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Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 06.11.2020

Sebi erzählt Geschichte(n)

Der Halbbart
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1313: Sebi lebt mit seiner Mutter und zwei älteren Brüdern in einem kleinen Ort in der Talschaft Schwyz. Er berichtet von allem, was geschieht, auch von dem ungewöhnlichen Fremden mit dem entstellten Gesicht, ...

1313: Sebi lebt mit seiner Mutter und zwei älteren Brüdern in einem kleinen Ort in der Talschaft Schwyz. Er berichtet von allem, was geschieht, auch von dem ungewöhnlichen Fremden mit dem entstellten Gesicht, der eines Tages auftaucht.
Charles Lewinsky hat mit dem jungen Ich-Erzähler Sebi, der eigentlich Eusebius heißt, eine ganz besondere, ebenso reflektierte wie kindliche Stimme erschaffen. Wie genau der Junge hinschaut, wie verständig er aus seiner Sicht heraus die Dinge angeht, wie kritisch er auch manches hinterfragt, das macht ihn einzigartig und liebenswert. Und obwohl er viele Umwege geht, ehe er zum Kern kommt, und die Helvetismen seiner Sprache den Leser ziemlich herausfordern, vermag er in Bann zu ziehen und zum Lauschen zu verführen.
Historische Gegebenheiten, Gebräuche und regionale Besonderheiten bilden einen Rahmen, innerhalb dessen mit großem Selbstverständnis mittelalterliches Dorfleben stattfindet. Große wie kleine Ereignisse werden auf persönliche Schicksale herunter gebrochen und rücken damit sehr nah. Die Menschen, die ihren Veranlagungen und Träumen entsprechen wollen, werden durch Schicksalsschläge immer wieder aus ihren Bahnen geworfen. Es entstehen Freundschaften und Bindungen, auch die ständigem Wandel unterworfen.
In starkem Gegensatz zu einigen ausführlichen Schilderungen extremer Grausamkeiten steht der Humor, der untergründig beständig durchscheint.
Gemeinsam mit den nur scheinbar naiven Reflektionen Sebis und dessen Aufrichtigkeit und Herzensgüte vermittelt er ein angenehmes und vertrauensvolles Lesegefühl.
Doch Vorsicht: Wer sich von diesem warmen, zuversichtlichen Ton einlullen lässt, wird schon bald erfahren, dass nicht das Sich-Wohlfühlen der Leser Ziel des Romans ist. Und dass keine Rücksicht genommen wird auf deren Erwartungen. Wie im wahren Leben bleiben Fragen offen, gerät vieles aus dem Auge, werden Fäden abgeschnitten und Enttäuschungen zugefügt. Was bleibt, sind Geschichten, und wie schön oder entsetzlich, wie wahr oder unwahr sie sind, wird am Ende nicht darüber entscheiden, ob sie weitergetragen werden oder nicht.

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Veröffentlicht am 05.10.2020

Spannend, atmosphärisch, geheimnisvoll

Das verborgene Zimmer
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Als Sylvie Durand erfährt, dass es in dem Familiensitz in der Provence einen Brand gab, macht sie sich mit ihrer 14-jährigen Tochter Emma auf den Weg in ihre alte Heimat, die sie vor zehn Jahren verlassen ...

Als Sylvie Durand erfährt, dass es in dem Familiensitz in der Provence einen Brand gab, macht sie sich mit ihrer 14-jährigen Tochter Emma auf den Weg in ihre alte Heimat, die sie vor zehn Jahren verlassen hat. Doch während sie den Verkauf des Hauses in die Wege leitet, ersteht neben dem romantischen Flair ein unsichtbares Grauen, das in der Vergangenheit wurzelt.
Von der ersten Seite an gelingt es Kate Riordan, ihre sicherlich überwiegend weibliche Leserschaft in Bann zu ziehen. Dir Zutaten sind geradezu klassisch: ein altes, lange verlassenes Herrenhaus, die landschaftliche und klimatische Verlockung Südfrankreichs, Familiengeheimnisse und eine latente, aber deutlich wahrnehmbare Bedrohung.
Im Wesentlichen geht es um drei Personen, die durch eine besondere Technik äußerst unterscheidbar sind: Sylvie erzählt aus der Ich-Perspektive heraus ihre Geschichte Emma, die also direkt angesprochen wird, während die erstgeborene Tochter Élodie in der dritten Person Erwähnung findet. Dieser Trick, der gut lesbare Schreibstil und die fortwährende Spannung lassen die Geschichte nur so vorüberfliegen.
Über Élodie erfahren wir zunächst nur, dass sie an einer Krankheit litt, deretwegen sie in einer Klinik behandelt wurde und an der sie schließlich starb. All die Fragen, die Emma stellt, werden abgewehrt oder ausweichend beantwortet. Ihre Neugierde überträgt sich rasch auf die Leserin: Was genau fehlte ihrer großen Schwester? Wer war sie wirklich? Warum verließen die Eltern ihre Heimat und trennten sich? Und weshalb spricht man nicht über das, was damals geschehen ist?
Als Mutter agiert Sylvie zwar liebevoll, gleichzeitig überbeschützend, bevormundend, deutlich angstgesteuert wie nach einer nicht überwundenen traumatischen Erfahrung. Emma zeigt sich als verständige, wenig aufmüpfige, anpassungsbereite Tochter. Das Band zwischen beiden scheint sehr eng. Doch im Laufe der Geschichte wird auch diese Beziehung auf eine harte Probe gestellt.
Ein wichtiges dramaturgisches Element spielt das Feuer, das in unterschiedlichen Situationen in Erscheinung tritt. Unter anderem versinnbildlichen die Waldbrände, die in dem heißen und trockenen Zeitraum ständig im Hintergrund lodern und permanent Rauchschwaden und Brandgeruch über das Land legen, die Allgegenwärtigkeit einer drohenden Gefahr.
Der kann man sich ebensowenig entziehen wie dem Zwang, hier ganz schnell Seite um Seite bis zum nervenzerreißenden Showdown zu verschlingen.

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Veröffentlicht am 09.09.2020

Interessantes, aber leicht seichtes Bild der Kunstsammlerin

Peggy Guggenheim und der Traum vom Glück
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Die reiche Erbin Peggy Guggenheim kennt sich in der Künstlerszene ihrer Zeit aus wie kaum jemand anderes. In den späten Dreißigern des letzten Jahrhunderts nutzt sie ihr Netz, um in London eine Galerie ...

Die reiche Erbin Peggy Guggenheim kennt sich in der Künstlerszene ihrer Zeit aus wie kaum jemand anderes. In den späten Dreißigern des letzten Jahrhunderts nutzt sie ihr Netz, um in London eine Galerie zu eröffnen. Doch das ist nur einer ihrer Träume.
Die Autorin Sophie Villard vermittelt glaubhaft die eigene Liebe zur Kunst und ein brennendes Interesse an der schillernden Figur der Mäzenin. Ihre Freude am Schreiben des Buches ist beinahe mit Händen greifbar. Der Zeitraum, den sie ausgewählt hat, 1937 - 42, umfasst den Übergang vom leichten, genussvollen Leben der Pariser Bohême zu der Bedrohung durch das deutsche Naziregime und schließlich den Kriegsterror.
In diesem Spannungsfeld erscheint Peggy zunächst unbekümmert, geradezu naiv. Sie unterhält unzählige Kontakte, unterstützt mit ihrem Geld bedürftige Freunde und verliebt sich mit Haut und Haar in den Schriftsteller Samuel Beckett. Die heraufziehende Gefahr unterschätzt die Jüdin allzu lange.
Der schlichte Schreibstil mit den saloppen Ausdrücken passt durchaus zu der Blauäugigkeit der Protagonistin, ihren Liebesabenteuern, ihrer allzu jugendlich anmutenden (immerhin ist sie zu Beginn des Romans schon fast vierzig) Art. Doch stellt sich beim Lesen Staunen und später Ungläubigkeit ein. Ist es wirklich möglich, dass diese bemerkenswerte Frau solcherlei Flausen im Kopf hatte? Sie wirkt oberflächlich und - mit Verlaub - nicht sonderlich gescheit. Ihre Gedanken sind ziemlich flach. Ob das Bild der tatsächlichen Person nahe kommt? Die Verbindungen, die sie aufbauen konnte, zeugen doch von einer hohen Stufe an Intellektualität, ebenso muss der Attraktivität, die sie auf Männer ausübte, ein besonderer Charme zugrunde gelegen haben, der hier leider nicht durchscheint.
Charaktertiefe, Leidenschaft für die Kunst, Liebe für ihre Kinder - das alles wird zwar erwähnt, aber nicht vollständig transportiert.
Was die Schrecken jener Zeit angeht, werden detaillierte Schilderungen weitgehend ausgespart. Dadurch wirkt alles etwas weichgespült und kaum belastend.
Das große Plus des Romans liegt darin, Neugier zu entfachen. Es ist beinahe unmöglich, es zu lesen, ohne sich Zugang zu weiteren Informationen zu verschaffen und sich solcherart eine Menge an Wissen anzueignen.

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Veröffentlicht am 06.09.2020

Auf dem Weg nach Vinland

Die Saga von Vinland
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In den Wirren der norwegischen Thronfolgekämpfen bleibt dem unterlegenen Eyvind nur die Flucht. In einem kühnen Streich raubt er seine ehemalige Verlobte und tritt mit einer Schar von Kriegern und einigen ...

In den Wirren der norwegischen Thronfolgekämpfen bleibt dem unterlegenen Eyvind nur die Flucht. In einem kühnen Streich raubt er seine ehemalige Verlobte und tritt mit einer Schar von Kriegern und einigen Bauern und Siedlern die Fahrt über den Atlantik an. Ziel ist Vinland, das legendäre Land, in dem Milch und Honig fließen. Dort will er eine neue Heimat gründen.
Das Schriftstellerpaar Iny Lorentz weiß genau, wie historische Sachverhalte in Geschichten verpackt werden müssen, um Lesende zu fesseln.
Die Versuche der nordischen Völker, die atlantische Küste Nordamerikas zu besiedeln, sind belegt. Hier im Roman nehmen die Menschen Gestalt an, schälen sich aus der anonymen Vergangenheit und werden zu Helden oder Schurken, zu Verrätern oder Freunden.
In einfachen, klaren Sätzen, manchmal mit verschnörkelten Ausdrücken oder Redensarten versehen, die in die betreffende Zeit verweisen sollen, nimmt die Handlung ihren Lauf. Vieles wird über Dialoge kommuniziert, ein geschickter Zug, Informationen und Zusammenhänge interessant und angenehm beiläufig zu vermitteln.
Zahlreiche Abenteuer flankieren die Reise, die Gruppe gerät von einer Gefahr in die nächste. Darüber hinaus gibt es zwischenmenschliche Konflikte, die in den Charakteren wie auch in den verschiedenen Rollen angelegt sind. Freundschaften wachsen oder zerbrechen, Ansichten und Meinungen prallen aufeinander. Fehler kommen teuer zu stehen. Frauen müssen um Achtung kämpfen, die ihnen jedoch zumeist versagt wird.
Manchen wird die Ausarbeitung zu klischeehaft erscheinen, immerhin ist Verlass darauf, dass die Guten gut und die Bösen böse bleiben. Sogar für etwas Romantik ist Platz, Sehnsucht nach großen Gefühlen wird gut bedient.
Und so verfolgt man gebannt, wie neben Eyvind und seiner geraubten Sigrid, den beiden Sachsen Andreas und Ailmar und der Skrälingerin Ingridur viele andere ihr Schicksal herausfordern.
Natürlich ist alles Spekulation, aber doch - so oder zumindest ganz ähnlich könnte es vielleicht gewesen sein.

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Veröffentlicht am 18.08.2020

Warmherzig, klug und unterhaltsam

Ein Sonntag mit Elena
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Einst war er als Brückenbauer in der ganzen Welt unterwegs, nun lebt er in seiner Wohnung in Turin. Seit acht Monaten ist er Witwer. An diesem Sonntag hat er seine älteste Tochter Sonia mit Familie zum ...

Einst war er als Brückenbauer in der ganzen Welt unterwegs, nun lebt er in seiner Wohnung in Turin. Seit acht Monaten ist er Witwer. An diesem Sonntag hat er seine älteste Tochter Sonia mit Familie zum Essen eingeladen. Doch während er zum ersten Mal in seinem Leben eine aufwendige Mahlzeit zubereitet, stürzt seine Enkelin und bricht sich einen Arm. So bleibt er zunächst mit sich allein.
Fabio Geda lässt die zweitgeborene Guilia die Geschichte ihres Vaters erzählen. Und darüber hinaus die ihrer Familie, schließlich auch die Elenas und weiterer Personen, und bettet alles in eigene Erinnerungen. Klug und poetisch, nachdenklich und detailreich wandelt sie zwischen Sezieren und Träumen. Sie jongliert mit originellen Vergleichen, die manchmal in ihrer Kreativität gewagt anmuten.
Wichtig sind die Begegnungen, das, was zwischen den Menschen geschieht. Fragil, gefährdet und existentiell sind die Gefüge, immerzu neuen Einflüssen ausgesetzt, wie Mobiles dem Luftzug. Und genau wie diese in ihren Wechselwirkungen dauerhaft aneinander gebunden.
Guilia lebt und arbeitet für das Theater, entsprechend narrativ gerät der Roman (Ich, die ich die Welt nur erzählerisch erfassen kann … S.123). Und vielleicht liegt hier auch das Geheimnis der Tiefe der Personen. Die wirken warmherzig, sympathisch, man möchte sie unmittelbar in das eigene Leben hinein lassen. Eine große Menge des sprichwörtlichen italienischen Familiensinns könnte die Verbundenheit erklären, die Nähe zueinander, das starke Bedürfnis nach Austausch mit- und Verständnis füreinander.
Das alles gelingt ohne Klischee und ohne Kitsch. Allerdings erscheint der Inhalt, obgleich aufgrund des leichten und gleichzeitig tiefgründigen Schreibstils durchaus lesenswert, vielleicht nicht für jedermann von Belang oder von Interesse. Vielmehr kommt die Geschichte wie eine anspruchsvolle, wunderschöne und berührende Plauderei daher, eher ein Luxus als eine Notwendigkeit.

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