraus. Während die DDR-Regierung ihr Jubiläum feiert, das von heftigen Protesten begleitet wird, ereignet sich im Westteil der Stadt ein grausamer Mord. Der eher erfolglose Fernsehjournalist Lucas Hermes wittert seine große Chance und macht sich, parallel zu den polizeilichen Ermittlungen, daran, im Fall zu recherchieren. Da wird auf die Berliner Synagoge ein Bombenanschlag verübt, und Hermes‘ Freundin Anna gerät ins Fadenkreuz der Fahndung. Nur allmählich wird den Journalisten klar, in welcher Gefahr sie schweben.
Die Story ist von Anfang an spannend. In diesem Buch werden zwei an sich getrennte Geschichten erzählt, was mir persönlich Schwierigkeiten bereitet, das Buch einem bestimmtem Genre zuzuordnen: Handelt es sich um einen Kriminalroman oder einen Polit-Thriller? Zusammengehalten werden diese Erzählstränge durch das identische Ermittlerteam. Beide Handlungsverläufe sind spannungsgeladen, gut erzählt und flüssig zu lesen. Das Hinundherspringen zwischen ihnen und die häufigen Perspektivwechsel verlangen zwar einiges an Konzentration, sollten aber dank der übersichtlichen Gliederung des Buches und des Textes beim Lesen keine Schwierigkeiten bereiten.
Sehr interessant sind die Morde rund um die Anhänger der Esoterikszene und den verstorbenen Schriftsteller Gustav Meyrink (1868 – 1932). Auch wenn ich selber mit Esoterik sehr wenig anfangen kann, habe ich hier Impulse erhalten, auch einmal ein Werk des oben erwähnten Autors zu lesen. Zudem zeugt das Buch davon, dass Ulrich Stoll sich mit Werk und Leben desselben sehr gut auskennt.
Die „Zeitreise“ in das Berlin der Wendezeit zeugt ebenfalls von einem großen Wissen sowie der ausführlichen Recherche des Autors und weckt in jedem/jeder, der/die diese Zeit bewusst miterlebt hat, zahlreiche Erinnerungen.
Ulrich Stoll führt eine recht hohe Zahl an Charakteren an, wobei alle detailliert und realitätsnah gezeichnet sind. Teilweise handelt es sich hier um sehr skurrile Gestalten, was mir persönlich sehr gefällt. Meiner Meinung nach würde allerdings eine Personenliste zu Beginn das Lesen doch erleichtern.
Lucas ist ein richtiger Antiheld, der es nicht schafft, etwas aus seinem Leben zu machen, die Ermittlungen aber dennoch voranzutreiben versteht. Sein Handeln ist oftmals moralisch eher bedenklich, was bei mir nicht gerade für Sympathiepunkte sorgte. Das Ermittlerteam Berger/Klamm indes ist mir sehr sympathisch.
Insgesamt handelt es sich bei Ulrich Stolls „Blutsbruderschaft“ um einen gut lesbaren, spannenden Regionalkrimi, dessen Ermittlungen weit über die Grenzen Berlins hinausführen. Was mich jedoch beim Lesen schon arg gestört hat, war die Darstellung zweier an sich sehr wichtiger, aber wenig zusammenhängender Geschichten in einem Werk. Hier wäre meiner Meinung nach ein Weniger mehr gewesen, gingen doch bei mir die politischen und zeitgeschichtlichen Ereignisse unter. Die Konzentration auf Krimi oder Polit-Thriller hätte mir persönlich besser gefallen.

Veröffentlicht am 24.02.2020

Eingeschneit

Neuschnee
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Der Plot klingt interessant: Eine Gruppe von neun Freund/innen will Silvester auf einer abgelegenen Lodge in den schottischen Highlands verbringen. Doch schon bald wird klar, dass es unter der freundschaftlichen ...

Der Plot klingt interessant: Eine Gruppe von neun Freund/innen will Silvester auf einer abgelegenen Lodge in den schottischen Highlands verbringen. Doch schon bald wird klar, dass es unter der freundschaftlichen Oberfläche brodelt. Als dann der Winter Einzug hält und die Gruppe aufgrund des Schnees von der Außenwelt abgeschnitten ist, wird die Lage brenzlig. Schließlich verschwindet ein Gruppenmitglied spurlos und die Lage spitzt sich zu.
Erschienen ist der 430-seitige Thriller „Neuschnee“ von Lucy Foley im Dezember 2019 bei Penguin.
Angepriesen wird dieser Thriller als „perfekt“, ich jedoch kann diese Meinung nicht unterstützen. Es stimmt, von Anfang liegt dem Roman eine gewisse Grundspannung zugrunde, jedoch bezieht sich diese eher auf die Gruppendynamik der Clique als auf die Handlung an sich. Auch der Klappentext irritiert, da hier von einem Serienmörder die Rede ist, der allerdings für die Handlung an sich nicht von Bedeutung ist. Die Atmosphäre des Eingeschneitseins und der damit verbundenen Gefahr bzw. des Unbehagens kommt beim Lesen leider nur unzureichend zum Ausdruck. Erst im letzten Viertel nimmt die Story an Rasanz zu und kann durchaus überraschen, jedoch wirkt das Ende leider etwas überladen, da Handlungsstränge ins Zentrum gestellt werden, die vormals keine Rolle spielten. Darüber, wer letztendlich der/die Verschwundene bzw. das Mordopfer ist, werden Leserinnen und Leser lange im Unklaren gelassen; dieses ist einer der wenigen spannungsreichen Schachzüge der Autorin.
Der Roman wird auf zwei Zeitebenen erzählt: Zum einen ist da das Jetzt, der 2. Januar, zum anderen wird die Geschichte vom Beginn der Reise her, also dem Tag vor Silvester, aufgerollt. So setzt sich das Bild nach und nach zusammen. Die Erzählperspektive wechselt dabei stetig: Im Zentrum stehen die Ich-Erzähler, die zum großen Teil gedankliche Reisen in die Vergangenheit, d.h. in die Studienzeit der Charaktere, unternehmen sowie das aktuelle Geschehen analysieren. Zu Beginn jedes Abschnitts wird angegeben, um wessen Perspektive es sich handelt. Lediglich Dougs Kapitel sind in der dritten Person geschildert. Trotz des immerwährenden Perspektivwechsels ist es leicht, die Sichtweisen einander zuzuordnen.
Mit den Charakteren konnte ich persönlich nicht viel anfangen, da sie alle auf mich doch sehr unreif, kindisch wirkten. Wenn man bedenkt, dass diese alle Erwachsene von Anfang/Mitte Dreißig sind, sind ihr Handeln, ihre Gedanken und ihr Buhlen um Anerkennung ihrer ehemaligen Kommiliton/innen meiner Meinung nach doch sehr schwer nachzuvollziehen. Hier erinnert der Roman eher an einen Jugendroman, in dem nach dem Platz in der Peergroup gesucht wird, als an einen spannenden Thriller für erwachsene Leser/innen. Lediglich Heather, die Managerin dieser Lodge, und mit Abstrichen auch Doug, der Hausmeister, handeln so, wie man es von Erwachsenen erwarten sollte. Zudem hat das Schicksal der beiden mich beim Lesen interessiert.
Sprachlich lässt sich Foleys Thriller flott und flüssig lesen. Allerdings habe ich beim Lesen vermisst, dass die unterschiedlichen Perspektiven auch sprachlich zum Ausdruck kommen.
Insgesamt handelt es sich bei Lucy Foleys „Neuschnee“ m.E. nicht um einen Thriller, sondern eher um eine psychologische Studie, die zwar stellenweise recht interessant zu lesen ist, mich persönlich aber nicht überzeugen konnte, da sie aufgrund des unreifen Verhaltens der Protagonist/innen nur an der Oberfläche kratzt. Außerdem werden durch den Klappentext Assoziationen geweckt, die das Buch nicht erfüllen kann. Ein Roman, den man lesen kann, von dem man sich allerdings nicht zu viel versprechen sollte.

Veröffentlicht am 12.01.2020

Die ach so sozialen Medien

Im Netz des Lemming
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In seinem fünften Lemming-Roman greift Stefan Slupetzky ein aktuelles Thema auf: Mobbing und Meinungsmache in den digitalen Medien. Erschienen ist der 200-seitige Kriminalroman „Im Netz des Lemming“ im ...

In seinem fünften Lemming-Roman greift Stefan Slupetzky ein aktuelles Thema auf: Mobbing und Meinungsmache in den digitalen Medien. Erschienen ist der 200-seitige Kriminalroman „Im Netz des Lemming“ im Januar 2020 bei Haymon.
Leopold „Lemming“ Wallisch wird Zeuge, wie sich der Freund seines Sohnes, Mario, von einer Brücke vor eine U-Bahn stürzt. Was ist der Grund für diesen Suizid? Als dann auch noch Berichte zu dieser Schreckenstat im Internet kursieren und jeder Hinz und Kunz seinen Senf dazugibt, gerät Lemming schnell ins Visier der Internetgemeinde - und ein regelrechter Shitstorm bricht über ihm los. Mit Hilfe seines Freundes, Chefinspektor Polivka, begibt er sich auf die Suche nach der Wahrheit. Und bald schon scheinen die beiden im World Wide Web gefangen zu sein.
Um es vorweg zu schreiben: Der Roman liest sich wunderbar flüssig und kurzweilig. Die Sprache ist eingängig und verhehlt auch nicht die Wiener Wurzeln des Autors. Die Internet-Sprache wird herrlich aufs Korn genommen, wenn Chat-Abkürzungen, O Em Dschi!, ausgeschrieben werden oder Lemming den Shitstorm der Einfachheit halber mit „Scheißsturm“ übersetzt. Dieses sorgt beim Lesen für viele Lacher.
Der Fall an sich – der Suizid eines elfjährigen Jungen – ist alles andere als lustig. Das hat mich vor dem Lesen auch etwas kritisch sein lassen. Aber trotz aller Bedenken hat Slupetzky, was den Fall des Jungen betrifft, stets den richtigen Ton getroffen. Zwar ist alles witzig, weil satirisch verpackt, aber die Dramatik, die hinter Marios Schicksal steckt, geht niemals verloren. Durch den engen zeitlichen Rahmen der Handlung – sie umfasst vier Tage – wird pointiert und zugespitzt dargestellt, welchen Einfluss soziale Medien auf den einzelnen Menschen und sein Schicksal haben.
Ein Merkmal der Satire ist die Übertreibung. Klar. Doch hat der Autor hier m.E. das eine oder andere Mal doch zu viel des Guten gewollt. Auch wenn der „Lemming“ mit seinen über fünfzig Jahren vielleicht nicht mehr ganz auf der Höhe der Zeit ist, erscheint mir sein Unwissen in Bezug auf die digitalen Medien und ihre Gefahren doch sehr unglaubwürdig. Wie er und sein Mitstreiter sich verkleiden, um auf der Straße nicht erkannt zu werden, oder ein Viertel nach dem anderen trinken, konnte mich ebenfalls nur anfangs erheitern. Irgendwann werden viele Scherze einfach langweilig.
Stehen zu Beginn des Geschehens noch Mario und sein Schicksal als Mobbing-Opfer im Zentrum, wird nach und nach der Fokus auf weitere Missstände in der (österreichischen) Gesellschaft gelenkt. Teils ist dieses verständlich, werden doch in den Medien Meinungsmache betrieben und durch Fake News gezielt Falschinformationen verbreitet. Allerdings sagt mir gerade die Fülle an politischen Themen nicht sehr zu, da vieles angerissen, jedoch wenig vertieft wird – durchaus ein Spiegel unserer Gesellschaft, jedoch eben kein tiefgreifender. Leider gerät dadurch auch Marios Schicksal ein wenig ins Hintertreffen. Ob gewollt oder nicht, mich hat das beim Lesen gestört.
Auch der Showdown am Ende hat mein Lesevergnügen ein wenig geschmälert. Slupetzkys Versuch, nach einem doch eher unblutigen Geschehen etwas mehr Action in die Handlung einzubauen, schrammt meiner Meinung nach haarscharf an Klamauk und Slapstick vorbei – eine Tendenz in Büchern, mit der ich wenig anfangen kann.
Insgesamt fühlte ich mich von „Im Netz des Lemming“ gut unterhalten, vollends überzeugen konnte mich dieses Buch jedoch nicht, denn dafür fehlt es einfach an Tiefe – und gerade sie hätte ich bei dieser Thematik erwartet. Schade.

Veröffentlicht am 12.01.2020

„Die Wahrheit muss ans Licht.“

Der unschuldige Mörder
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Vom Limes-Verlag beworben wird Mattias Edvardsson 464-seitiger Spannungsroman „Der unschuldige Mörder“ als „der neue packende Roman“ dieses Schweden. In Deutschland erschienen ist er jedoch erst im Anschluss ...

Vom Limes-Verlag beworben wird Mattias Edvardsson 464-seitiger Spannungsroman „Der unschuldige Mörder“ als „der neue packende Roman“ dieses Schweden. In Deutschland erschienen ist er jedoch erst im Anschluss an den Überraschungserfolg von „Die Lüge“ – im November 2019, also knapp drei Jahre nach der schwedischen Originalausgabe.
Die Zeitungskrise macht auch vor Schweden nicht halt. Und sie trifft den 32-jährigen Zackarias Levin wie aus dem Nichts. Fortan ohne Lohn und Brot, besinnt er sich auf seine Wurzeln. In den Neunzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts studierte er in Lund „Literarisches Schreiben“. Nun ist es an der Zeit, das Gelernte anzuwenden. Sein Projekt: Er möchte das Verschwinden des Erfolgsschriftstellers Leo Stark zum Thema machen. Dieser hegte damals eine enge Beziehung zu Zackarias‘ Freundeskreis, bis er eines Tages spurlos verschwand. Zwar wurde seine Leiche nie gefunden, doch wurde Zacks Kommilitone Adrian wegen Mordes zu einer achtjährigen Haftstrafe verurteilt. Kaum macht sich der ambitionierte Autor an die Recherchen, taucht auch schon Stacks Leiche auf.
In diesem Werk steht ein Verbrechen im Zentrum, das aus verschiedenen Perspektiven beleuchtet wird. So wird das Geschehen, was mir sehr gut gefallen hat, auf zwei Ebenen geschildert. Zum einen sind da die Ereignisse in der Gegenwart, hier im Jahr 2008. Zack recherchiert die Hintergründe des Verbrechens, nimmt zu seinen früheren Bekannten Kontakt auf, lässt sie ihre Sicht der Dinge erzählen und wird schließlich in die aktuellen polizeilichen Ermittlungen, die sich im Anschluss an das Auffinden von Stacks Leichnam ergeben, involviert. Die zweite Ebene bildet der Roman, den Zack im Anschluss an seine Arbeit veröffentlich hat. Einzelne Kapitel desselben wechseln sich beständig mit der Gegenwart ab und greifen Recherchiertes auf, sodass sich aus beidem schließlich ein Gesamtbild ergibt. Durch die regelmäßigen Perspektivwechsel und das häppchenweise Präsentieren von Erkenntnissen, jede/r in diesem Roman scheint etwas zu verbergen zu haben, baut der Autor einen Spannungsbogen auf, der den Roman mit wechselnder Intensität latent durchzieht. Außerdem werden Leserinnen und Leser auf eine bestimmte Fährte geführt, die sich am Ende allerdings als falsch erweist, was das Ende des Romans wie eine Bombe einschlagen lässt. Insofern fühlte ich mich beim Lesen gut unterhalten. Leider werden jedoch am Ende nicht alle offenen Fragen geklärt, und die endgültige Aufklärung kommt recht plötzlich.
Gerade die Schilderungen aus der Studienzeit beinhalten viele Informationen über den Prozess des Schreibens an sich, was mir recht gut gefallen hat: Ist Schreiben eher erlernbares Handwerk oder etwas, was man nur bedingt lernen kann? Welchen Umfang sollte ein gutes Buch haben? Wie gehe ich mit Sprache um? Was passiert bei einer Schreibkrise? Außerdem gewähren sie einen lebendigen Eindruck in die Studienzeit. Allerdings nehmen hier sexuelle bzw. Liebesbeziehungen einen m.E. zu großen Raum ein, was das Lesen teilweise doch sehr langatmig werden lässt – erstrecht wenn man sich am Ende resümiert, wie viele dieser Informationen für den Fortgang der Handlung wirklich von Bedeutung sind.
Die Zahl der Charaktere ist überschaubar, und sie werden auch durchaus lebendig dargestellt; jedoch lassen sie eine innere Entwicklung missen. Selbst mit Anfang Dreißig verhalten sie sich kaum anders als in ihren Studienjahren. Insbesondere Zacks Verhältnis zu seiner Mutter, bei der er wegen seiner Arbeitslosigkeit wieder wohnt, erscheint mir sehr unreif. Aber auch der Bestsellerautor Leo Stark ist so exzentrisch dargestellt, dass ich seine Figur für eher unrealistisch halte und mir beim Lesen das eine oder andere Mal die Lust verging, mehr über ihn zu erfahren.
Edvardssons Sprache ist insgesamt flüssig zu lesen; der „Roman im Roman“ liest sich stellenweise etwas „affektierter“, literarischer, was dem geschuldet ist, dass Zack versucht, das im Studium Erlernte umzusetzen, und die beiden Handlungsebenen auch sprachlich voneinander absetzt.
Mit großen Erwartungen bin ich an diesen Roman herangegangen, konnte mich „Die Lüge“ doch im Großen und Ganzen überzeugen. „Der unschuldige Mörder“ indes konnte diese leider nicht erfüllen: Edvardsson thematisiert zu viele Nebensächlichkeiten, führt nicht alle losen Fäden zusammen, und auch den Figuren konnte ich nicht viel abgewinnen: ein Roman, der unterhält und den man lesen kann, aber eben nicht lesen muss.

Veröffentlicht am 02.01.2020

Die Mission der Kakerlaken

Die Kakerlake
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Ein ekelerregendes Tier, Ungeziefer … eine Kakerlake! Und gerade sie verwandelt sich in der 112-seitigen satirischen Novelle „Die Kakerlake“ von Ian McEwan, im November 2019 bei Diogenes erschienen, in ...

Ein ekelerregendes Tier, Ungeziefer … eine Kakerlake! Und gerade sie verwandelt sich in der 112-seitigen satirischen Novelle „Die Kakerlake“ von Ian McEwan, im November 2019 bei Diogenes erschienen, in einen Menschen. Doch nicht in einen gewöhnlichen Menschen, sondern gleich in den englischen Premierminister, Jim Sams, himself. Und schon bald soll sich herausstellen, dass dieser nicht der einzige Parasit in der britischen Regierung ist, nein, sie ist unterlaufen von diesen Schmarotzern. Allein schon dieser Umstand lässt erkennen, was der Autor von der Regierung seiner Heimat und der momentanen politischen Situation hält.
Doch von vorn. Ähnlich wie in Kafkas berühmtem Werk „Die Verwandlung“ findet sich Jim Sams, auch dieser Name neben der Verwandlungsidee an sich eine Hommage an den großen Vorgänger, eines Morgens „in eine ungeheure Kreatur“ verwandelt vor. Jedoch spielt sich dieser Prozess hier umgekehrt ab: Eine Kakerlake findet sich im Körper eines Menschen, des englischen Premiers, wieder. Nach einigen, literarisch leider wenig ausgearbeiteten Eingewöhnungsschwierigkeiten macht sich dieser daran, die Politik und Wirtschaft seines Landes zu revolutionieren. Er folgt seiner Mission, den „Reversalismus“ zu etablieren: „Kehren wir den Geldfluss um, und das gesamte Wirtschaftssystem, die Nation selbst gar, wird geläutert werden, gereinigt von allen Absurditäten, von Verschwendung und Ungerechtigkeit.“ Die Menschen zahlen keine Steuern mehr, nein, sie erhalten die Steuern vom Staat. Beim Einkauf bekommt man nicht nur die Waren, sondern gleich obendrauf auch noch den passenden Betrag. Dafür arbeiten Arbeitnehmer/innen allerdings nicht mehr für Geld, sondern sie arbeiten, um ihre Einkünfte loszuwerden, sprich sie ihrem Arbeitgeber auszuzahlen. Und damit dieses System auch gut funktioniert, soll gleichzeitig verboten werden, Geld „anzuhäufen“, zu sparen. Die Wirtschaft wird aufblühen! Wie abstrus diese Idee ist, stellt man allerdings spätestens fest, wenn man nachzuvollziehen versucht, wie dieses System im internationalen Handel funktionieren soll. Schnell steht für die klar denkende Leserschaft fest: Dieses kann nur in einer Isolation Großbritanniens enden. Um seine Absicht entgegen aller Vernunft durchzusetzen, erhält Sams durch andere Politiker/innen, die fast ausnahmslos verwandelte Kakerlaken sind, Unterstützung und greift zu politischen Mitteln, die der Realität sehr nahe kommen, in ihrer geballten und irrwitzigen Darstellung jedoch mehr als unlauter erscheinen.
Das Erscheinungsdatum des Romans sowie die Darstellung einzelner Charaktere und Abläufe lassen schnell klarwerden, was hier kritisiert wird: der Brexit. Die Übertreibungen und das Groteske führen Leserinnen und Lesern unverblümt vor Augen, was McEwan selbst von der Idee und den aktuellen politischen Praktiken hält. Insbesondere der Umstand, wie Sams seine Idee in den Medien durchsetzt, lässt tief blicken. Auf die Frage der deutschen Kanzlerin, warum Jim Sams das alles tue, gibt es nur eine Antwort seitens des britischen Regierungschefs: „Weil. Weil wir das nun mal tun.“ Was hat man von Politiker/innen zu halten, die nicht nur aberwitzig und egoistisch handeln, sondern darüber hinaus nicht einmal die Motivation für ihre eigenen Entscheidungen benennen können? Richtig: nichts! So wird die ganze Praxis des Brexit und ihrer Befürworter/innen an den Pranger gestellt.
Sprachlich ist der Roman ausgefeilt: McEwans Schreibstil ist literarisch und nicht ohne Anspruch, doch auch vor einem etwas derberen Ton schreckt der Autor nicht zurück – was eben sehr gut zum Inhalt und zur Realität, die dahintersteht, passt.
Allerdings fehlt es an einigen Stellen des Romans dann doch an Feinschliff: So sind die ersten Minuten in Sams neuem Leben zwar sehr ansprechend und plastisch geschildert, jedoch verliert sich die Kakerlake zu schnell, sodass von dem ursprünglichen Wesen nicht mehr viel übrig ist und nur noch Menschen agieren. Und auch wenn die Übertreibung der Satire immanent ist, hat es mich wenig angesprochen, dass fast die gesamte Regierung aus diesen Tieren besteht, denn dadurch geht die Eigentümlichkeit – und damit die Faszination – desselben leider verloren. An einigen Stellen driftet das Satirische fast in Klamauk ab: „Walking back to happiness, wuppaa oh yeah yeah.“ – Hier hatte ich beim Lesen förmlich tanzende Kakerlaken vor Augen, was ich persönlich ebenfalls sehr schade und dem Anliegen des Autors wenig angemessen finde.
Insgesamt hat man beim Lesen den Eindruck, als habe der Autor ein Sprachrohr gesucht (und gefunden), um sich seinen ganzen Frust über die aktuelle politische Lage von der Seele zu schreiben – allerdings sind Gefühle allein in der Regel ein schlechter Ratgeber. Daher fehlt es auch hier teilweise an Tiefe und Substanz, was dem eigentlichen Anliegen zuwiderläuft und höhere Ansprüche nicht unbedingt befriedigen kann. Dennoch handelt es sich bei „Die Kakerlake“ um ein Werk, das Denkanstöße mit Unterhaltung vereint und das ich – mit einigen Abstrichen freilich – zur Lektüre durchaus weiterempfehlen kann.