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Veröffentlicht am 04.05.2022

Plädoyer für intersektionalen feministischen Blick

Against White Feminism
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Wie kann ein Feminismus sich für die Geschlechtergerechtigkeit aller weiblich gelesenen Personen einsetzen? Welche internalisierten Rassismen und blinde Intersektionalitätsignoranz schränken diese Gleichberechtigung ...

Wie kann ein Feminismus sich für die Geschlechtergerechtigkeit aller weiblich gelesenen Personen einsetzen? Welche internalisierten Rassismen und blinde Intersektionalitätsignoranz schränken diese Gleichberechtigung ein? – Das versucht Autorin und Aktivistin Rafia Zakaria in ihrem Werk AGAINST WHITE FEMINISM. WIE WEISSER FEMINISMUS GLEICHBERECHTIGUNG VERHINDERT aufzudecken.

Intensives Sachbuch regt zur Reflexion eigener Privilegien an
Das Sachbuch ist nur knapp 250 Seiten lang und liegt leicht in der Hand: Die vielen zwischen Buchdeckel und -rücken verborgenen Informationen sind hingegen derart intensiv, dass sie meine Perspektive auf feministische Strukturen grundlegend veränderten. Dieses Buch regt ab der ersten Seite zur Reflexion eigener Privilegien und Wahrnehmungen an.

"Der Wandel, den wir brauchen, den der Feminismus braucht, ist ein Wandel im Wandel. Die Analyse, wo und wie dieser Wandel zu vollziehen ist, muss intersektional sein, sie muss race, Klasse und Gender berücksichtigen, und das Resultat muss sowohl umverteilend als auch anerkennend sein."
(Zakaria, Rafia: Against White Feminism. Wie weißer Feminismus Gleichberechtigung verhindert. München: hanserblau Verlag 2022, S. 222.)

Intersektionaler Blick ist für den Feminismus essenziell
Zakaria bietet durch die Einordnung des Feminismus in seinen historischen Kontext einen tiefen Einblick in die Entstehung weißer Vorherrschaft in revolutionären Bewegungen – Bewegungen, die ihre intersektionale Perspektive verlieren, indem sie „bloß“ einzelne Marginalisierungen unterdrücken wollen.

Sämtliche Ismen und internalisierte strukturelle Probleme sind miteinander verbunden. Dabei sei es – trotz der verlockenden Überwältigung durch Zusammenhalt – wichtig, Feminismus nicht als gemeinschaftliche Masse zu betrachten, die in ihren Erfahrungswerten übereinstimmt. Der Fokus sei in der Bewusstmachung von Unterschieden und Spaltungen zu suchen.

Ist ein gemeinsamer Kampf gegen das Patriarchat möglich?
Ist daher weibliche Solidarität – und somit ein gebündelter Kampf gegen das Patriarchat – möglich? Dieser berechtigten Frage widmet sich die Autorin in einer aufwühlenden und zugleich beruhigenden Intensität: Es gehe nicht darum, (weiße) Frauen aus der Bewegung herauszudrängen, sondern alle an den Tisch (zurück) zu holen. Und all diejenigen Strukturen zu zerschlagen, die das in den letzten Jahrhunderten verhindert haben.

"Es geht nicht darum, weiße Frauen aus dem Feminismus zu verdrängen; es geht darum, das «Weißsein» aus dem Feminismus zu verdrängen, in dem Sinne, dass Weißsein gleichbedeutend mit Herrschaft und Ausbeutung ist. Und dieses Ziel kann niemals ohne die Unterstützung weißer Frauen erreicht werden."
(Zakaria, Rafia: Against White Feminism. Wie weißer Feminismus Gleichberechtigung verhindert. München: hanserblau Verlag 2022, S. 209.)

Wütender Schreibstil, jedoch Eröffnung des Dialogs
Sie echauffiert sich überzeugend über die Aufdringlichkeit, mit der westliche Feministinnen dem Globalen Süden ihre (angeblich überlegenden) Werte überstülpten – und sie damit ihrer Entscheidungsfreiheit zu berauben, diese abzulehnen. Sie nimmt die Hypersexualisierung und Kapitalisierung des weiblichen Körpers auseinander. Sie erzürnt sich über fehlendes Problembewusstsein und fordert von ihren Leser*innen die Reflexion der eigenen Privilegien.

Ja, Rafia Zakaria ist deutlich frustriert – und dennoch schafft sie es jederzeit, den Dialog zu eröffnen und polarisierte Parteien zusammenzuführen. Ihr Schreibstil ist bissig, trifft punktgenau. Strukturelle (und somit oft schwammig formulierte) Probleme verdeutlicht sie anhand überzeugender und gut recherchierter Beispiele. Ein Buch, das mir so schnell nicht aus dem Gedächtnis verschwindet.

Fazit
AGAINST WHITE FEMINISM. WIE WEISSER FEMINISMUS GLEICHBERECHTIGUNG VERHINDERT ist ein überzeugendes Plädoyer für einen antirassistischen und intersektionalen Blick innerhalb des Feminismus.

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Veröffentlicht am 16.03.2021

Es ist Zeit, aufzuwachen und etwas zu bewegen!

Sie hat Bock
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Auch Frauen empfinden Lust und sollen das öffentlich kundtun dürfen, findet Autorin Katja Lewina. Mit „Sie hat Bock“ legt sie ein schlagfertiges Manifest feministischen Gedankengutes vor. Eine Rezension ...

Auch Frauen empfinden Lust und sollen das öffentlich kundtun dürfen, findet Autorin Katja Lewina. Mit „Sie hat Bock“ legt sie ein schlagfertiges Manifest feministischen Gedankengutes vor. Eine Rezension von Johannes Streb

„Sie hat Bock“: Legitimation der weiblichen Lust als Hauptaspekt
Kinder lachen auf, Jugendliche werden rot, Erwachsene schrecken zurück – die Offenheit gegenüber Sex ist hierzulande erschreckend gering. Vor allem Frauen dürften erschreckend wenig ihres sexuellen Bedürfnisses zeigen, so Lewina. Viele Sexualpartnerinnen seien bei Männern ein eindeutiges Anzeichen von Attraktivität und Sex-Appeal; Frauen hingegen würden hier wegen hurenartigen Verhaltens diskreditiert werden. Auch Frauen dürfen Lust empfinden und sie zeigen, das ist einer der zentralen Aspekte des vorliegenden Werks „Sie hat Bock“.

Lewina tritt in „Sie hat Bock“ für Selbstmündigkeit und Emanzipation ein
„Sie hat Bock“, das ist der kämpferische Titel eines mutigen Buchs, das versucht, tiefgreifende sexistische Überzeugungen aufzubrechen. Die Autorin tritt für weibliche Selbstmündigkeit ein, für Emanzipation von konservativen Konstrukten und für die Legitimation weiblicher Lust. Es ist menschlich, etwas zu wollen – und nicht nur gewollt zu werden.

Dabei kritisiert sie offen und nimmt kein Blatt vor den Mund. Trotz vieler Anzweiflungen und Negativberichte über die aktuelle Situation klingt ihre Argumentation nie gejammert: Lewina begründet ihre Argumente schlüssig und erklärt ihre Standpunkte anhand subjektiver Erlebnisse. Sie erhebt nicht den Anspruch, dass ihre Eindrücke verallgemeinert ebenso gelten.

Konstruktive Handlungsanweisungen statt ewiger Kritik
Ich bewundere den Mut der Autorin, sich über jahrelang festgefahrene gesellschaftliche Konfessionen hinwegzusetzen. Sie stellt eine offene, tolerante und aufgeklärte Gesellschaft als anstrebenswerte Vision in Aussicht, in der Sex kein Tabuthema und Frauen allumfassend gleichgestellt sind – und gibt dafür zahlreiche konstruktive Handlungsvorschläge, die wir alle umsetzen könnten, um dafür einzugestehen.

Der Aufbau des Buchs ist schlüssig; in zahlreichen kurzen Kapiteln sie beleuchtet viele verschiedene Aspekte, in denen feministische Denkweisen förderlich wirken könnten. Ihr Schreibstil reißt schnell mit. Sie schreibt sehr locker, das Lesen fühlt sich angenehm an, sie verzichtet (oftmals) auf eine unnötig derbe Ausdrucksweise. Trotz einer knappen Buchlänge von gerade einmal 220 Seiten doppelten sich einige Erkenntnisse; diese erzähltechnischen Längen hätten nicht sein müssen.

Unzählige Denkanstöße inspirieren
Für „Sie hat Bock“ möchte ich insgesamt eine unbedingte Leseempfehlung für jede
n aussprechen: Nicht nur für Frauen, die sich in ihrer Position bekräftigt fühlen, sondern auch für Männer und alle, die bereit sind, sich selbst zu ändern, um endlich eine Gleichberechtigung herzustellen. Katja Lewina gibt so viele Denkanstöße, dass mein gesamtes Buch voller Post-Its vollgeklebt ist. Außerdem führt sie einige Recherchequellen auf, die das weitere Einlesen in die Thematik ermöglichen.

Fazit
„Sie hat Bock“ ist ein überzeugendes Manifest über das weibliche Geschlecht – es ist Zeit, aufzuwachen und etwas zu bewegen. Inspirierendes Lesehighlight!

5/5 Sterne – Lesehighlight

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Veröffentlicht am 07.08.2020

Aufrüttelndes, schockierendes Buch, das unter die Haut geht.

Wer ist Edward Moon? - Gewinner des Deutschen Jugendliteraturpreises 2020
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Kennt ihr diese Bücher, die euch ganz unerwartet treffen und nicht mehr loslassen? Die euch schockieren, fesseln und zu Tränen rühren und ihr könnt Wochen, Monate danach noch immer nicht aufhören, an sie ...

Kennt ihr diese Bücher, die euch ganz unerwartet treffen und nicht mehr loslassen? Die euch schockieren, fesseln und zu Tränen rühren und ihr könnt Wochen, Monate danach noch immer nicht aufhören, an sie zu denken? Für mich ist "Wer ist Edward Moon?" so ein Buch: ich hatte während des Lesens Gänsehaut, spürte eine tiefe Traurigkeit in mir und fühlte mich von der Macht der Worte überwältigt. So möchte ich im Folgenden weniger den Anspruch einer Rezension erheben, sondern vielmehr dem Roman meine Liebe bekunden.


Einen ehemals vertrauten Bruder, der seit einem Jahrzehnt im Gefängnis sitzt und dessen Todesdatum bereits festgelegt ist, zum ersten Mal wieder zu besuchen, ist ein Grundszenario, das mich seit der ersten Seite gepackt hat. Dieser innere Zwang, jeden Moment maximal zu genießen, weil Zeit das einzige ist, worauf es jetzt noch ankommt, die sogar Konflikte und Uneinigkeiten überwindet, da sie für Ed bald abläuft, erzeugt im Lesepublikum eine derart klaustrophobische Wirkung, dass mir bei dem bloßen Gedanken an die geplante Hinrichtung das Herz höher schlug.


Joe tritt hier als äußerst glaubwürdiger Charakter auf, dessen Gefühlslage und düsteren Gedanken jederzeit verständlich sind. Seine Furcht, etwas falsch zu machen, vor der Wahrheit, vor dem Tag X, die daraus resultierende Wut und Resignation sind nahezu greifbar. Seine ehemalige starke brüderliche Verbindung zu Ed ist ein rührendes zentrales Motiv, das voller so viel Liebe steckt und zunehmend bitter in der Kehle stecken bleibt, wenn man realisiert, dass jede gemeinsame Sekunde gezählt ist. Das erzeugt eine beklemmende Atmosphäre, die sehr ungemütlich werden kann.


Geschickt verwebt die Autorin die Handlungsstränge der Gegenwart mit der Vergangenheit, um durch das persönliche Leben langsam das Mysterium um Edward Moon aufzuschlüsseln. Die Nebencharaktere, häufig aus dem engeren Familienkreis, sind ebenfalls gut ausgearbeitet und haben eigene Ecken und Kanten, eigene Fehler und eigene Hoffnungen, Träume.


Der vorliegende Roman wird in Versform wiedergegeben. Mit dieser geringen Wortanzahl reduziert sich die Autorin auf das Nötigste und schafft es, mich mit einem Satz, mit einem Wort derart ins Mark zu treffen, dass ich während der Lektüre im Bus Tränen vergießen musste. "Wer ist Edward Moon?" ist ein Musterbeispiel für die Kraft von Sprache, selbst mit wenigen Worten so viel auszulösen.


In diesem Buch wird dein Gerechtigkeitssinn vollkommen auf den Kopf gestellt und die zunehmende, langsam herankriechende Aussichtslosigkeit greift wie eine Klaue um dich, der du nicht entkommen kannst: Mit kritischer Bissigkeit hinterfragt die Autorin die Selbstlegitimation der texanischen Judikative. Der triste Schauort zeugt von einem Hoffnungsdefizit; ich werde so wütend wegen dieser befremdlichen Sinnlosigkeit, Menschen des stumpfen Rachegedankens und des Abschreckungswillens wegen das Leben zu nehmen.


«Wer ist Edward Moon?»
ist ein aufrüttelndes, schockierendes Buch, das unter die Haut geht und nicht mehr loslässt. Ich möchte eine uneingeschränkte Leseempfehlung aussprechen.

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Veröffentlicht am 14.07.2020

Melancholischer Roman, der Sommer in meiner Brust auslöst und mich an die wahre Liebe glauben lässt.

Call Me by Your Name Ruf mich bei deinem Namen
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Gibt es die eine wahre Liebe? Viele halten diese Vorstellung längst für überholt, kein Mensch binde sich ein Leben lang ohne Reue an einen anderen. Die Scheidungsrate ist über die letzten Jahrzehnte stark ...

Gibt es die eine wahre Liebe? Viele halten diese Vorstellung längst für überholt, kein Mensch binde sich ein Leben lang ohne Reue an einen anderen. Die Scheidungsrate ist über die letzten Jahrzehnte stark angestiegen; einige Liebespaare heiraten heutzutage nicht mal mehr, da sie eine Partnerschaft ohne steuerliche Vorteile als den größeren Beweis der Aufopferung füreinander erachten. Der US-amerikanische Schriftsteller André Aciman legt mit «Call Me By Your Name» ein beeindruckendes Plädoyer vor, in dem er das genaue Gegenteil beweist: Zwischen Elio und Oliver entwickelt sich eine besondere Beziehung, die die die beiden noch über ihren gemeinsamen Sommer in Italien hinaus fesseln wird.

Der Roman ist in einem herausragenden, wunderschönen Schreibstil wiedergegeben, der wahrhaftig romanisch ist, ohne zugleich kitschig zu sein. Über poetisch anmutende Formulierungen transportiert er die Liebe zur Musik, zur Literatur, der Kunst, aber auch zu sich selbst und anderen gegenüber; er stellt erholsame Sinnlichkeit und erzählerische Ruhe über klischeebehaftete Motive und Ideen. Es finden sich so tiefgründige Ansätze zwischen den Zeilen, dass man das Buch zwei-, drei-, viermal lesen müsste, um den vollständigen Umfang des Werkes zu erfassen.

Das Italien der 1980er ist ein atemberaubendes Szenario, das einen Kopfkino-Effekt auslöst und zum Träumen einlädt. Aciman erzählt so langsam und bedächtig, dass er sich wirklich Zeit für seine Charaktere nehmen und ihnen Profil geben kann. In der Ausarbeitung der Feinheiten beweist er, wie filigran er Beobachtungen darstellt. Er präsentiert zwei authentische Hauptfiguren, deren Verlangen nacheinander spürbar ist und die schnell einen Platz in meinem Herzen erobern konnten.

Dabei ist «Ruf mich bei deinem Namen» in jeder Faser ein progressiver Schritt in die richtige Richtung: Dieser homosexueller erotischer Roman kann als notwendiges Pendant zu dem ganzen heteronormativen New-Adult-Einheitsbrei gesehen werden, der zurzeit den Büchermarkt überschwemmt. Der Umgang von Elio mit seiner eigenen Sexualität ist inspirierend; er legt sich selbst kein Label auf, denn Liebe ist Liebe, und sexuelles Verlangen ist seit jeher unabhängig von Geschlechtern nur eins: ein von Grund auf menschliches Bedürfnis.

Die allmähliche Handlung verläuft in ein melancholisches, qualvoll langsames Ende, das wahrlich unter die Haut geht und die Leserschaft bedrückt und herzzerrissen zurücklässt. Durch die fehlenden Ortsbezeichnungen, nur eine Handvoll Bezüge zur technisch fortentwickelten Gesellschaft von heute und treffende Rückbezüge auf antike Werke erhält der vorliegende Roman einen zeitlosen Charakter. Ich möchte diesen Roman wirklich jedem ans Herz legen; es ist ein langsames, meditatives Buch, das sich als tiefgreifende und besondere Sommerlektüre begreifen und dich in emotionalem Chaos zurück lässt.


«Call Me By Your Name»
ist ein melancholischer Roman, der Sommer in meiner Brust auslöst und mich an die wahre Liebe glauben lässt. Ich kann mir gut vorstellen und wünsche mir, dass er in nur wenigen Jahren bereits als Literaturklassiker gilt.

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Veröffentlicht am 02.04.2020

Dieses Buch ist etwas Außergewöhnliches, Ergreifendes, noch nicht Dagewesenes – unbedingt lesen!

Marianengraben
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Die deutsche Autorin Jasmin Schreiber ist, wie man ihrer Autorenbeschreibung im Schutzumschlag entnehmen kann, nicht nur studierte Biologin, sondern auch als leidenschaftliche Bloggerin unter dem Namen ...

Die deutsche Autorin Jasmin Schreiber ist, wie man ihrer Autorenbeschreibung im Schutzumschlag entnehmen kann, nicht nur studierte Biologin, sondern auch als leidenschaftliche Bloggerin unter dem Namen "LaVieVagabonde" und ehrenamtlich als Sterbebegleiterin tätig. Mit "Marianengraben" präsentiert sie uns ihren erst kürzlich erschienenen Debütroman. Welche Erwartungen an die geübte Schreiberin kann er erfüllen?


Bereits die wunderschöne Aufmachung und der überzeugende Klappentext konnten in mir starkes Interesse wecken. Dass die Autorin einige biographische Elemente in ihr Werk mit einfließen lässt, steigert den Authenzitätsgrad deutlich. "Marinengraben" setzt sich schonungslos mit emotional brutalen Thematiken wie dem Tod, Ansprüche an das eigene Leben und die den Menschen nach einem Verlust verfolgende Schuldfrage auseinander; zudem ist die Protagonistin eine promovierende Biologin.

Das vorliegende Buch ist, und das möchte ich hier bereits vorwegnehmen, bereits jetzt ein würdiges Jahreshighlight für mich – und dies liegt an vielen Aspekten, die "Marianengraben" für mich außergewöhnlich machen. Diese Geschichte fühlt sich an wie etwas Besonderes, das in dieser Kombination außergewöhnlich und neu ist.

Die Ausarbeitung der Figuren ist Jasmin Schreiber wunderbar gelungen. Paula und Helmut sind zwei authentische Personen, die mitsamt ihren Eigen- und Besonderheiten geschildert und durch ihre bewegenden Hintergrundgeschichten ausgeleuchtet werden. Sie fügen sich nicht in das Konstrukt austauschbarer, blass bleibender Charaktere ein (wie es in heutiger Literatur immer öfter der Fall ist), sondern etablieren sich als liebenswerte, erfrischend unterschiedliche Figuren.

Der Roman ist eine abstruse Mixtur aus skurrilen Zusammenkünften und kuriosen Zufällen, die in eine handlungstechnische Entwicklung münden, die ich so noch nicht erlebt habe und in jeder Hinsicht progressiv und originell ist. Die zwei unterschiedlichen aufeinanderprallenden Zeitebenen und weltanschaulichen Geisteshaltungen von Helmut und Paula fügen sich zu einem oftmals ungewollt komischen und zugleich tiefgründigen Ganzen, das zu keiner Zeit langatmig wird, sondern die Leserinnen ab der ersten Seite auf eine emotionale Achterbahnfahrt mitreißt.

Der Umgang mit den bereits genannten, ernsten Thematiken wirkt zwischen all den lustigen, entlastenden Elementen behutsam und ehrlich. Die Autorin schenkt Kraft und Mut zum Wiederaufrappeln, Weitermachen, Weiterleben, lässt aber genügend Raum für eine klare Daseinsberechtigung von Trauer und Schmerz.

"Marianengraben" ist ein abwechslungsreicher, unvorhersehbarer Roadtrip mit knuffigen Wendungen und traumhaften Kulissen. Jasmin Schreiber zeigt, was für eine fabelhafte Erzählerin sie ist, indem sie teils amüsant, teils poetisch anmutend und berührend schreibt, dass die Leser
in einen wahren, zuschnürenden Kloß im Hals bekommt und den Tränen nah ist.

Aber ist es doch die aufopfernde, alles aufbrauchende Liebe und der Umgang mit dem eigenen Verlust der Hauptfiguren, was mich am meisten ergriffen hat. Die eingeschobenen Szenen, in denen Paula in Erinnerungen an ihren Bruder schwelgt, setzen sich collagenartig zu einem erfüllenden Person über eine Person zusammen, die "nur" noch im Herzen existiert und dort nach Fischen und Krabben sucht. Helmut und seiner ungeheuren emotionalen Stärke, die er nicht nur selbst aufzubringen, sondern auch an Paula weiterzuschenken weiß, erweise ich größten Respekt.


"Marianengraben"
ist etwas Außergewöhnliches, Ergreifendes, noch nicht Dagewesenes – unbedingt lesen!

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