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Veröffentlicht am 26.05.2020

Fake Facts

Fake Facts
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"Fake Facts" ist thematisch höchst aktuell. Bevor ich meinen Facebook-Account im März löschte, sind mir immer wieder merkwürdige Beiträge von Bekannten und sogar Verwandten augefallen, die mir ein mulmiges ...

"Fake Facts" ist thematisch höchst aktuell. Bevor ich meinen Facebook-Account im März löschte, sind mir immer wieder merkwürdige Beiträge von Bekannten und sogar Verwandten augefallen, die mir ein mulmiges Gefühl bereitet haben.

Verschwörungstheorien scheinen in der Mitte der Gesellschaft angekommen zu sein. Und sie ebnen häufig den Weg zur politischen und privaten Radikalisierung.

Das Thema treibt mich um, interessiert mich und macht mir Angst. Schon alleine deshalb war ich sehr gespannt auf dieses Buch. Wer hier jedoch ein bloßes Eindreschen auf "Aluhutträger" erwartet, sollte weiter suchen. Gleich zu Beginn wird klargestellt, dass eine Debatte von oben herab nichts bringt und dass wir alle eine mehr oder weniger ausgeprägte Verschwörungsmentalität haben. Das muss nichts Schlechtes sein, denn natürlich hat es in der Geschichte der Menschheit immer mal wieder tatsächliche Verschwörungen gegeben, die aufgedeckt wurden. Und blindes, kritikloses Vertrauen in alles und jeden funktioniert eben auch nicht. So gibt es gleich zur Einstimmung erstmal einen kleinen Test, mit dem man seinen eigenen "Verschwörungswert" herausfinden kann.

Richtig los geht es dann mit nach Kapiteln aufgeteilten Bereichen, bei denen es besonders häufig zu Verschwörungserzählungen kommt. So geht es um den Tod bekannter Persönlichkeiten, Terroranschläge, Krankheiten, das Gesundheitswesen, Antisemitismus, die flache Erde etc. Dabei gibt es Erklärungen: woran wird geglaubt, wo kommt das her und wer ist da überdurchschnittlich häufig anfällig?

Viele dieser Erzählungen kenne ich als Person, die täglich das Internet nutzt natürlich. Trotzdem war auch einiges dabei, was mich ein wenig überrascht hat. Dass es doch so viel zu Prinzessin Diana gibt, war mir gar nicht so bewusst.

Die größte Überraschung war für mich aber, wie sehr Esoterik und rechte Ideologie zusammenhängen. Ich glaube, grade als Frau wird man ja früher oder später mit diesem Kram konfrontiert. Als Jugendliche hatte ich ein Pendel, das als Extra in einer Mädchenzeitschrift daherkam. Damals war ich großer "Charmed"-Fan und es gab unfassbar viele "Hexenbücher", die von ProSieben zur Serie vermarktet wurden und die ich geschenkt bekam. Mein 15-jähriges Ich hat das alles ziemlich ernst genommen. Zum Glück bin ich dem entwachsen und Kartenlegen ist für mich heute nur noch ein lustiger Partygag. Trotzdem hätte ich bis vor einiger Zeit noch naiv gesagt, dass diese Szene recht friedlich, offen und freundlich ist. Ohne Zweifel kann sie das in Teilen auch sein, dennoch scheint dort sehr viel Potenzial für Menschenfeindlichkeit zu stecken. Die Autorinnen berichten von ihrem Besuch auf einer Esoterik-Messe und ich war wirklich baff über die homophoben, sexistischen, rassistischen und einfach nur menschenfeindlichen Weltbilder, die es dort gibt. Dazu wird der Ursprung esoterischer Glaubensrichtungen etwas aufgedröselt und die Verbindung zur rechten Szene erläutert, was ich zwar interessant, aber auch super erschreckend fand. Und natürlich sollte man nie vergessen, dass es bei all dem eben auch einfach ums Geld geht. Die bieten dort ihre Heilsteine, Energiewasser, Heilung durch Handauflegen und was nichts alles ja nicht aus reiner Nächstenliebe, sondern verkaufen ihr Zeug zu teilweise horrenden Preisen. Mit Angst lässt sich halt gut Kassen machen

Zu Linken und Verschwörungserzählungen gibt es natürlich auch ein Kapitel, wobei das Problem dort aber wesentlich kleiner zu sein scheint.

Weiter hinten bekommen wir dann ein paar Tipps, wie damit umzugehen ist, wenn jemand aus dem eigenen Umfeld abdriftet. Leider ist es sehr anstrengend und oft auch fruchtlos, da zu diskutieren. Die Autorinnen plädieren für Geduld und machen deutlich, dass das Runterrattern von Fakten wohl eher nichts bringt. Sie sehen das Gegenhalten aber als Zivilcourage und ja, ich stimme zum Teil auch zu. Grade bei jeglicher Form der Menschenfeindlichkeit sollte man nicht still sein. Allerdings fehlte mir hier die Möglichkeit, es auch einfach gut sein zu lassen und notfalls den Kontakt abzubrechen. Denn es kostet wahnsinnig viel Zeit, Kraft und Energie mit diesen Menschen zu diskutieren und sie dabei wie rohe Eier oder scheue Rehe zu behandeln. All das kann auch zur Folge haben, dass man selbst angegriffen und beleidigt wird - auch von Familienmitgliedern. Die Option, sich da rausziehen zu können, sollte man dann schon haben.

Glücklicherweise machen die Autorinnen im nächsten Abschnitt nochmal deutlich, dass Menschen, die an Verschwörungserzählungen glauben, eben nicht nur bloße Opfer sind und dass ihre Haltung super gefährlich werden kann.

Alles in allem ein sehr interessantes Buch, das nochmal einige Denkanstöße mitgibt und sehr angenehm flüssig zu lesen ist. Mir hat es richtig gut gefallen.

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Veröffentlicht am 03.05.2020

How Not to Diet

How Not to Diet
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Ich interessiere mich ja sehr für Ernährung, vor allem deshalb, weil ich chronisch krank bin und gemerkt habe, dass es mir besser geht, wenn ich nicht nur Müll in mich hinein stopfe.

Leider bin ich mit ...

Ich interessiere mich ja sehr für Ernährung, vor allem deshalb, weil ich chronisch krank bin und gemerkt habe, dass es mir besser geht, wenn ich nicht nur Müll in mich hinein stopfe.

Leider bin ich mit den meisten Ratgebern nicht zufrieden, denn oft steht nur eine Ernährungsform im Vordergrund, die angepriesen und als einzig wahre Lösung verkauft wird. Deren Jünger:innen springen dann auf alle, die eine andere Meinung vertreten.

Mein letzter Ausflug ging in Richtung intuitives Essen, was ich weiterhin nicht schlecht finde. Das dazugehörige Buch hat mich aber leider überhaupt nicht überzeugt. Vor allem der offensichtliche Versuch, ordentlich Geld mit Programmen und Produkten zu scheffeln, hat mich abgeschreckt. Umso schöner, dass Greger das Geld, das er mit seinen Büchern einnimmt, komplett spendet!

"How Not to Diet" ist ein ganz schön dicker Wälzer geworden. Der Autor liefert wahnsinnig viele Infos, rattert eine Studie nach der anderen runter, wirft mit Fachbegriffen um sich und geht verschiedene Diätformen und deren Nutzen durch.

Anfangs geht es viel um den Schrott, den wir so essen. Dabei wird sich hauptsächlich auf die erschreckende Ernährungssituation in den USA bezogen, aber auch bei uns gibt es Nachholbedarf, was Zucker-, Salz- und Fettmengen angeht.

Interessant finde ich, dass Greger sehr scharf gegen die Lebensmittelindustrie schießt, die ja darauf angewiesen ist, dass Menschen immer mehr essen, damit sich die Gewinne stetig steigern. Er bezeichnet Übergewicht als normale Reaktion des Körpers auf eine unnormale Welt. Denn früher war noch nicht abzusehen, dass man einen fertigen Kuchenriegel ohne großen Aufwand einfach so jederzeit kaufen kann - und der Körper sucht nun mal automatisch nach kalorienreichen Lebensmitteln. Der Autor nimmt die Schuld und den Druck vom Einzelnen und sieht unter anderem auch das System kritisch und die Regierung in der Pflicht.

Die Tipps zur gesunden Ernährung haben mir gefallen, auch wenn natürlich manches - wie z.B. viel Gemüse - klar sein sollte. Es werden aber auch Superfoods wie Chia- und Leinsamen unter die Lupe genommen.

Spannend ist sicher für viele auch, dass beim Essen nicht nur das Was, sondern auch das Wie und sogar das Wann zählen. Von Chronobiologie hatte ich tatsächlich noch nichts gehört!

Ernährung ist eben am Ende wahnsinnig kompliziert und wir lernen immer wieder Neues dazu.

"How Not to Diet" liefert den aktuellen wissenschaftlichen Stand und ist auf jeden Fall empfehlenswert.

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Veröffentlicht am 23.03.2020

Großartig

Miracle Creek
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Es wäre falsch zu behaupten, dass mich "Miracle Creek" von der ersten Seite an gefesselt hat. Tatsächlich brauchte ich erstmal ein kleines bisschen, um wirklich reinzukommen.

Aber dann!

Die Geschichte ...

Es wäre falsch zu behaupten, dass mich "Miracle Creek" von der ersten Seite an gefesselt hat. Tatsächlich brauchte ich erstmal ein kleines bisschen, um wirklich reinzukommen.

Aber dann!

Die Geschichte spielt in den späten 00er Jahren, hauptsächlich während und um einen Mordprozess. Angeklagt ist Elizabeth, die Opfer sind ihr Sohn Henry und ihre Bekannte Kitt. Die Beweise sind erdrückend, aber hat eine Mutter wirklich kaltblütig ihr Kind ermordet?

Das Buch beginnt mit dem verhängnisvollen Tag und springt dann ein Jahr in die Zukunft zur Hauptverhandlung. Erzählt wird alles aus der Sicht vieler verschiedener Charaktere (in der dritten Person), was mich anfangs etwas verwirrt hat. Es dauert ein bisschen, bis man begreift, was passiert ist und wer all diese Menschen sind. Dran bleiben lohnt sich aber sehr, denn es wird schnell spannend.

Angie Kim ist eine talentierte Autorin und schafft es, ihren Charakteren Leben einzuhauchen. Alle haben etwas zu verbergen, niemand ist perfekt. Im Wechsel hat man Verständnis, Mitleid und wird dann doch wütend. Ich wusste fast nie, ob ich eine Person nun mag oder eben doch nicht.

Es gibt die Yoons, eine Familie, die aus Korea eingewandert ist. Young und ihre Teenie-Tochter Mary sind für deren Ausbildung zuerst in die USA gezogen, Vater Pak kam später nach. Der bietet nun eine Sauerstofftherapie an, die z.B. Kindern mit Autismus helfen soll. Elizabeth und ihr Sohn nehmen die Therapie in Anspruch, genauso wie Kitt mit ihrem Sohn TJ, Teresa mit ihrer schwerbehinderten Tochter Rosa und Matt, dessen Frau schwanger werden will und der sich eine Verbesserung der Leistung seiner Spermien erhofft. Durch Brandstiftung explodiert einer der Tanks und das kostet zwei Menschenleben.

Es werden im Laufe der Handlung viele Themen angesprochen, neben Autismus z.B. der Sexismus der koreanischen Gesellschaft und innerhalb der Familie, die Probleme, die das Auswandern und das Lernen einer neuen Sprache mit sich bringen, Rassismus und Fetischisierung etc. Die Autorin schafft das sensibel und glaubwürdig.

Sie fängt die Anspannung der Mütter von autistischen Kindern perfekt ein, ihren Kampf, ihre Aufopferung, aber auch ihre Verzweiflung und Überforderung, den Wunsch, dass alles ganz anders wäre, gefolgt vom schlechten Gewissen. Ich konnte Elizabeth, die ja eigentlich als Mörderin im Gerichtssal sitzt, von Anfang an verstehen und am Ende habe ich bei ihrem Part sogar Tränen verdrückt. Ich! Das passiert mit wirklich nicht oft. Mein Herz verloren habe ich an Henry, der zu Beginn stirbt und somit gar nicht mehr richtig auftaucht. Aber allein die kleinen Erzählungen und Rückblenden habe ausgereicht, um ihn mir näherzubringen.

Ebenso realistisch zeichnet Kim die koreanischen Familienverhältnisse, z.B. den Vater, der eigentlich das Oberhaupt sein sollte, aber Probleme mit der neuen Sprache hat und sich deshalb wie ein Idiot fühlt. Auch wenn mir Pak ansonsten nicht der Sympathischste war, konnte ich das doch nachvollziehen. Young hadert mit den Rollenbildern in ihrer Familie und mit ihrem nicht sehr liebevollen Ehemann, bringt aber lange nicht den Mut auf, mal laut zu werden und für sich einzustehen. Damit verliert sie ein bisschen die Achtung ihrer Tochter.

Janine, die Ehefrau von Matt, fragt sich an einer Stelle, ob ihr Mann einen Fetisch für asiatische Frauen hat, bemerkt aber gleichzeitig auch, dass man Männern, die auf Blondinen stehen, niemals einen Fetisch vorwerfen würde – oder ihr, die auch eher auf weiße Männer steht. Sie fühlt sich unwohl damit, als "exotisch" oder sogar als "perverse Fantasie" wahrgenommen zuwerden. Ich war total positiv überrascht, dass so etwas im Buch Erwähnung findet, weil ich da auch schon mit Bekannten drüber gesprochen habe (dabei ging es darum, dass "asiatisch" ja sogar eine eigene Pornokategorie ist, "europäisch" aber eher nicht... ebenso wie "lesbisch" häufig auf der regulären Hetero-Seite zu finden ist, "schwul" aber eine ganz eigene Seite inklusive Regenbogenbanner bekommt).

Matt selbst war der Einzige, mit dem ich meine Schwierigkeiten hatte und mit dem ich einfach so gar nicht warm wurde. Dafür gibt es einen bestimmten Grund, der aber leider ein ziemlicher Spoiler wäre... auch wenn es mich in den Fingern juckt, dazu ausführlicher zu werden. :P

Es gibt noch eine Gruppe Therapie-Gegnerinnen, die auch kurz im Verdacht stehen, da etwas gedreht zu haben, da sie häufig ziemlich aggressiv auftreten. Als Demonstrantinnen stehen sie mit Schildern vor jeder Sitzung draußen und belästigen die Patient:innen. Sie behaupten, all diese Behandlungen seien Kindesmisshandlung und man solle die Kinder so sein lassen, wie sei eben sind. Bei diesen Frauen hatte ich sofort die Assoziation zu den fanatischen Abtreibungsgegner:innen im Kopf und tatsächlich wird diese Brücke im Buch selbst auch geschlagen.

Generell wusste ich bisher erschreckend wenig über Autismus und Therapiemöglichkeiten, deshalb war das alles für mich hochinteressant. Das Buch wirft Fragen auf: Wie "normal" soll ein Kind sein? Welche Therapien sind sinnvoll und was ist zu viel? Wann verlieren Eltern die Kontrolle und sehen nicht mehr, dass ihr Kind doch schon großartig ist - und wann braucht es eben doch Behandlungen, weil es sonst leidet?

"Miracle Creek" ist wirklich ein wundervollen Buch, spannend, aufschlussreich, mit vielen Denkanstößen und Twist am Ende... und noch dazu absolut großartig geschrieben! Dicke Leseempfehlung!

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Veröffentlicht am 09.08.2019

Toll!

Witchmark. World Fantasy Award für den besten Fantasy-Roman des Jahres 2019
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Ich freue mich ja über jedes bisschen Fantasy, das von gängigen Klischees abweicht und stattdessen frisch und kreativ auf Neues setzt.
Denn wenn ich eins nicht mehr lesen kann, dann ist das die Geschichte ...

Ich freue mich ja über jedes bisschen Fantasy, das von gängigen Klischees abweicht und stattdessen frisch und kreativ auf Neues setzt.
Denn wenn ich eins nicht mehr lesen kann, dann ist das die Geschichte der immer gleichen Welt mit immer gleichen Strukturen und Figuren. Speziell in der High-Fantasy, Tolkien lässt grüßen.
Das Genre bietet eigentlich die Möglichkeit der Grenzenlosigkeit, in der Fantasy kann man praktisch alles machen. Darum ärgert mich dieses enge Korsett, das viele Geschichten zusammenschnürt, so sehr.
In den 80ern gab es schon einige Autorinnen, die frischen Wind ins Genre brachten (Ursula K. Le Guin und Lynn Flewelling z.B.) und heutzutage gibt es auch wieder einen kleinen Ruck.

Witchmark ist eine Story, die ich so noch nie gelesen habe. Sie scheint in den 20ern zu spielen - allerdings in einer Alternativwelt, die einige Unterschiede zu unserer aufweist.
Miles Singer ist Arzt und versucht, sich bedeckt zu halten, denn er ist ein "Gesternter", der nicht gebunden werden und als Sekundär leben will.
Genau das passiert nämlich mit den meisten seiner Art, sie werden von Sturmsängern gebunden, die sich ihrer Magie bedienen.
Miles möchte frei sein und das war etwas, das mich an diesem Buch sehr berührt hat. Seine Angst ging mir nahe, seine Verzweiflung war spürbar, die Beklemmung nachvollziehbar.
Als vor seinen Augen ein anderer Hexer stirbt, ihm sein Zeichen überträgt und behauptet, vergiftet worden zu sein, versucht Miles den Mord gemeinsam mit dem geheimnisvollen und schönen Amaranthine Tristan aufzuklären - und stößt dabei auf weit mehr, als er hätte ahnen können.

Witchmark ist eine interessante Mischung aus Fantasy, etwas Steampunk, 20er-Jahre-Krimi und Tim Burton Atmosphäre, mit spannenden Momenten, solidem World-Building und sympathischen Charakteren.

Miles gefiel mir, sein Freiheitsdrang ist nachvollziehbar, seine Unsicherheiten sind es auch. Er weiß, was er will, ist in bestimmten Situationen jedoch schüchtern und hat kein Problem damit, zu seiner Angst zu stehen.
Sein größter Wunsch ist (neben seiner Freiheit) das Heilen und er lebt so, dass er diesem gerecht werden kann.
Der geheimnisvolle Tristan ist freundlich und verständnisvoll. Die zarte Liebe zwischen den beiden Männern ist eine weitere willkommene Abwechslung im Genre.
Ich habe es ja schon oft gesagt, aber ich tue es gerne wieder: ich freue mich, dass immer mehr Geschichten mit so einer selbstverständlichen Darstellung von LGBT+ Charakteren den Einzug auf den deutschen Buchmarkt finden.
Deutschsprachige Autorinnen und Autoren hängen da leider noch sehr hinterher und abseits von Nischen mit dicken Warnlabels findet so etwas hier nicht statt.
(Übrigens: im zweiten Band, der leider auf englisch erst 2020 erscheint, wird es um Miles' Schwester gehen und ein f/f Pairing geben, ich freue mich so!)

Die Art und Weise, wie Magie hier beschrieben und angewandt wird, erinnerte mich manchmal ein bisschen an die Bücher von Diana Wynne Jones, die zu meinen Lieblingsautorinnen gehört... darum hat mir auch das sehr gefallen.
Über allem hängt in dieser Story der Krieg. Er verändert die Menschen und die Soldaten, die zurückkehren, haben eine seltsame dunkelrote Wolke in ihrem Kopf, die sie von Gewalt fantasieren lässt.
Ein weiteres Geheimnis, dem Miles und Tristan auf der Spur sind.

Die Übersetzung ist im Schreibstil etwas holprig. Da ich die englische Version ebenfalls gelesen habe, habe ich sozusagen den direkten Vergleich.
Außerdem gab es da wohl ein paar Schwierigkeiten, zum einen mit der typischen Duzen-oder-Siezen-Frage (wurde hier gut gelöst) und zum anderen mit dem englischen "they", das ja auch benutzt wird, wenn man nicht weiß, ob es sich um eine männliche oder weibliche Person handelt. Im Deutschen gibt es das nicht und hier wurde einfach die Mehrzahl übersetzt, was etwas verwirrend ist.
Trotzdem tut das der spannenden Story keinen großen Abbruch und ich bin nach wie vor begeistert davon!

Übrigens ist das Cover nicht nur vom Motiv her wunderschön, sondern Teilelemente leuchten auch ganz dezent weiß im Dunkeln. So wie die Sterne, die man sich früher über's Bett geklebt hat. Ein sehr schönes Detail, wie ich finde.

Zum Abschluss der Rezi lasse ich nun, als Radlerin, mal noch mein Lieblingszitat da:

"Wirklich erfrischend", sagte er. "Ein Gewinn, das Fahrrad."

Wahrlich! :)

Veröffentlicht am 09.08.2019

Super!

Schamlos
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Erstmal danke an den Verlag für das Rezensionsexemplar.
Es hat mich sehr gefreut, ein Buch von drei solch bemerkenswerten jungen Frauen lesen zu dürfen.
Es kostet sicher eine Menge Mut, so ehrlich und, ...

Erstmal danke an den Verlag für das Rezensionsexemplar.
Es hat mich sehr gefreut, ein Buch von drei solch bemerkenswerten jungen Frauen lesen zu dürfen.
Es kostet sicher eine Menge Mut, so ehrlich und, ja, auch schamlos zu sein.

Machen wir uns nichts vor: der Islam ist, wie alle Religionen, zutiefst patriarchal. Dennoch ist der Glaube für viele Frauen auf der Welt enorm wichtig und ich finde es gut, dass Dinge von der jüngeren Generation hinterfragt oder anders interpretiert werden.
Dass sich Glaube und Emanzipation nicht ausschließen müssen gefällt mir, auch wenn ich nicht religiös bin.

Eines der heißen Pflaster im Feminismus ist ja das Bedecken des Kopfes, es geht also um Kleidungsstücke wie den Hidschab.
Klar werden Frauen in bestimmten Ländern dazu gezwungen, sich zu bedecken. Die Lösung kann aber nicht sein, es Frauen zu verbieten, die es freiwillig tun, denn das ist eben auch nicht besser.
Im Buch wird ein Tweet von Omar Sakr zitiert, der mir dazu richtig gut gefällt und den ich hier unbedingt nochmal stehen haben will:

Women in the Middle East attacked
for not wearing hijab
Women in the West attacked
for wearing hijab
It's almost like women aren't the problem.

Ich finde, das trifft es ziemlich gut.
Mich bedrücken Geschichten von Frauen, die den Hidschab ablegen und dafür eingesperrt werden genauso sehr, wie die Geschichte vom Mädchen, dem eine Horde Jungs versuchen die Bedeckung vom Kopf zu reißen.
Beides ist widerlich, beides ist übergriffig, beides ist beschränkend, beides ist frauenfeindlich!
Ich finde die Position der drei Autorinnen hier übrigens super.
Sie sagen "hey, trag was dir gefällt und auch den Hidschab wenn du möchtest, aber bedenke, dass dich das nicht zum makellosen Engel oder Unschuldslamm macht und du dadurch auch nicht besser bist als Nicht-Hidschabis".
Und es wird klar und deutlich gesagt, dass es nicht vor Übergriffen und Vergewaltigungen schützt, sich zu bedecken, denn natürlich passieren diese schlimmen Dinge überall und können jeden Menschen treffen - ganz unabhängig davon, wieviel Stoff man grade am Körper trägt.

Beeindruckend finde ich außerdem, dass die Autorinnen ziemlich reflektiert wirken und ehrlich zu sich selbst sind. Sie ignorieren ihre Sozialisierung nicht und geben offen zu, dass ihnen Dinge wie beispielsweise im Bikini schwimmen oder ohne Kopfbedeckung aus dem Haus gehen schwer fallen - trotz Feminismus und trotz ihrer lauten Forderung nach Frauenrechten.

Angefeindet werden sie bei allem interessanterweise von zwei Seiten:
Die einen rufen, sie sollen sich in ihr Land verpissen, die anderen, sie wären zu verwestlicht und keine anständigen Muslimas.
"Für die einen sind wir zu norwegisch, für die anderen nicht norwegisch genug."
Ich kann mir dieses fürchterliche Gefühl nirgends richtig dazuzugehören nur vorstellen, aber es muss schrecklich sein.

Spannend war für mich, dass wir trotz aller Unterschiede ähnliche Erfahrungen in der Jugend gemacht haben, zum Beispiel beim Schwimmen. Auch ich habe irgendwann angefangen Shorts zu tragen und mit T-Shirt ins Wasser zu gehen, allerdings nicht, weil mich jemand attraktiv finden könnte und ich nicht die Aufmerksamkeit einer männlichen Person erregen wollte, sondern weil ich Angst hatte, nicht attraktiv genug zu sein.
Diese Phase ging irgendwann vorbei, trotzdem zeigt sie mir bis heute, dass wir alle unsere Fesseln haben, auf die eine oder andere Weise.

Ein bisschen mit Bauchschmerzen habe ich die Stellen über Familie und die Ungleichbehandlung von Mädchen und Jungen gelesen.
Bei "uns" im Westen gibt es noch eine Light-Version davon. Auch hier haben Söhne mehr Möglichkeiten, als Töchter.
Wörter wie "Schlampe", "Nutte" und "Hure", die einen deutlichen Bezug zu Sexualität und damit verknüpfter "Ehre" haben, sind auch bei uns (trotz eigentlichem generischen Maskulinum) feminin und werden fast ausschließlich für Frauen und Mädchen benutzt.
Für Jungs und Männer gibt es nichts Vergleichbares, die beliebteste Beleidigung ist "Hurensohn" - wobei da auch wieder eine Frau, die Mutter des Angesprochenen, als Hure beleidigt wird.
Dennoch beschreiben die drei Autorinnen auch Einschränkungen für Jungs und generell scheint die Kontrolle in muslimischen (oder vermutlich allgemein stark religiösen) Familien wahnsinnig hoch zu sein.
"Das ist eine ziemlich harte Macho-Kultur.", heißt es da. "Da ist nicht viel Raum für Gefühle und so was."
Ich persönlich wäre an so einem Teenie-Leben mit starken Einschränkungen, engen Regeln und einem völlig diffusen Ehrbegriff kaputt gegangen.

Ein großer Nachteil bei Religionen scheint die Abkehr von Wissenschaft zu sein. Psychische Erkrankungen werden z.B. mit "bete einfach mehr" abgetan, Depressionen mit Faulheit erklärt. Homosexualität, völlig normal im Menschen- und Tierreich, wird zur Sünde.
Aufklärung läuft komplett falsch, Jungfräulichkeit wird glorifiziert, Biologie wird nicht beachtet.
(Schönes Zitat hierzu:
"Heute weiß ich, dass das Jungfernhäutchen einfach eine elastische Schleimhautfalte ist, die noch nicht einmal alle Frauen haben, und niemand kann beweisen, dass ein Mädchen keine »Jungfrau« mehr ist, nicht einmal ein Arzt.")
Das ist schrecklich und ich kann bis heute nicht begreifen, wie man bewiesene Tatsachen ignorieren oder gar leugnen kann, um dann an etwas unbewiesenes und so abstraktes wie einen Gott zu glauben.

Abgesehen vom Inhalt hat das Buch auch eine sehr schöne Aufmachung. Es gibt neben den Gesprächen und Geschichten jede Menge Fotos, Zeichnungen und kleine Briefe, die die Autorinnen an ihr jüngeres Ich schreiben.
Mir hat alles ausgesprochen gut gefallen, einiges war mal wieder ein kleiner Augenöffner. Klare Leseempfehlung!

(Übrigens wundert es mich gar nicht, dass die norwegische Kultserie SKAM so oft erwähnt wird. Die ist ja auch toll und hat wahnsinnig starke Charaktere - nicht nur die Muslima Sana, sondern alle! (Die deutsche Adaption der Serie ist leider nicht so geil, das ist aber mein persönlicher Geschmack))