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Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 23.04.2020

Unterhaltsam und nützlich

»Gestatten, ich bin ein Arschloch.«
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Sympathisch und attraktiv sieht er aus, der Mann auf dem Cover, Pablo Hagemeyer. Muss er auch. Schließlich ist er Narzisst, also einer jener Menschen, die den Zugang zu ihrem authentischen, emphatischen ...

Sympathisch und attraktiv sieht er aus, der Mann auf dem Cover, Pablo Hagemeyer. Muss er auch. Schließlich ist er Narzisst, also einer jener Menschen, die den Zugang zu ihrem authentischen, emphatischen Selbst verloren haben, um anstatt dessen ihrer Selbsterhöhung zu frönen und damit ihre Umgebung drangsalieren, etwa so wie der derzeitige US-amerikanische Präsident. Damit das bestmöglich gelingt, ist Außenwirkung existenziell. Zudem ist er Psychiater. Und in dieser Funktion will er all jenen, die unter solchen wie ihm, Narzissten also, leiden, erklären, was es mit denen auf sich hat und wie man mit ihnen umgehen soll.
Der solchermaßen doppelt qualifizierte Autor weiß viel zu erzählen. Kreist um das Thema, schweift auch mal ab. Plaudert, meist leicht und unterhaltsam, mal sachlich, selten wissenschaftlich. Dabei verzettelt er sich gerne.
Theoretische Erkenntnisse werden anhand des Paares Tim und Tina mit Beispielen unterlegt, dann gibt es noch die gestrichelt umrandeten Kästen mit Tipps und die anderen mit Infos, außerdem Erinnerungsausflüge in seine Kindheit, Erlebnisse aus der Praxis, einige veranschaulichende Illustrationen und zwischendurch die pfiffigen und höchst selbstironischen Dialoge mit Ehefrau Carlota. Der fachliche Anspruch schwankt, weitgehend wird in leicht verständlichem Umgangston geschrieben, um dann unvermittelt in psychiatrische Diskurse umzuschwenken mit Schlussfolgerungen, die manchmal kaum nachzuvollziehen sind. So ganz leicht haben es die Leser also nicht immer.
Doch in der zweiten Hälfte wird es konkreter. Wer wissen möchte, was die Störung bedeutet, wie sie sich äußert, ob man selbst betroffen ist, welche Differenzierungen es gibt und ganz besonders: wie man mit einem Narzissten umgeht, der einen gerade zur Verzweiflung bringt, erhält hier Antworten. Fundierte, hilfreiche, erhellende und praxistaugliche Antworten, die Verständnis und Erkenntnis und in der Folge mehr Gelassenheit und Stärke bewirken und darüberhinaus Lösungen anbieten. Sogar mehr als Lösungen: Hier erfolgt ein Appell, ungute Zustände zu ändern. Das nötige Know-How wird mitgeliefert.

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  • Charaktere
Veröffentlicht am 17.04.2020

Poetischer und berührender Beitrag zum Thema Resozialisierung

Ich an meiner Seite
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Der 23-jährige Arthur soll nach einem Gefängnisaufenthalt in einem Resozialisierungsprojekt auf sein neues Leben vorbereitet werden. Doch das Fußfassen ist schwierig.
Nicht nur ihrem Helden, auch dem ...

Der 23-jährige Arthur soll nach einem Gefängnisaufenthalt in einem Resozialisierungsprojekt auf sein neues Leben vorbereitet werden. Doch das Fußfassen ist schwierig.
Nicht nur ihrem Helden, auch dem Leser gewährt Bachmannpreisträgerin Birgit Birnbacher keinen leichten Einstieg. Zunächst muss man ein wenig hinein lesen in die Geschichte. Erst nach und nach rücken die Protagonisten näher. Nichts wird erklärt, Szene reiht sich an Szene.
Wir begegnen Arthur in der Mensa, wo er jetzt gerade steht und sich einen Kaffee ziehen möchte. Dann vor anderthalb Jahren bei seinem Therapeuten. Und erst mit Hilfe der Rückblenden, beginnend bei seiner Geburt, dürfen wir uns Stück für Stück aus Fragmenten ein Bild des jungen Mannes zusammensetzen. Das zeigt einen freundlichen, harmonieliebenden Charakter, sensibel, nachdenklich, ohne feste Ziele als das, möglichst wenig aufzufallen. Immer verwunderter stellt man sich die Frage, wie er wohl den Weg in die Kriminalität gefunden haben mag.
Sein Therapeut Vogl taugt als Held noch weniger. Unangepasst bis störrisch, problembehaftet, dem Alkohol zugeneigt, steht er selbst seinem Erfolg am meisten im Weg.
Ungewöhnlich sind sie alle, die Personen, die Arthur in seinem Leben begegnen. Die Interaktionen, auch die fehlenden und gerade dadurch nicht minder ausdrucksstarken, und die originellen Dialoge sorgen mit dem anspruchsvollen Schreibstil und der warmherzigen Ironie für ein besonderes Lesevergnügen, gelegentlich gekrönt von wunderbar poetischen Gedanken.
Die Themen Strafvollzug und Resozialisierung werden kritisch und derart exemplarisch angegangen, dass es nicht wundert, am Ende den Dank gegenüber der „realen Vorlage“ zu lesen. Da ist durchaus ein Anliegen spürbar: Hinter der individuellen Geschichte eines Gestrauchelten verbirgt sich der Appell, offen zu bleiben, Hilfen zu gewähren, menschlich zu handeln.

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Veröffentlicht am 03.04.2020

Einfühlsame Beschreibung einer Verlusterfahrung

Bis die Zeit verschwimmt
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Bei einem Amoklauf in ihrer Schule muss die fünfzehnjährige Helene mit ansehen, wie ihre beste Freundin Cassie erschossen wird. Von jetzt auf gleich gerät ihre Welt aus den Fugen.
Svenja K. Buchner ist ...

Bei einem Amoklauf in ihrer Schule muss die fünfzehnjährige Helene mit ansehen, wie ihre beste Freundin Cassie erschossen wird. Von jetzt auf gleich gerät ihre Welt aus den Fugen.
Svenja K. Buchner ist offenbar dicht dran an Menschen mit Trauererfahrung. In ihrem ersten Jugendroman lässt sie mit Helene eine starke, trotzige Heldin zu Wort kommen, die mit dem brutalen Ende einer innigen und liebevollen Freundschaft konfrontiert ist. Wie die damit umgeht, ist deutlich jenseits des Klischees. Maßlose Wut auf andere, Schuldgefühle, Aktionismus und Depression - viele Facetten der Trauer lebt sie, allerdings auf eine ureigene, individuelle Art. Nicht immer kann man einverstanden sein mit ihr, manchmal verstört ihr Verhalten. Doch genau das macht sie glaubhaft und bringt sie sehr nah.
Auch die anderen Personen, Cassie, der gemeinsame Freund Erik, ihr Bruder Jens, etliche Erwachsene, sind präzise skizziert, folgerichtig laufen Interaktionen und Dialoge lebendig und spannend ab.
In die aktuelle Handlung sind immer wieder Rückblenden eingebaut, in denen es um die Freundschaft der beiden Mädchen geht. Obgleich zur besseren Orientierung mit zwei Zeiten gearbeitet wird, verwischen sich die Ebenen manchmal und schaffen somit stilistisch eine Entsprechung zur inneren Befindlichkeit Helenes. Denn gerade durch den Tod erhält Cassie eine intensive Präsenz.
Lange hat nichts anderes Platz in ihrem Leben. Auf der verzweifelten Suche nach einem Grund für das Geschehen sucht sie die Begegnung mit anderen Betroffenen.
Nach und nach findet Helene zurück, lässt wieder Alltag zu. Sogar romantische Gefühle gegenüber Erik, der ihr mit Geduld und Verständnis auf ihrem schweren Weg zur Seite steht.
So ist sogar ein Ende möglich, das die Leser im Guten entlässt. Das geht nicht ohne Tribut: Das Seichte, Erwartete übernimmt die Regie. Doch in Anbetracht eines Zielleserschaft ab dreizehn Jahre mag das angebracht sein.

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Veröffentlicht am 29.03.2020

Verstrickt in faschistische Spionage

Der Empfänger
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Als Josef Klein in den 20ern des letzten Jahrhunderts nach New York auswanderte, ahnte er sicher nicht, dass er vor Beginn des zweiten Weltkriegs als Funker in die Machenschaften einer deutschen faschistischen ...

Als Josef Klein in den 20ern des letzten Jahrhunderts nach New York auswanderte, ahnte er sicher nicht, dass er vor Beginn des zweiten Weltkriegs als Funker in die Machenschaften einer deutschen faschistischen Gruppierung gerät.
Ulla Lenze hat zu großen Teilen den Lebensweg ihres Großonkels verarbeitet und mit einer möglichen biographischen Variante verwoben. In durchbrochener Chronologie begegnen wir ihm in seiner Heimatstadt Düsseldorf, bei der Ankunft in New York, in Gefangenschaft auf Ellis Island, bei der Rückkehr zu seinem Bruder nach Neuss, in Argentinien und Costa Rica.
Der Schreibstil ist, obgleich oder vielmehr weil sehr nüchtern und scheinbar objektiv erzählt wird, hochgradig poetisch. Immerzu kann das Erwähnte interpretiert und beinahe sinnlich erfahren werden, die Erwähnungen einzelner Details geben Informationen über die Beschreibung hinaus (S. 278: „So musste sie ihn nicht in gestreifter Gefängniskleidung sehen, er von Kopf bis Fuß durchgestrichen, die Gitterstäbe noch auf seinem Körper“). Ein weiterer Gewinn sind die tiefen Dialoge. Hier besteht die Chance, zu den Menschen vorzustoßen.
Die wunderbare Sprache ist es, die durch den Roman trägt. Josef Klein wird nicht zum Helden. Niemand wird es. Schwächen dominieren, ob es um ihn geht, seinen Bruder, Freunde. Die Personen distanzieren sich vom Lesenden, somit auch die Geschichte, die seltsam fern wirkt.
Immer wieder wird Klein mit nationalsozialistischem Gedankengut konfrontiert. Der Amerikadeutsche Bund, der Hitlers Ideen in den USA lebt und verbreitet, benutzt ihn für Spionagetätigkeiten. Es ist erschreckend zu lesen, mit welchem Selbstverständnis die verbrecherischen Strukturen aufgebaut und funktional gestaltet waren. Der historische Blick, den der Roman auf dieses so relativ unbeleuchtete Phänomen gewährt, ist so verstörend wie informativ.
Letztendlich muss man sich damit zufriedengeben, nicht wirklich zu Klein vorgedrungen, ihn nicht grundsätzlich verstanden zu haben.
Doch wer sich dem Themenfeld von literarischer Seite annähern möchte, kann hier eine Perle entdecken.

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Veröffentlicht am 12.03.2020

So trostlos wie berauschend, so bedrückend wie überwältigend

Ich erwarte die Ankunft des Teufels
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Im Jahr 1901 schreibt die erst neunzehnjährige Mary MacLane ihre „Darstellung“, die damals für eine literarische Sensation sorgte. In Tagebuchform zelebriert sie ihr unsägliches Leiden: als Genie und Philosophin ...

Im Jahr 1901 schreibt die erst neunzehnjährige Mary MacLane ihre „Darstellung“, die damals für eine literarische Sensation sorgte. In Tagebuchform zelebriert sie ihr unsägliches Leiden: als Genie und Philosophin dazu verdammt zu sein, nichts weiter zu tun zu haben als zu warten. Also wartet sie. Nämlich auf die Ankunft des Teufels.
Die Gegend, die sie denkend und wahrnehmend durchstreift, ist öde und sandig. Das ist dem Kupferabbau geschuldet, der die Region um die Stadt Butte in Montana verbraucht und vergiftet hat. Beinahe macht es den Eindruck, als spiegele sich diese durch skrupellose Ausbeutung entstandene Landschaft in MacLanes Seele.
Provokant kokettiert sie mit dem Bösen in ihrem Charakter, bezeichnet sich als Lügnerin und Diebin, bekennt sich zu einer lesbischen Liebe und offenbart ihre mannigfachen Formen der Verachtung in Bezug auf beinahe alle übrigen Menschen. Bedingungslos möchte sie sich dem Teufel unterwerfen.
Dieses Anklagen, Jammern, Hadern über das Nichts, das sie umgibt, verbunden mit einer pathetischen Selbsterhöhung, beides in selten durchbrochenen Wiederholungen, könnte die Lektüre ziemlich unerfreulich gestalten. Wären da nicht die Originalität, der Mut, die kraftvolle Sprache und die faszinierenden Bilder. Immer geht es dabei um sie: ihre Spaziergänge, ihre Art, eine Olive zu essen, ihren jungen Frauenkörper, ihre Verliebtsein in die Anemonendame, ihr Verliebtsein in Napoleon. Ihre unendliche Müdigkeit, die Kälte ihrer Mutter, ihre Einsamkeit, ihre Sehnsucht nach Liebe. Sehnsucht nach Leidenschaft, die dem Streifen roten Himmels bei Sonnenuntergang entspricht.
So trostlos wie berauschend, so bedrückend wie überwältigend erscheint Marys Welt.
Das Nachwort der Lektorin Ann Cotten und ein Beitrag von Juliane Liebert mit informativen und wissenswerten Fakten zu Autorin und ihrem Kontext schenken diesem bedeutsamen, etwas anstrengenden Buch eine adäquate Bereicherung.

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