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Veröffentlicht am 21.11.2020

Über Schwabbelbäuche und Lebenslügen..

War’s das jetzt?
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„Ganz ehrlich. Heiraten heißt nicht, dass man glücklich ist. Besonders, wenn man plötzlich einfach denjenigen heiratet, mit dem man mit dreißig eben zusammen ist, nur weil es alle anderen auch tun." [S. ...

„Ganz ehrlich. Heiraten heißt nicht, dass man glücklich ist. Besonders, wenn man plötzlich einfach denjenigen heiratet, mit dem man mit dreißig eben zusammen ist, nur weil es alle anderen auch tun." [S. 46]

Tori Bailey ist auf dem besten Weg eine mustergültige, von der Gesellschaft anerkannte 30+ Frau zu werden: sie ist erfolgreich in ihrem Job, hat eine langjährige Beziehung mit einem gutaussehenden Mann, einen tollen Freundes- und Familienkreis und ist eine "große Nummer" bei Instagram und Co. Einziges Problem: der Mann will nicht. Weder heiraten, noch Kinder in die Welt setzen. Aber darauf kommt es im Leben letztlich doch an oder etwa nicht?

So "locker-flockig" wie sich das im ersten Moment anhört, ist das Buch bei Weitem nicht. Unsere liebe Tori muss einige tiefe Täler durchschreiten und durch viel Brackwasser waten bevor sich das berühmt berüchtigte Licht am Ende des Tunnels zeigt.
Ich persönlich mag solche Bücher, kann aber sehr gut verstehen wenn Leute schreiben, dass ihnen das Buch zu realistisch war oder bestimmte Inhalte sie "runtergezogen" haben. Auch mit Holly Bournes kritischem Blick auf "social media" wird sich der ein oder andere sicherlich schwertun, weil es zwar realitätsnah, stellenweise eben auch sehr überberspitzt dargestellt wurde.

„Ich drücke auf Veröffentlichen und lasse mich ins nasse Gras sinken, warte auf die ersten Likes. Darauf, dass mein Handy zum Leben erwacht. Mir gefällt, wie ich auf diesem Foto aussehe. Ich mag, wie diese Tori ist. Diese Tori hat Freundinnen und ein Leben, und sie schert sich um nichts, und sie hat Spaß, und wünschst du dir nicht, du könntest sie sein?“ [S. 61]

Mich hat das Buch auf eine Art und Weise angesprochen und bewegt, wie ich es selten erlebt habe. Holly Bournes Schreibstil hat spitze Ecken und selbst diese Ecken haben noch weitere Ecken. Und auch ihren direkten, trockenen und schonungslosen Humor liebe ich sehr; typisch britisch und schneidend scharf.

"Ich vergesse immer wieder, dass die Leute es nicht mögen, wenn man ihnen die Wahrheit ins Gesicht sagt. Sie mögen die Wahrheit im Fernsehen oder niedergeschrieben, damit sie sie in ihrem eigenen Tempo konsumieren und verdauen können. Aber wenn man im Gespräch aufrichtig ist, verhalten sich alle, als hätte man im überfüllten Bus gefurzt und dabei herzhaft in ein Eiersandwich gebissen." [S.156]

Inhaltlich vereint "War´s das jetzt" in erster Linie alles, was eine Frau in den Dreißigern bewegt, an-, umtreibt und quält. Ich habe mich so oft in Tori wiedererkannt; habe mit ihr gelacht, geweint und mitgelitten. Das Buch ist wie ein Gespräch mit der besten Freundin, die dich an den Schultern packt, anbrüllt und kräftig durchschüttelt, weil du dein Leben einfach nicht auf die Reihe kriegst.
Also definitiv kein Wohlfühlbuch in das man, mit einer Tasse heißen Tee auf dem Schoß und Schokolade an den Fingern, gepflegt hineintauchen kann. Ganz im Gegenteil. Holly Bourne orientiert sich am wahren Leben und das schmeckt ab und an nunmal bitter und kann hin und wieder auch kräftig zubeißen. Das Entscheidende ist, dass wir zurückbeißen und nicht unter die Räder kommen, und genau das vermittelt dieses Buch. Dass wir alle Helden anstatt Opfer sein können, vorausgesetzt wir haben den Mut dazu.

„Lieber verloren als gefangen…“ [S. 35]

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Veröffentlicht am 14.10.2020

Eines der besten Jugendbücher was ich jemals gelesen habe.

Zwei Leben in einer Nacht
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!! Triggerwarnung !!

"Zwei Leben in einer Nacht", oder kurz "ZLieN" von Carolin Wahl hat mich stellenweise sehr gefordert, da ich mit einigen Themen, die dieses Buch behandelt, auf die ein oder andere ...

!! Triggerwarnung !!

"Zwei Leben in einer Nacht", oder kurz "ZLieN" von Carolin Wahl hat mich stellenweise sehr gefordert, da ich mit einigen Themen, die dieses Buch behandelt, auf die ein oder andere Art schon mal in Berührung gekommen bin. Ein dementsprechend tränenreiches und bitter-süßes Leseerlebnis, was ich aber trotzdem nicht missen möchte, denn diese Art von Büchern können sehr heilsam sein. Abgesehen davon halte ich es für ungemein wichtig, Themen wie Depressionen, Suizid u.a. anzusprechen. Auch wenn heutzutage im Vergleich offener damit umgegangen wird, so sind es nach wie vor Tabu-Themen, die gerne mal unter den "lasst uns lieber darüber schweigen" - Teppich gekehrt werden: nicht gesellschaftsfähig, zu düster, zu deprimierend.
Aber sie finden eben statt, gehören zum Leben dazu und daher ist es auch unsere Pflicht, sich mit ihnen auseinander zu setzen; mit offenen Augen durchs Leben zu gehen und auch mal anderen Menschen ins Gesicht zu schauen anstatt unsere Smartphones anzustarren und unsere Zeit mit der Frage nach dem passenden Filter für unsere "social media bubble" zu verschwenden.
Ich halte es für sehr mutig, solch ein Buch zu veröffentlichen. Nicht nur wegen der Themen, sondern auch weil das Buch mit Sicherheit nur einen bestimmten Personenkreis und weniger die "breite Masse" ansprechen wird.
Ein Buch zu schreiben, weil man wirklich etwas zu sagen hat und nicht blos unterhalten will, das macht oftmals den Unterschied aus.
Carolin Wahl hat einen großartigen Schreibstil und ein beeindruckendes Talent dafür die Schwere anzunehmen und ihr den Schrecken zu nehmen. Feinfühlig und klug führt sie die Leser*Innen an Casper und Sam heran; lässt verstehen, weckt auf, lässt mitfühlen, macht aufmerksam, lässt miterleben. Ein ganz besonderes und vor allen Dingen intensives Leseerlebnis und eine große Empfehlung von meiner Seite.

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Veröffentlicht am 17.06.2020

Ein unbedingt nötiges literarisches Aufbegehren gegen den Egoismus unserer heutigen Gesellschaft

Wie die Schweine
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„Schließlich essen wir uns schon seit Anbeginn der Zeiten gegenseitig auf. Und nicht nur symbolisch, sondern wortwörtlich. Der Übergang hat uns nun die Möglichkeit beschert, nicht mehr so heuchlerisch ...

„Schließlich essen wir uns schon seit Anbeginn der Zeiten gegenseitig auf. Und nicht nur symbolisch, sondern wortwörtlich. Der Übergang hat uns nun die Möglichkeit beschert, nicht mehr so heuchlerisch zu sein.“ [S. 164]

Zugegeben, wäre ich noch regelmäßige Fleischkonsumentin, hätte ich mich mit diesem Buch nicht auseinandergesetzt. Essen bedeutet nicht nur Nahrung, sondern eben auch Genuss, und mit dem Genuss haben viele von uns ein sehr spezielles, komplexes aber eben auch fragwürdiges Verhältnis, was wir aber aller Widrigkeiten zum Trotz nicht so einfach aufzugeben bereit sind. Da rollen wir uns lieber den steinigen ausgetretenen Pfad der Ignoranz hinauf, anstatt das zu hinterfragen, was sich direkt vor unseren Augen oder eben in unseren Körpern abspielt.
Aber genau das lässt „Wie die Schweine“ nicht zu: Ignoranz. Agustina Bazterrica holt den literarischen Spiegel und Vorschlaghammer raus, und haut dem Leser ihre Wahrheiten ins Gesicht, immer und immer wieder, bis man am Ende mit offenem Mund dasitzt und sich am liebsten mit einer Kuscheldecke in irgendeiner sicheren Ecke seines Zimmers einrollen und leise „Alle meine Entchen“ vor sich hinsummen möchte. Das Buch ist unbequem, anstrengend und emotional herausfordernd, und das ist auch gut so. Was den Inhalt angeht, sagt der Klappentext eigentlich alles, was man wissen muss. Für mich ein sehr mutiges Gedankenexperiment, und aktueller denn je.
„Wie die Schweine“ ist eine Dystopie durch und durch. Voller Hoffnungslosigkeit, schrecklicher Taten, Gedanken und Fakten, Düsternis und Verzweiflung. Bazterrica`s Schreibstil ist von einer schonungslosen Poesie, die ich in der Form noch in keinem anderen Buch gelesen habe. Kritisch und klug führt sie dem Leser menschengemachte Grausamkeiten vor Augen und lässt dabei nichts aus. Das Schlachten, das Töten, das Fressen, und das gefressen werden. „Wie die Schweine“ rüttelt auf, macht fassungslos und wütend und ist ein unbedingt nötiges literarisches Aufbegehren gegen den Egoismus unserer heutigen Gesellschaft.

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Veröffentlicht am 14.01.2019

Schwer zu verdauen

Was ich euch nicht erzählte
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"Lydia ist tot. Aber das wissen sie noch nicht. Am 03. Mai 1977 um halb sieben Uhr morgens weiß niemand etwas außer der harmlosen Tatsache: Lydia kommt zu spät zum Frühstück." [S. 7]

Inhalt
Lydia Lee ...

"Lydia ist tot. Aber das wissen sie noch nicht. Am 03. Mai 1977 um halb sieben Uhr morgens weiß niemand etwas außer der harmlosen Tatsache: Lydia kommt zu spät zum Frühstück." [S. 7]

Inhalt
Lydia Lee - 16-jährige Tochter von James und Marilyn, Schwester von Nath und Hannah - ist verschwunden. Ob sie weggelaufen oder etwas viel Schlimmeres passiert ist, bleibt erstmal ungeklärt. Lydias Muter ist allerdings schnell davon überzeugt, dass ihre Tochter Opfer eines Verbrechens goworden sein muss. Ihre Lydia: mustergültige Tochter, zurückhaltend, brav, Einserschülerin mit einer vielversprechenden Zukunft, wunderschön, beliebt und immer ein Lächeln auf den Lippen; ihre Lydia würde nicht einfach so weggehen.
Der Rest der Familie teilt Marilyns Überzeugung nicht, denn in jedem von ihnen gibt es dunkle Ecken, kleine dunkle Nieschen, wo sich das Ungesagte wie ein Berg schmutziger Wäsche auftürmt, lawinenartig auf die Familie zurollt und letztendlich alles ins Chaos stürzt.

"Wie hatte es angefangen? Wie alles: mit Müttern und Vätern. Mit Lydias Mutter und Vater, mit deren Müttern und Vätern. Weil vor langer Zeit ihre Mutter verschwunden war und ihr Vater sie zurückgeholt hatte. Weil ihre Mutter sich sehnlichst gewünscht hatte, aus der Menge herauszuragen, und weil ihr Vater sich sehnlichst gewünscht hatte, ein Teil der Menge zu sein. Beides war nicht möglich gewesen." [S. 31]

Meine Meinung
Celeste Ng hat in "Was ich euch nicht erzählte" ein absolut realistisches Szenario erschaffen, von dem ich weiß, dass es innerhalb mancher Familien genauso oder so ähnlich stattfindet. Und dieser Realismus ist es u.a. auch, der dafür gesorgt hat, dass mich beim Lesen von Anfag an ein gewisses Gefühl der Beklemmung begleitet hat; ohne dass ich eigentlich genau sagen konnte wieso. Im ersten Kapitel erfährt man als Leser nämlich nicht viel mehr als das Lydia, Tochter eines chinesischen Einwanderes in zweiter Generation und einer Amerikanerin, verschwunden ist. Aber ähnlich wie Lydias Mutter ahnt man, dass in dieser Familie etwas furchtbar schiefgelaufen sein muss und das nur, weil Marilyn, wie jeden Morgen, einen angespitzten Bleistift und Lydias Physiksachen - sechs Aufgaben markiert mit kleinen Häkchen - neben Lydias Müslischale gelegt hat und James in seinem Büro einen Marienkäfer mit seinem Daumen zerdrückt, weil er sich über einen Kollegen ärgert.
Was ich damit sagen will ist, dass Celeste Ng es schafft, ihre Figuren anhand von Nichtigkeiten zu charakterisieren, die oberflächlich betrachtet kaum Bedeutung zu haben scheinen, im Grunde genommen aber genau auf das Wesentliche hinweisen. Celeste Ngs Talent wenig zu sagen und trotzdem den Kern zu treffen hat mich sehr beeindruckt. Ihre eindrückliche Schreibweise lässt es nicht zu, keine Bedeutung hinter dem scheinbar Bedeutungslosen zu vermuten.
Als Leser spürt man vom ersten Moment an, dass man einen schwer zu verdauenden Roman in den Händen hält und mir kam es sogar ein bisschen so vor, als würde mir die Autorin auf den ersten paar Seiten zuflüstern: "Liebe Leserin, spürst du das? Spürst du, wie es unterschwellig brodelt; das Ungesagte. Noch weißt du es nicht. Noch kannst du dich dafür entscheiden, das Buch nicht zu lesen Noch ist es nicht zu spät."

"Nur wenige Tage zuvor, Hunderte von Meilen entfernt, hatte ein anderes Paar ebenfalls geheiratet - ein Weißer und eine Schwarze, die einen äußerst passenden Namen teilten: Loving. Vier Monate später wurden sie in Virginia verhaftet. Das Gesetz erinnerte sie daran, dass der Allmächtige Gott die Vermischung von Weiß, Schwarz, Gelb und Rot nie vorgesehen hatte, dass es keine Mischlinge geben sollte, keine Zerstörung von Rassenstolz." [S. 59]

Die Geschichte der Familie Lee behandelt viele Themen und wird über einen Zeitraum von mehreren Jahrzehnten erzählt. Daher finden in "Was ich euch nicht erzählte" einige Zeitsprünge statt, die aber passend zur Handlung und nicht willkürlich stattfinden.
Da ich ein Kind der 80´er Jahre bin und mich, abgesehen von den Meilensteine der Geschichte, bislang nur oberflächlich mit den Jahren vor meiner Geburt beschäftigt habe, fiel es mir ab und an schwer, das Verhalten von Lydias Eltern nachvollziehen zu können. Es war viel zu leicht, sich in dem Gefühl von Unverständnis und Ärger zu verlieren.
Celeste Ng fordert ihre Leser indem sie vieles unkommentiert lässt und so liegt es an einem selbst zu entscheiden, weiter an der Oberfläche zu plantschen oder tiefer einzutauchen; auch auf die Gefahr hin hohe Wellen zu schlagen.
Mir persönlich ist es sehr wichtig, die Dinge um mich herum zu verstehen und daher war es ab und an notwendig, beim Lesen immer mal wieder innezuhalten und über das Gelesene nachzudenken, um die Geschichte in ihrer Gesamtheit verstehen zu können. Auch wenn ich sagen muss, dass beim Lesen vieles in mir aufgewirbelt wurde und ich selten so mit jemandem mitgelitten habe wie mit Lydia. Aber letztendlich ist ein Buch ja erst dann wirklich gut, wenn es etwas mit einem macht.

"Noch während er die Worte ausspricht, zuckt er zusammen. Tief in seinem Inneren möchte er nichts lieber, als Nath an diesem schrecklichen Tag zu beruhigen, ihm tröstend die Hand auf die Schulter zu legen und ihn zu umarmen. Aber es kostet ihn schon alle Kraft, sein eigenes Gesicht zu wahren und darauf zu achten, dass seine Beine nicht unter ihm nachgeben und er zusammenbricht. Er wendet sich ab und packt Hannah am Arm. Zumindest Hannah macht immer, was man ihr sagt." [S. 27]

Der Roman thematisiert das Ungesagte und dessen Folgen. Die Autorin lässt dem Leser zwar ausreichend Raum für eigene Mutmaßungen, aber da man sich die meiste Zeit über in den Köpfen der Figuren aufhält, bekommt man nach und nach einen immer besseren Eindruck, mit was für Charakteren man es zu tun hat. Wirklich sympatisch war mir letztendlich niemand, aber wenn ich eines Tages plötzlich in der Lage wäre, die Gedanken meiner Mitmenschen verstehen zu können, würde ich wahrscheinlich auch niemanden mehr mögen; und andersherum ebenso. Die eigenen Gedanken sind ein geschützter Bereich und das ist auch gut so.
Trotz allem entwickelt der Roman ab einem bestimmten Zeitpunkt natürlich eine ungemein starke Sogwirkung. Früher oder später will man einfach wissen, was es mit Lydias Tod auf sich hat. Die Auflösung ist ebenso tragisch wie nachvollziehbar und hat mich wiederholt zu Tränen gerührt. Und obwohl ich grundsätzlich kein Freund davon bin, falsches Verhalten mit einer unschönen Vergangenheit zu rechtfertigen, so zeigt diese Geschichte wenigstens doch einmal mehr, wie wichtg es ist, den Kreislauf des vorschnellen Urteilens und gegenseitiger Ignoranz zu durchbrechen und aufeinander Acht zu geben. Denn Nichts ist so wie es scheint. Jeder hat seine eigene Geschichte und wir anderen sind nur die Zuschauer.

"Gefunden und verloren und wiedergefunden, verloren bei voller Sicht, an seinen Rücken gepresst, ihre Füße fest in seiner Hand. Wodurch wurde etwas kostbar? Indem man es verlor und wiederfand. " [S. 269]

"Was ich euch nicht erzählte" ist ein ruhiger, düsterer, facettenreicher, ungemütlicher und tieftrauriger Roman, der im Großen und Ganzen absolut stimmig ist. Man merkt, dass die Autorin viel Zeit und Mühe in die Fertigstellung dieser Geschichte und vor allen Dingen in die Charkterausarbeitung investiert hat. Einzig an der kleinen Hannah hat mich gestört, dass Celeste Ng ihr mehr Tiefgründigkeit zugestanden hat, als Kinder in diesem Alter meiner Meinung nach haben können, aber das ist nur ein kleiner Kritikpunkt über den ich gut und gerne hinwegsehen kann, weil es a) wunderbar mit der allgemeinen Stimmung des Romans harmoniert und b) Ansichtssache ist.
Was ich mit absoluter Sicherheit sagen kann, ist das Celeste Ng mit ihrem Debut eine schriftstellerische Meisterleistung vollbracht hat, die einen festen Platz in jedem Bücherregal haben sollte. Ich ziehe meinen imaginären Hut und freue mich auf weiterer Bücher dieser wunderbaren Autorin.

Veröffentlicht am 29.04.2023

Wir sind so viel mehr als die Summe unserer Teile

Jana, 39, ungeküsst
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Wie oft habe ich mir vorgestellt, in die Vergangenheit reisen zu können, um mein jüngeres Ich in den Arm zu nehmen und ihr zu sagen, dass später mal alles besser werden wird. 
Genau das tut Jana Crämer ...

Wie oft habe ich mir vorgestellt, in die Vergangenheit reisen zu können, um mein jüngeres Ich in den Arm zu nehmen und ihr zu sagen, dass später mal alles besser werden wird. 
Genau das tut Jana Crämer in ihrem neuen Buch; das Konzept von "Jana, 39, ungeküsst" hat mir demnach von Anfang an sehr gefallen.
Und auch wenn der Titel etwas anderes vermuten lässt, so hat das Buch nur am Rande etwas mit romantischen Beziehungen, oder eben dem Fehlen von diesen, zu tun. 
Es geht eher um den Weg zu dieser überschaubaren Bestandsaufnahme und erinnert schmerzlich daran, dass Dinge wie ein freundlicher und guter Mensch zu sein, nicht ausreichen, um als akzeptiertes Mitglied unserer Schubladen anbetenden Gesellschaft zu gelten.
Da mich Jana Crämer's Biografie häufig an Dinge aus meinem eigenen Leben erinnert hat, brauchte ich ein paar Momente länger um das Buch zu beenden. Es ist immens tröstend zu wissen, dass, egal was du erlebt hast, es immer mindestens eine Person auf der Welt gibt, die genau das Gleiche durchgemacht hat und dich versteht. 
Dass du einfach bloß das Ergebnis dieser Erfahrungen bist und dass es in Ordnung ist, auch mal nicht in Ordnung, sondern absolutes Chaos zu sein. 
Das Buch hat sicherlich enormes "Trigger-Potenzial". Es erzählt von Dingen wie Abhängigkeit, Essstörungen, Selbsthass, Mobbing, aber eben auch Akzeptanz, Heilung und Selbstliebe. 
Ich persönlich halte nichts davon, gefühlt überall eine Triggerwarnung drauf zu pappen, denn das Leben schickt auch keine solchen Warnungen raus bevor es dir auf die Füße kackt. 
Ich bin der Meinung, dass es sehr heilsam sein kann, sich auch mit den dunklen Teilen der eigenen Vergangenheit auseinanderzusetzen und das Verdrängen nicht immer der bessere Weg ist. Deswegen habe ich Jana von ihren tiefsten Tiefen bis hin zu ihren höchsten Höhen auch gerne begleitet, muss allerdings sagen, dass sich der Eindruck von "früher war alles mau, heute ist alles wow", den das Buch vermitteln will, für mich nicht wirklich authentisch anfühlt, aber da mag ich mich auch irren. 
Alles in allem hat mir an dem Buch irgendwas gefehlt, aber ich kenne Jana Crämer zugegeben auch eher nur vom Hörensagen, und habe mir nur ab und an mal die ein oder andere ihrer Instagram-Storys angeschaut.
Jedenfalls trifft das Buch in Zeiten, in denen vielerorts zur Selbstoptimierung aufgerufen wird, sicherlich einen Nerv; gerade bei jungen Menschen  
Es sollte klar sein und respektiert werden, dass jeder Mensch so viel mehr ist als die Summe seiner Teile und jeder von uns sollte sich selbst so viel wert sein, dafür zu sorgen, dass es einem gut geht. Das ist für mich die Definition von Selbstwert und das vermittelt Janas Buch zu einhundert Prozent.

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