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Veröffentlicht am 10.10.2020

Das Geschäft mit Waisen und "weißen Rettern"

Das Gegenteil von Gut... ist gut gemeint
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Acht Monate arbeitete Daniel Rössler für eine österreichische Hilfsorganisation als Projektmanager in einer ländlichen Region im Norden Ghanas. Eine seiner Aufgaben: Die Abwicklung eines Waisenhauses. ...

Acht Monate arbeitete Daniel Rössler für eine österreichische Hilfsorganisation als Projektmanager in einer ländlichen Region im Norden Ghanas. Eine seiner Aufgaben: Die Abwicklung eines Waisenhauses. Klingt vielleicht erst einmal hart, doch Rössler fand heraus: Bei den Kindern, die in dem Heim untergebracht waren, handelte es sich gar nicht um Waisenkinder. Sie hatten mindestens einen Elternteil. Und das Waisenhaus in seiner Projektregion, so hörte er damals, sei nicht das einzige dieser Art. Zwei Jahre nach seinem Projekteinsatz war Rössler wieder in Ghana - diesmal, um zu recherchieren, was es mit der implodierenden Zahl von Waisenhäusern in dem westafrikanischen Land auf sich habe.Das Ergebnis ist sein Buch "Das Gegenteil von gut....", das zwar schon vor einigen Jahren veröffentlicht wurde, aber - das zeigt ein Blick in einschlägige soziale Medien - weiterhin höchst aktuell ist.

In dem Buch geht es um das Geschäft mit der Armut um "weiße Retter" und Voluntourism, die Verbindung von ein bißchen Abenteuerurlaub mit einem Freiwilligeneinsatz - sehr beliebt bei jungen Menschen aus meist gutsituierten Verhältnissen, denn billig ist ein solcher Einsatz nicht - die Vermittlungsorganisationen lassen sich da ordentlich was zahlen. Bei manchen ist (nur) Idealismus im Spiel, bei anderen auch das Wissen, dass sich soziales Engagement und internationake Erfahrung gut im Lebenslauf machen. Und was lässt sich bei den Freunden in der Heimat, auf Instagramm und anderen sozialen Medien besser "verkaufen" als lachende und "dankbare" Waisenkinder?

Gerade die Arbeit mit Waisen ist bei den jungen Freiwilligen beliebt - dabei ist es nicht nur in Ghana so, dass traditionell Kinder ohne Eltern von Angehörigen ihrer Großfamilie aufgenommen werden. In den meisten afrikanischen Ländern waren sie unbekannt abgesehen von Situationen, in denen durch Krieg oder Bürgerkrieg, durch Hungerkatastrophen und ähnlichen Situatione, die die Familien- und Gesellschaftsstrukturen in hohem Maß zerstörten.. Bis die Touristen auf Wohltätigkeittour kamen, die Freiwilligen und die Menschen auf der Suche nach einem afrikanischen Adoptivkind - Madonna lässt grüßen.

Ghana ist kein Eintelfall. Auch an der kenianischen Küste - und auch nur dort, im Touristengebiet - findet man etwa Straßenschilder, die auf Waisenhäuser hinweisen. Und in vielen Facebook-Gruppen und Internetforen fragen Erstbesucher nach Adressen für den Besuch eines Waisenhauses und was man denn so an Geschenken mitbringen sollte.

Gut gemeint, sicher. Aber wie das Sprichwort sagt: Das Gegenteil von gut ist gut gemeint. Denn anders als Fachkräfte, die bei seriösen Hilfsorganisationen in Projekten arbeiten und Positionen füllen, für die es (noch) nicht genügend einheimische Experten gibt, handelt es sich bei vielen der Freiwilligen um junge Leute, die gerade mit der Schule fertig sind, allenfalls Studenten. Die in ihrem Gap Year etwas erleben wollen. Von Voluntourism ist mittlerweile die Rede. Und die Organisationen, die so einen Aufenthalt etwa in Waisenhäusern organisieren, vermitteln auch ein- oder zweiwöchige Aufenthalte. Dass das nicht nachhaltig und gut für die Kinder sein kann, sollte eigentlich jedem pädagogischen Laien klar sein - zumal die Freiwilligen ja Kontakt zu den Kindern haben sollen/wollen, nicht etwa für Putz- und Küchenarbeiten ihren Einsatz "buchen".

"Unqualifizierte weiße Jugendliche mit der Fürsorge verletzbarer afrikanischer Kleinkinder zu betrauen, ist weder lokal gewollt noch pädagogisch legitim oder entwicklungspolitisch relevant. Es ist sogar das Gegenteil davon. ", schreibt Rössler. "Diese "Hilfe" schadet mehr als sie nützt, setzt eine gehörige Portion Überheblichkeit der "Helfer" voraus und orientiert sich in erster Linie und viel mehr an ihren Bedürfnissen als an jenen der Menschen vor Ort - und hat damit nichts mit seriöser Freiwilligenarbeit gemein" Wenn die Helfer glaubten, sie könnten vor Ort wirklich etwas bewirken - unqualifiziert, ohne sprachliche oder kulturelle Kompetenz, und das besser als Einheimische - dann offenbare sich hier eine "falsche Selbsteinschätzung und ein bedenkliches Maß an Überheblichkeit."

Denn für die Freiwilligeneinsätze gelte ja: "Ein wenig Spaß machen müsste es, es sollte schöne Bilder ermöglichen und im Idealfall auch für den Lebenslauf was hermachen. Die Arbeit im nächstgelegenen Altersheim oder in der städtischen Behindertenwerkstatt eignet sich hierzu nicht besonders gut ... während diese Tätigkeiten hauptberuflichen, meist schlecht bezahlten Fachkräften überlassen bleiben, zieht es die jungen Helfer bevorzugt in exotische Gefilde."

Das Ziel der seriösen Helfer ist letztendlich, überflüssig zu werden, die Verantwortung an Menschen vor Ort weiter zu geben und sich zurückziehen zu können. Bei den Waisenhäusern in Ghana, so recherchierte Rössler, sei es ganz anders - die würden immer mehr. Angebot und Nachfrage eben, und wo es keine Waisen gibt, müssen welche "gemacht" werden. Nicht nur in seinem Projektgebiet wurden Kinder in einem Waisenhaus untergebracht, die Eltern hatten. Eltern, die von den Betreibern überredet wurden, dass es das Beste für die Kleinen sei - dass sie drei Mahlzeiten am Tag erhielten, Kleiderspenden und Geschenke, die die Helfer oder Besucher mitbrächten.

Zunächst seien die Kinder immer wieder in ihre Familien zurückgekehrt, wenn die Freiwilligen abgereist waren - doch mehr Freiwillige, rund ums Jahr, das hieß mehr Geld für den Direktor, den Vermittler, die Organisation. Plötzlich wurde das Waisenhaus trotz eigener Familie die Normalität der Kinder.

Rössler sprach mit ghanaischen Sozialpolitikerinnen und Pädagoginnen, die darauf verwiesen, dass der ständige Abbruch von Beziehungen durch die rotierende Helferschar den Kindern und ihrer Entwicklung schadeten. Und er erkannte den Schaden auch in der Dorfgesellschaft - denn die "Waisen" wurden ihrer eigenen community entfremdet, als "white kids" gehänselt, die vielleicht Turnschuhe oder ein Handy besäßen, aber nicht mehr auf dem Feld oder mit dem Vieh arbeiten könnten oder wollten. Spätestens wenn sie mit 18 Jahren das Waisenhaus verließen, rächte sich das bitter. Denn zukunftsfähig seien diese jungen Leute dann nicht mehr in den Augen ihrer Gemeinschaft.

Das "weiße Helfer Syndrom" ist in den vergangenen Jahren zunehmend kritisiert worden, nicht zuletzt durch die "Geholfenen" Rössler stellt auch einen Zusammenhang zu kolonialem Blick auf Afrika her: "Im Business um hilfsbedürftige Schwarze und hilfeleistende Weiße spiegeln sich Zuschreibungs- und Handlungslogiken wider, die im Zuge jahrhundertelanger europäischer Vorherrschaft am afrikanischen Kontinent hervorgebracht, systematisch aufrechterhalten und global verbreitet wurden, und die von findigen Personen mit Geschäftssinn genutzt und kommerzialisiert werden."
Abgesehen von der manchmal etwas blumigen Sprache und den Stellen des Buches, in denen er sich nicht auf Fakten konzentriert sondern Ereignisse fiktionalisiert, hat Rössler meiner Meinung nach ein wichtiges Buch geschrieben - auch mit Blick auf die letztlich ausgenutzten Helfer, die es ja oft nur gut meinten.

Doch findet er damit auch Gehör? Ich fürchte, nur bei denjenigen, die seine Haltung teilen. Das Internet ist nach wie vor voll mit denjenigen, die voller Stolz das präsentieren, das eine andere Kritikerin als "MONGOS" bezeichnete (My own NGO), mit Bildern und stolzen Berichten ihrer Geschenkübergabe, mit Bildern und Verweis auf die ach so dankbaren armen Menschen, denen sie zu einem besseren Leben zu verhelfen meinen - und die dabei nur allzu oft von dem ausgehen, was sie für richtig und nötig halten.

Veröffentlicht am 07.10.2020

Zeit für Masala und Kurkuma

Kochen wie in Indien
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Meine erste Begegnung mit der indischen Küche fand nicht an den Stränden von Goa, im Gewusel von Mumbai oder im Schatten des Taj Mahal statt. Im "Balti triangle"des englischen Birmingham dürfte sie aber ...

Meine erste Begegnung mit der indischen Küche fand nicht an den Stränden von Goa, im Gewusel von Mumbai oder im Schatten des Taj Mahal statt. Im "Balti triangle"des englischen Birmingham dürfte sie aber ebenso authentisch gewesen sein, mit unspektakulären aber leckeren Restaurants zwischen Läden, die Saris und Stoffe, Ghee und damals noch sehr exotische Früchte verkauften und die meisten Menschen in den Restaurants hatten indische oder pakistanische Wurzeln.

Es war kulinarische Liebe auf den ersten Biss, und deshalb freue ich mich immer, ein neues Kochbuch kennen zu lernen, dass mir neue Variationen der vielfältigen indischen Küche näher bringt. "Kochen wie in Indien" von Robi Banerjee und Indrani Roychoudhury ist so ein Buch. Wie bei ähnlichen Büchern der von G+U publizierten Reihe darf ein bißchen Landeskunde nicht fehlen - die Top-five-Zutaten ebensowenig wie das, was man in Indien unbedingt sehen und erleben sollte. Klar, dass Kurkuma und Masala nicht fehlen dürfen.

Einige basics wie Chutney, Raita oder Naan zum Selbermachen werden vorgestellt, und auch sonst sind die Rezepte so zusammengestellt, dass die Zutatensuche zur zeitraubenden Recherche wird. Nicht nur in Großstädten mit internationaler Zusammensetzung sind Supermärkte hier ja mittlerweile gut aufgestellt, auch bei Gewürzen, die in der deutschen Küche eher nicht eingesetzt werden.

In der kalten Jahreszeit tut scharfes Essen ja besonders gut, wärmt es doch nicht nur den Magen auf. Das Garnelen-Masala klingt da sehr vielversprechend für Gäste oder einen Verwöhn-Abend. Das im Backofen vor sich hin garende Auberginencurry dürfte ein gutes Gericht sein, wenn vor dem Essen noch einiges andere zu erledigen ist und auch das würzige Auberginenpüree als südasiatische Antwort auf mein geliebtes Baba ganoush wird demnächst sicher ausprobiert. Ein bißchen Crossover ist auch vertreten - etwa Kürbiscurry und Kidneybohnencurry, die ich beide nicht in einem indischen Kochbuch erwartet hätte. Oder, es muss schließlich nicht immer Reis sein, ein Hirse-Pilao, das ein etwas anderes Geschmachserlebnis verspricht.

Ergänzt ist auch dieses Buch mit farbenfrohen indischen Straßenszenen. Die dazugehörige Garküche muss man sich am heimischen Herd einfach dazu denken. Namaste!

Veröffentlicht am 04.10.2020

Der unbekannte Aufstand

Der Aufstand von Treblinka
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Wenn vom Holocaust und den deutschen Todeslagern die Rede ist, dürften nicht nur in Deutschland die meisten Menschen an Auschwitz denken - das größte der nationalsozialistischen Vernichtungslager, das ...

Wenn vom Holocaust und den deutschen Todeslagern die Rede ist, dürften nicht nur in Deutschland die meisten Menschen an Auschwitz denken - das größte der nationalsozialistischen Vernichtungslager, das Lager mit den meisten Toten. Von mindestens 1,1 Millionen Opfern geht die Forschung aus. Die Namen Treblinka, Sobibor oder Belzec dürften in Deutschland viel weniger Menschen vertraut sein, dabei waren diese Lager reine Todesfabriken. Wer in Auschwitz als ankommender Häftling die Selektion an der Rampe überstanden hatte, hatte zumindest theoretisch eine Chance zum Überleben, jedenfalls so lange die Kraft für die Zwangsarbeit ausreichte.

Wenn die mit deportierten Juden vollgepfernchten Güterzüge nach Treblinka oder Sobibor rollten, führte der einzige Weg in die Gaskammern, über die von den Nazis zynisch so genannte Himmelfahrtsstraße. Im Rahmen der "Operation Reinhardt" wurde die jüdische Bevölkerung der ostpolnischen Stetl ermordet, Treblinka wurde zum Friedhof der Warschauer Juden, die vor dem Krieg ein Drittel der Bevölkerung der polnischen Hauptstadt ausgemacht hatten. Nur wenige hundert jüdische Häftlinge waren als Mitglieder des Sonderkommandos gezwungenermaßen Helfer und Augenzeugen des Massenmordes. Ihnen war klar, dass die Täter nicht vorhatten, sie mit diesem Wissen überleben zu lassen.

Der Aufstand von Sobibor im August 1943, die versuchte Flucht von Mitgliedern des dortigen Sonderkommandos, ist durch zahlreiche Veröffentlichungen und einen Film bekannt geworden. Der polnische Journalist Michal Wojcik hat sich mit seinem Buch "Der Aufstand von Treblinka" auf den deutlich weniger bekannten Widerstand in Treblinka konzentriert.

Besonders interessant dabei: Das Buch schildert die Ereignisse vor allem aus der Perspektive der Häftlinge, greift auf die wenigen Berichte von Überlebenden des Aufstands und der anschließenden Flucht zurück. Denn wie so oft, wenn es um das Thema Holocaust geht, sind die meisten Dokumente aus der Täterperspektive zu finden - Akten, Briefwechsel, Berichte usw. Doch rund 300 der 700 Teilnehmer des Aufstand der meist jüdischen Häftlinge war die Flucht gelungen, etwa 85 von ihnen überlebten den Krieg.

Eine fesselnde Lektüre ist die Schilderung des Widerstands, angesichts der Verhälntnisse ein David gegen Goliath-Kampf, so oder so. Auch auf das System des Massenmords, die Lagerverwaltung, das Wissen und die Tauschgeschäfte der umliegenden Dorfbewohner mit Arbeitshäftlingen in den Wäldern geht Wojcik ein. Am eindrucksvollsten vermittelt er das Grauen des Lagers dort, wo die Häftlinge des Sonderkommandos in den Transporten auf Bekannte stoßen, in den Kleidern der Ermordeten Kleidung von Familienangehörigen erkennen. Da kommt eine Ahnung auf, wie hoch der emotional und psychische Preis des Überlebens gewesen sein muss.

Die schon vor ein paar Jahren in Polen erschienene Version des "bunt w Treblince" war auch eine Abrechnung mit Heldenmythen in der "historischen Politik" der nationalkonservativen Regierung, die sich in den vergangenen Jahren vor allem auf die Arbeit und die Förderung von Museen und Ausstellungen auswirkte - Die Kontroversen um das Museum des Zweiten Weltzkriegs in Danzig und die Besetzung des Direktorpostens des Polin-Museums über die Geschichte der polnischen Juden waren da nur zwei besonders prominente Beispiele.

Wenn etwa Dorfbewohner im Austausch gegen Geld oder Schmuck ermordeter Juden Häftlinge mit Lebensmitteln versorgen, hat das eben einen ganz anderen Ton als der Mythos von der selbstlosen, aufopferungsvollen Hilfe der polnischen Patrioten für ihre polnischen Mitbürger, den regierungsnahe Historiker seit Jahren pflegen. Hier wäre für die deutsche Ausgabe ein einordnender Kommentar sicherlich sinnvoll gewesen. Als Beitrag zu einem vielen gerade in Deutschland wohl unbekannten Aspekt des Holocaust ist "Aufstand in Treblinka" aber auch ohne solche Hintergrundkenntnisse wichtig.

Veröffentlicht am 03.10.2020

Ein Haus und seine Bewohner

Märchen aus meinem Luftschutzkeller
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Mtit "Märchen aus meinem Luftschutzkeller" zeichnet Oleksij Tschupa ein Bild der Ukraine jenseits der Klischees wogender Weizenfelder und blondbezopfter Frauen in buntbestickten Bauernblusen, aber auch ...

Mtit "Märchen aus meinem Luftschutzkeller" zeichnet Oleksij Tschupa ein Bild der Ukraine jenseits der Klischees wogender Weizenfelder und blondbezopfter Frauen in buntbestickten Bauernblusen, aber auch jenseits der mittlerweile zur Routine gewordenen und schon halb vergessenen Szenen des andauernden militärischen Konflikts. Es ist eher eine Sammlung von Kurzgeschichten als ein Roman, die einzige Klammer ist das Haus in der Stadt Makijiwka, in der alle Figuren wohnen. Jede Episode ist mit einer Wohnung verbunden, vom Erdgeschoss bis zur dritten Etage.

Makijiwka ist auch die Geburtsstadt des Autors in der Ostukraine, im Donbas, dem Kohlerevier, Teil der international nicht anerkannten Republik Donezk. Wenn hier von Nationalisten die Rede ist, sind die Anhänger der Regierung in Kiew gemeint. Doch die Notwendikeit eines Luftschutzkellers wird allenfalls im Nachwort Tschupas erläutert, denn die meisten seiner Hausbewohner haben entweder mit genügend Problemen ihres eigenen Alltags zu kämpfen, sind schon viel zu alt und abgeklärt, um sich übermäßig über die Gegenwart zu sorgen oder haben einen Wodkapegel erreicht, in dem eh alles egal ist.

Rentnerinnen, die auf den Tod warten, kleine Gauner, Säufer, Einsame - Tschupa nähert sich ihnen mal mit gerade zu poetischen Beschreibungen, mal mit rauem Realismus, mal mit Ironie. Es gibt eine Episode, die als fantastische Literatur einzuordnen ist und andere, die Charakterstudien und Porträts ihrer Protagonisten sind.

"Märchen aus meinem Luftschutzkeller" ist mit 208 Seiten ein eher schmaler Band, doch Tschupa schafft es, mit seinen Skizzen Eindrücke zu hinterlassen. Etwa Klawa, deren Einsamkeit wegen ihrer Taubheit nur noch größer ist, in "Stille als Gendefekt", oder das stille unspektakuläre Auseinanderbrechen einer Ehe. Oder die Geschichte einer bereits auf den Tod wartenden Großmutter und ihrer Enkelin, die mit isländischer Musik der Oma nicht nur neuen Lebenswillen vermittelt, sondern auch das zu Sprachlosigkeit erstarrte Verhältnis wieder belebt. Einen Knalleffekt liefert gleich das erste Kapitel mit der Begegnung eines unglücklichen Bankberaters mit der Skandalnudel des Hauses, der angejahrten und dauerbesoffenen Lebefrau Vira, die seit 30 Jahren das Zusammenleben der Hausbewohner erschüttert.

Für mich sind die "Märchen aus dem Luftschutzkeller" eine Entdeckungsreise nicht nur Makijiwkas und seiner Einwohner, sondern auch mit einem Autor, von dem ich vorher nicht gehört habe und der mich neugierig gemacht hat.

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Veröffentlicht am 22.09.2020

Einladung zu Entdeckung der Dunkelheit

Streifzüge durch die Nacht
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Fast scheint es, als sei in diesen eher düsteren Pandemiezeiten die Nacht eine neue Lese-Entdeckung: Der amerikanische Astrophysiker Trinh Xuan Thuan schrieb vor einiger Zeit und für einen Naturwissenschaftler ...

Fast scheint es, als sei in diesen eher düsteren Pandemiezeiten die Nacht eine neue Lese-Entdeckung: Der amerikanische Astrophysiker Trinh Xuan Thuan schrieb vor einiger Zeit und für einen Naturwissenschaftler ungewöhnlich poetisch über die "Magie der Nacht", der Landschaftsfotograf Kilian Schönberger nahm mit "Nachts im Wald" die Leser in Wort und Bild mit zu Abenteuern zwischen Dämmerung und Sonnenaufgang und auch Dirk Liesemer begibt sich mit "Streifzüge durch die Nacht" in die Dunkelheit - mal in einem wandernden Alleingang, mal mit Experten als sachkundigen Gesprächspartnern.

Das unterscheidet dieses Buch von den eher in Einsamkeit recherchierten anderen Titeln. Liesemer trifft Künstler und Kreative, die Nacht künstlerisch verarbeiten, einen Klangexperten, der Geräusche - die in einer stillen Nacht ja noch viel unvermittelter wirken - in Filme als Klangteppich einwebt. Der Autor begleitet einen Jäger auf den Hochsitz (und ist ganz froh, dass am Ende dieser Nächte kein Wildschwein oder Reh sein Leben lassen musste, auch wenn die Schilderung sicher nicht ohne Dramatik gewesen wäre), er geht auf nächtliche Pirsch mit Vogelkundlern und einer Fledermausforscherin.

Zudem beschränkt sich Liesemer mit seinen Streifzügen nicht auf die stille Seite der Nacht, die Abgeschiedenheit in der nur von Mondlicht und Sternen beschienenen Natur. Er folgt auch den Nachtseiten der Städte, sei es eine Wiener Ballnacht, sei es das Gespräch mit einem "Taxler", der nachts fährt und so manche Begegnung schildern kann. Dabei spielt sich Liesemer nicht in den Vordergrund, sondern hält sich angenehm zurück, lässt den Gesprächspartner oder die Gesprächspartnerin buchstäblich zu Wort kommen, reflektiert und beobachtet.

Ein wenig, so resümiert er am Ende, fühle er sich nach all diesen nächtlichen Streifzügen wie nach einem Auslandsjahr, dass man unternimmt, um eine neue Sprache erlernen - man beherrscht sie nach einem Jahr ganz passabel, fühle sich aber zugleich noch unsicher und wisse, dass es ein weiter Weg zur Perfektion ist: "So ist es auch mit der Nacht. Sie hat schier unfassbar viele Facetten, die sich an jedem Ort und mit jeder Jahreszeit auf eine ihr eigene Art und Weise darstellen." Und noch einen Tipp hat er für seine Leser parat: Wer die Nacht wirklich kennenlernen wolle, der solle das Buch beiseite legen und sich aufmachen. "nach draußen gehen und furchtlos ins Dunkel springen. Eines ist sicher: Sie werden direkt vor ihrer Haustür eine neue Welt kennenlernen, und selbst wenn Sie dort niemanden treffen, dann werden Sie zumindest einer Person begegnen: sich selbst." Schließlich war die Nacht schon immer die Zeit tiefer Gedanken und von Selbsterkenntnis.

Und immerhin: Mit Herbstbeginn rückt die dunkle Jahreszeit wieder nahe an uns heran, langes Warten ist nicht erforderlich für einen Streifzug in die Dunkelheit. Auch dieses Buch macht Lust auf eigenes Entdecken.