Profilbild von amara5

amara5

Lesejury Star
offline

amara5 ist Mitglied der Lesejury

Melde dich in der Lesejury an, um dich mit amara5 über deine Lieblingsbücher auszutauschen.

Anmelden

Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 10.09.2020

Suche nach Wahrheit und Identität

Das lügenhafte Leben der Erwachsenen
0

„Sie kommt nun ganz nach Vittoria.“ - Ein Satz, der die rückblickende Ich-Erzählerin Giovanna mit 13 Jahren, mitten in der Pubertät, in eine Identitätskrise stürzt. Ansonsten wohlbehütet in einer intellektuellen ...

„Sie kommt nun ganz nach Vittoria.“ - Ein Satz, der die rückblickende Ich-Erzählerin Giovanna mit 13 Jahren, mitten in der Pubertät, in eine Identitätskrise stürzt. Ansonsten wohlbehütet in einer intellektuellen Lehrerfamilie in Neapels besserem und höchsten Viertel Rione Alto aufgewachsen, möchte sie nun wissen, wie diese verstoßene Schwester Vittoria ihres Vaters lebt. Diese ist derb, sagt was sie denkt, lebt wie sie will und arbeitet als Putzfrau im niederen Viertel Neapels – wo sich einst auch Giovannas Vater herausgearbeitet hat und ins Bildungsbürgertum aufgestiegen ist.
Giovanna steht nicht zu ihrem sich verändernden Körper und möchte nicht so werden wie ihre scheinheilige Familie. Sie sucht Vittoria auf, die in ihrer Familie als Inbegriff von Verdorbenheit gilt und nimmt bei den Aufeinandertreffen immer mehr Eigenarten von ihr an. Sie entdeckt eine Welt mit Extrem-Emotionen, Sex, Dialekt und Anzüglichkeit. Aber auch einer mit mystischen wie religiösen Erscheinungen. Giovanna pendelt nun zwischen ihrer Familie, in der es viel Scheinmoral und Lügen gibt (der Vater geht fremd) und der schmutzigen Gegend unterhalb des Vomero. Vittoria ist hart und dramatisch, erzählt ihr vom wilden Sex. Giovanna ist fasziniert, analysiert anhand von Tonlagen ihre Gegenüber und macht eigene sexuelle Erfahrungen, die nicht immer gewaltfrei sind. Später wird sie in einem jungen Theologen eine neue Bezugsperson und Liebschaft finden und die Tante hinter sich lassen. Ihre Familie dagegen driftet auseinander, die schöne Fassade des Bildungsbürgertums blättert langsam ab, aber um die vielen Lügen und Abgründe herum versucht jeder, seine Identität und sein Leben als das Wahre herauszustellen.

So hat die Bestseller-Autorin Elena Ferrante gleich mehrere Themen in ihrem neuen Werk clever und sprachgewaltig verstrickt: das Zerbrechen einer Familienfassade, eine feinfühlige und intensive „Coming-of-Age“ einer Frau und die gesellschaftlichen Schichtenunterschiede mit ihren jeweiligen Mustern, Wahrheiten und Lügen. Sehr schön sind viele literarische Bezüge eingewoben – Giovanna liest viel und lässt ihre Gedanken aus den Büchern in das Setting miteinfließen und reflektiert sich dabei ständig selbst, lotet ihre Grenzen aus. Kraftvoll, sinnlich und ehrlich lässt uns Ferrante tief in die Gefühle und Entwicklungen einer Frau gleiten – mit scharfer psychologischer Beobachtung von Mensch und angeblicher Moral. Hoffentlich gibt es eine Fortsetzung.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 03.09.2020

Mann mit Hut

Kalmann
0

Der in Island lebende Autor Joachim B. Schmidt hat mit "Kalmann" einen rührendkomischen Roman mit kriminalistischen Anleihen geschrieben. Der 33-jährige Protagonist und Ich-Erzähler lebt in seiner eigenen, ...

Der in Island lebende Autor Joachim B. Schmidt hat mit "Kalmann" einen rührendkomischen Roman mit kriminalistischen Anleihen geschrieben. Der 33-jährige Protagonist und Ich-Erzähler lebt in seiner eigenen, fast autistischen und etwas zurückgebliebenen Welt, weiß aber dennoch viel: "Wenn man unter einen Eisbär zu liegenkommt, wird es dunkel und warm." Von seinem Großvater hat er das Haifischen und vieles mehr im Leben gelernt, er bleibt auch in Erinnerungen sein Wegweiser - nur ist dieser jetzt sehr schwach im Pflegeheim untergebracht. Kalmann hat keinen Bezug zu Frauen, ist es gewohnt, der Dorftrottel zu sein, stellt aber vorzüglichen Gammelhai her und sieht sich als Sheriff in dem maroden Hafendorf Raufarhöfn - einst hat es vom Fischfang gelebt, aber diese goldene Zeiten sind nach der Umverteilung der Fischfangquoten längst vorbei.

Bei einen seiner Streifzügen und auf der Jagd nach einem Polarfuchs entdeckt Kalmann eine Blutlache - könnte das Blut von dem vermissten, reichen und snobbigen Hotelier stammen? Kalmann geht ausgestattet mit Cowboyhut, Sheriffstern und Pistole zwischen den Journalisten, Polizisten und der litauischen Mafia auf Spurensuche - und scheint ein Geheimnis zu bergen.

"Kalmann" ist kein Krimi im herkömmlichen Sinne, sondern ein sonderbarer, aber flüssig zu lesender Trip in die detaillierte Gedanken- und Gefühlswelt eines isländischen Eigenbrötlers mit gelegentlichen Wutausbrüchen, der einfach anders tickt. Aber warum nicht mal die Perspektive wechseln und sich in den Bann eines schrägen Typens mit gutmütigem Herzen begeben? Obendrein leuchten schroffe und irrsinnig schöne Landschaftsbeschreibungen in dem Buch, wenn Kalmann endlos in der Natur zu wandern scheint. Ein packender Kerl mit Hut, dieser Kalmann! Und seine Gedanken sind gar nicht so zurückgeblieben, wie es anfangs scheint. Manche Einsichten sind weise und komplex - und lakonische Einwürfe garantiert.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 01.09.2020

Unzähmbare Geschöpfe

Zugvögel
0

Franny ist Mitte Dreißig und hat neben ihrer tiefen Affinität zu Tieren eine dunkle Vergangenheit – ihre Mission in „Zugvögel“ ist es, den letzten verbliebenen Küstenseeschwalben auf ihrem weiten Zugweg ...

Franny ist Mitte Dreißig und hat neben ihrer tiefen Affinität zu Tieren eine dunkle Vergangenheit – ihre Mission in „Zugvögel“ ist es, den letzten verbliebenen Küstenseeschwalben auf ihrem weiten Zugweg in die Antarktis zu folgen – koste es, was es wolle. Das Setting des mystischen Romans spielt in einer möglichen, nahen Zukunft – fast alle Wildtiere sind ausgestorben, der Klimawandel hat den Großteil des Waldbestandes zerstört. Franny heuert auf einem der letzten Fischereiboote in Grönland an – die Besatzung rund um den geheimnisvollen Kapitän Ennis werden ihre Begleiter für die nächsten Monate Richtung Antarktis sein. Sie verspricht Ihnen einen großen Fischfang – etwas, was in den leergeraubten Meeren nur noch selten vorkommt.

Und so stürmisch diese Überfahrt wird, begleitet von Unfällen und kleineren Katastrophen, so aufgewirbelt wird auch Frannys emotionales Innenleben – in Rückblenden erfährt der Leser von ihren Traumata und psychischen Verwundungen, die bis heute nachwirken, und was sie an diesen gefährlichen Ort gebracht hat. Sie schreibt Briefe und denkt an die Zeit mit ihrem Ehemann Niall zurück, einem Professor und Ornithologen. Anfangs ist noch alles rätselhaft – warum sucht sie ihre Mutter? Was erwartet sie am Ende bei den Küstenseeschwalben? Wird sie Niall wiedersehen? Warum war sie im Gefängnis? Mystisch und stückchenweise taucht der Leser tief ein in die Psyche der jungen Frau und begleitet sie auf ihrem weiten Weg zur Heilung. Franny hat einen unbeugsamen Willen und die Kraft eines wilden Tiers – metaphorisch steht ihre getriebene Persönlichkeit zu dem am Aussterben bedrohten Zugvogel und fast könnte sie selbst ein Tier sein: Unzähmbar, wild, unsteuerbare Kräfte von außen – und seit ihrer Kindheit mit Wanderfüßen ausgestattet, nie kann sie lange an einem Ort weilen, muss immer weiterziehen.

Verträumt, poetisch, magisch, düster und bildgewaltig führt der Roman, der eine Mischung aus Klimafiktion, Abenteuer, Psychogramm, Märchen und Liebesgeschichte ist, der jungen (Drehbuch-)autorin Charlotte McConaghy durch dystopische Landschaften, Naturgewalten und seelischen Untergründen. An manchen Stellen war es mir etwas zu viel Dramatik und zu viele tragische Ereignisse für eine Person alleine, aber insgesamt hat mich der Debütroman tief berührt. Zudem hat er eine aufrüttelnde Kernaussage: Was wird aus uns, wenn wir ohne Tiere und Wälder auf der Erde zurückbleiben?

Der englische Originaltitel gefällt mir noch etwas besser und ich kann mir eine Verfilmung des Romans sehr gut vorstellen.

"Man kann die Wirkung eines Lebens an dem messen, was es gibt und hinterlässt, aber man kann sie auch an dem messen, was es der Welt wegnimmt " S. 151

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 25.08.2020

Mahler erinnert sich

Der letzte Satz
0

Gustav Mahler sitzt 1911 unter einer warmen Decke gewickelt am sonnigen Deck der "Amerika" – es ist seine letzte Überfahrt von New York nach Europa, der große Dirigent und Komponist steht kurz vor seinem ...

Gustav Mahler sitzt 1911 unter einer warmen Decke gewickelt am sonnigen Deck der "Amerika" – es ist seine letzte Überfahrt von New York nach Europa, der große Dirigent und Komponist steht kurz vor seinem zu frühen Lebensende. Seit Kindheitstagen von Krankheiten heimgesucht tritt er nun seine letzte Reise an. Seine Frau Alma sitzt mit der Tochter in der Luxuskabine unterhalb des Decks – längst haben sie sich entfremdet. Fieberschübe suchen ihn heim, ein junger und zuvorkommender Schiffsjunge, der nicht weiß, wer Mahler ist, umsorgt ihn. Mahler erinnert sich – an seine Kindheit, an seine verstorbene Tochter, an seine Zeit als Direktor in Wien, an eine von ihm gefertigte Büste von Rodin, an Antisemitismus, an seine Reisen nach St. Petersburg oder Paris, an einen Besuch bei Freud und seine Zeit in New York als Chefdirigent der New Yorker Philharmoniker. Aber auch an sein Komponierhäuschen in Toblach, das Vogelgezwitscher dort und immer wieder an seine große Liebe Alma, die einen anderen Liebhaber hat. Und Mahler hadert an seiner Vergangenheit: die Einsamkeit, das ständige Überarbeiten und hilflose Kranksein, dass er noch so viel hätte komponieren sollen, was aus seinem Körper kommt, und besonders warum er die schöne Alma verloren hat. Und dass es zum Sterben zu früh ist.

In schönen Sätzen webt Robert Seethaler ein emotionales und gedankliches Konstrukt um das Innenleben eines großen Künstlers. Und doch ist es kein Künstlerroman, denn es geht um den gebrechlichen, nahbaren Menschen mit Schmerzen, der kurz vor dem Tod steht. Und so fieberhaft die letzten Momente Mahlers sind, so sind es auch seine Erinnerungen, „wie ungeordnete Schwebeteilchen, die herumirren“. Es gibt viele Metaphern und wiederkehrende Bilder wie die Vögel (die am Ende auch Vorbote des Todes sind), fliegende Fische, immer das Meer, der Himmel und der Schiffsjunge, der sich zu einem zweiten Protagonisten entwickelt.

Seethaler kann wie gewohnt wunderbar flüssig und unverwechselbar erzählen, es reihen sich in zahlreichen Rückblenden poetische Sätze und Gedanken sowie Beobachtungen aneinander und es macht Freude, in diesen dünnen Roman einzutauchen. Doch eine Frage bleibt – warum Gustav Mahler, dem vielleicht größten Schöpfer von atemberaubenden, unsterblichen Symphonien, wenn die Erschaffung von Musik in dem Buch völlig ausgeklammert wird? Die Linien und Ecken als hochsensibler und reizbarer Künstler und seiner Kunst kann der Leser nur erahnen, hier bleibt viel Spielraum zum Spekulieren. Detailreiche, melancholische und sinnliche Atmosphäre schafft Seethaler dennoch und bringt Mahler einmal als feurigen, arbeitswütigen Dirigenten zur Sprache.

Dennoch: „Der letzte Satz“ ist es ein wertvolles, gefühlvolles Kleinod über den schmerzhaften Abschied vom Leben, dem Hadern und Bilanzziehen – feinfühlig und fiktiv um einen großen, sich erinnernden Künstler komponiert, von dem man am Ende sehr viel mehr wissen und vor allem hören möchte. Mahler war am Ende alleine, einzig der Schiffsjunge war bei ihm und wird sich durch die Begegnung weiterentwickeln. Auch das waren Gedanken von Mahler – die Zeit, Vergänglichkeit und Fremdsein.

„Das Meer lebt, dachte er. Man muss nur lang genug stillstehen, um es atmen zu fühlen.“

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 13.08.2020

Form von Familie und Trauer

Was uns verbindet
0

Wie geht eine Familie mit dem tragischen Verlust eines Kindes um? Emotional, poetisch und sehr feinfühlig schildert dies die Bestseller-Autorin Shilpi Somaya Gowda in ihrem neuen Roman.
Die Familie Olander ...

Wie geht eine Familie mit dem tragischen Verlust eines Kindes um? Emotional, poetisch und sehr feinfühlig schildert dies die Bestseller-Autorin Shilpi Somaya Gowda in ihrem neuen Roman.
Die Familie Olander ist eine amerikanische Vorzeigefamilie in Kalifornien: Mutter Jaya ist gebildet, in Indien geboren und als Tochter eines Diplomaten weitgereist. Vater Keith ist erfolgreicher Investmentbanker und hat die ärmlichen Verhältnisse seiner Eltern längst zurückgelassen. Tochter Karina ist eine erfolgreiche Schülerin und Sohn Prem der Sonnenschein des Hauses. Bis zum Nachmittag des Unglücks, als Prem im Pool ertrinkt und Karina, die im Haus anwesend war, sich bis zum Heilungsprozess alle Schuld auf sich lädt. Das Fundament der Familie bricht auseinander. Jaya verfällt in Depressionen – ihr einziges Heil werden bald ihre hinduistischen Wurzeln, die Meditation im Tempel und am Schrein und ihr Nachreisen zu einem indischen Starguru sein. Keith wird zum absoluten Workaholic und sucht Trost in Affären.

Gowda lässt die Familienmitglieder multiperspektivisch in den Kapiteln sprechen, wobei Karina den eindeutigen Hauptteil ausmacht. Ihre Traumatisierung nach Prems Tod, ihr selbstverletzendes Verhalten und ihr Leid, sich keinem Elternteil richtig anvertrauen zu können, da diese mit ihrer eigenen Trauerverarbeitung beschäftigt sind und sich trennen werden, macht den emotional und psychologisch bewegendsten Teil des Romans aus.
Karina sucht auf der Highschool nach Identität und Freunden, hadert mit ihren ausländischen Wurzeln, erlebt großes Liebesleid und findet am Ende innere Erfüllung und eine Art Heilung ihrer inneren Dämonen auf einer Aussteigerfarm mit Hippies. Doch der charismatische Anführer Micah scheint nicht der zu sein, wofür er sich ausgibt und Karina steuert in die nächste mentale Katastrophe und Manipulationen eines sektenhaften Gurus. Doch eben dieser Zusammenbruch wird die Chance sein, dass sich die auseinandergerissenen Familienmitglieder beweisen, wie stark ihre Bande ist, um von der schmerzhaften Tragödie in eine hoffnungsvolle Zukunft überzutreten.

Auch wenn einige Passagen sehr ausführlich erzählt werden und Prems Nachrichten aus dem Jenseits für mich etwas überflüssig waren, wurde der soghafte Lesefluss nie gestört. Gowda hat einen bewegenden Roman über die Suche nach Selbstwertgefühl von Teenagern und psychischen Traumata geschrieben. Über Verlust, Trauerarbeit, Widrigkeiten und Resilienz, Abhängigkeiten, Schmerz und die Suche nach Gemeinschaft und innerem Gleichgewicht. Ein intimes Porträt einer Familie und ein geduldiges Porträt der Trauer.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere