Platzhalter für Profilbild

Carl

Lesejury-Mitglied
offline

Carl ist Mitglied der Lesejury

Melde dich in der Lesejury an, um dich mit Carl über deine Lieblingsbücher auszutauschen.

Anmelden

Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 06.08.2020

Eschbachs Apokalypse

NSA - Nationales Sicherheits-Amt
0

Das NSA ist keine Erfindung der USA. Der Computer wurde in seinen Anfängen mit Dampf betrieben. Nicht Konrad Zuse baute ein Gerät, das heute als erster funktionstüchtige Computer bezeichnet wird, sondern ...

Das NSA ist keine Erfindung der USA. Der Computer wurde in seinen Anfängen mit Dampf betrieben. Nicht Konrad Zuse baute ein Gerät, das heute als erster funktionstüchtige Computer bezeichnet wird, sondern ein Engländer namens Charles Babbage (1791 bis 1871) brachte ihn zur Serienreife. Als in Deutschland noch der Kaiser herrschte, entstanden nicht nur die modernen Computer, sondern auch das NSA, das Nationale Sicherheitsamt, mit Sitz in Weimar. Zumindest in der Vorstellungswelt von Andreas Eschbach.

Er wirft mit seinem neuen, 800 Seiten starken Roman einen Blick in eine künftige Vergangenheit. Klingt verwirrend? Ist es aber nicht.

Tatsächlich entwickelte Charles Babbage die sogenannte „Analytical Engine“, die als Vorläufer des Computers, also auch Zuses Erfindung, gilt. Der spielt bei Eschbach allerdings noch keine Rolle, denn sein Plot ist zeitlich vor Zuse angelegt.

Computer, Mobiltelefone, eMails, SMS – das alles gibt es bei Eschbach schon seit den 30er Jahren. Mit dem Beginn des Naziterrors in Deutschland gewinnt das NSA, das alles und jeden überwacht, zunehmend an Bedeutung. Vor allem als – und hier nimmt Eschbach eine Entwicklung voraus, die in der Jetztzeit ernsthaft diskutiert wird – das Bargeld abgeschafft wird. Mit Einführung der bargeldlosen Kartenzahlung ist der NSA nichts mehr geheim. Jeder Zahlungsvorgang eines jeden Individuums wird registriert. Ärzte, Anwälte, deren Aufgabe in Vertraulichkeit gegenüber Patienten und Klienten beruht, müssen ihre Daten qua Gesetz in einer „Datensilo“ genannten Cloud speichern, auf die die NSA selbstverständlich Zugriff hat.

Nun gibt es Menschen, die werden sagen: „Na und?!“ In Eschbachs Szenario hat das fatale Folgen. Denn der Zugriff auf alle Arten von Daten und deren gegenseitiger Abgleich führt zur Aufspürung von – versteckten Juden.

Jeder Mensch muss essen. Über die Kontrolle der Lebensmittel-Einkäufe und den Abgleich mit den verbrauchten Kalorien ist leicht feststellbar, in welchen Haushalten mehr Nahrungsmittel verbraucht werden, als die gemeldeten Personen durchschnittlich benötigen. Dort besteht der dringende Verdacht, dass Menschen versteckt werden. Jüdische Mitbürger zum Beispiel. Oder Deserteure. Grund genug für Polizei und SS, sofort einzufallen und alles auf den Kopf zustellen. In Zusammenhang mit dem Abgleich der ebenfalls gespeicherten Grundrisse der Häuser und Wohnungen sind vom NSA sehr schnell und einfach auch verborgene Räumlichkeiten, die als Versteck dienen, aufzuspüren.

Und das bringt nun Helene in eine verzweifelte Situation. Sie ist beim NSA Programmiererin – in Eschbachs Sprache eine „Programmstrickerin“. Programmieren ist eine rein weibliche Aufgabe. Männer haben in dieser Zeit – wir befinden uns im Jahr 1942, der Weltkrieg tobt an allen Fronten – anderes zu tun. Sie überwachen den eMail-Verkehr, genannt Elektro-Post. Und es gibt das als „Weltnetz“ bezeichnete Internet.

Männer überwachen das „Deutsche Forum“ nach verräterischen Beiträgen, sie hacken vor allem das „Amerikanische Forum“ und manipulieren deren Mitglieder durch gefälschte, deutschfreundliche Beiträge. Desinformation nennt man das im Geheimdienst. Und die Fake-News-Debatte ist uns in unserer Zeit auch nicht neu.

Helene, Typ einfaches deutsches Mädchen nach Gretchen-Vorbild, das vieles so hinnimmt, weil es so ist, unpolitisch, wenig denkend, fängt erst an, über die Folgen ihres Handelns nachzudenken, als mit Hilfe eines ihrer Programme der Widerstandskreis der „Weißen Rose“ zerschlagen und deren Mitglieder festgenommen werden. Und als die Gefahr besteht, dass ihre große Liebe Artur gefasst wird. Artur ist nämlich von der Wehrmacht desertiert, und sie, Helene, hat ihn auf dem Bauernhof ihrer Freundin versteckt.

Der oft nüchterne, trockene Stil von Andreas Eschbach verursacht eine Gänsehaut, wenn man sich die Geschichte in Erinnerung ruft. Was die Nazis mit diesen Menschen, die nicht in ihr Klischee eines Ariers passten, die politische Gegner waren, die einfach nur politisch kritisierten, die eine gehässige Bemerkung über Hitler oder einen der anderen Parteibonzen machten, anstellten. Die Vermengung tatsächlicher Geschichte umrankt von Geschichten macht dieses Buch so spannend. Auch wenn es durchaus Längen hat, beispielsweise wenn Eschbach Helene in aller Ausführlichkeit und detailliert erklären lässt, wie eine Datenbankabfrage und die Kombination mit verschiedenen Parametern funktioniert. Hier wäre Einsparpotenzial gewesen. Aber Eschbach ist nun mal detailversessen.

Erschienen bei BASTEI LÜBBE, Hardcover, 796 Seiten, ISBN: 978-3-7857-2625-9, Preis 22,90 Euro

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 27.07.2020

Verletzlich - ein bisschen wie das Leben selbst

Das Bücherhaus
0

"Das Bücherhaus“ ist keine Liebesgeschichte, aber eine Geschichte der Liebe. Der zu Büchern, der zur Philosophie und zu den Philosophen und, nicht zuletzt, auch eine zu den Menschen. Und wie die Liebe ...

"Das Bücherhaus“ ist keine Liebesgeschichte, aber eine Geschichte der Liebe. Der zu Büchern, der zur Philosophie und zu den Philosophen und, nicht zuletzt, auch eine zu den Menschen. Und wie die Liebe oft verschlungene Wege geht, führt auch John Kaag seine Leser mäandernd durch seine Geschichte.

Seine Geschichte meint das, was es sagt: Es ist auch ein Stückweit die Biografie des inzwischen 41 Jahre alten Professors für Philosophie an der University of Massachusetts. Derzeit gilt er als einer der spannendsten jungen Philosophen der USA. 2016 erschien „American Philosophy: A Love Story“ (deutsch: Das Bücherhaus, erschienen 2019 im btb-Verlag, ISBN 9783 442 718 894, Preis 11,00 Euro), das durchaus als eine Hommage an die Entwicklung der Philosophie von frühan verstanden werden darf.

Eine Statue des Laokoon bringt Kaag zu der Erkenntnis, dass Ehrlichkeit häufig mit Schmerz und Qual verbunden ist. Der Trojanische Seher, der seine Mitbürger vor dem Danaer-Geschenk des Trojanischen Pferdes warnte und damit den Zorn Apolls erregte, wurde für die Verkündung der Wahrheit bestraft. Apoll schickte zwei Seeschlangen, die Laokoons Söhne vor den Augen des Vaters ins Wasser zerrten und töteten bevor dann der Vater selbst stirbt: „Das geschieht mit Menschen, die das Pech haben, schmerzhaft ehrlich zu sein“, sagt Kaag. Und angesichts seiner zunehmend darnieder gehenden Ehe und dem Beispiel des hingemetzelten Laokoons vor Augen, stellt er fest: „Mein jüngstes Experiment mit der Ehrlichkeit war ziemlich brutal ausgegangen.“ Um zu konstatieren: „Vielleicht war es besser, nicht ganz so ehrlich und am Leben zu sein als selbstgerecht und tot.“

Seine Wahrheit beruhte darin, dass er die jahrelangen Zweifel an seiner Ehe seiner Frau gestand, sich trennte und scheiden ließ. Und ein schlechtes Gewissen hatte, denn auch sein Vater hatte die Familie verlassen und war ihm nie ein guter Vater gewesen. Als er schließlich an dessen Sterbebett stand und hoffte: „Und so, ganz am Ende, würde er mit mir reden wie ein liebender Vater es mit seinem Sohn täte. Er würde mich überzeugen, dass unsere kurze Zeit zusammen nicht ein hohles, schmerzliches Versäumnis gewesen war“, bleibt dies vergeblich. Eine Hoffnung, die sich für den jungen Kaag nicht erfüllt: „Als ich ins Krankenhaus kam, war er schon weitgehend weggetreten, so still und bewusstlos wie er die meiste Zeit in meinem Leben gewesen war.“

Als Kaag sich von seiner Frau trennte, hatte er sich längst in die verschollene Bibliothek mitten im Wald im Hinterland von New Hampshire geflüchtet, die er durch Zufall fand. Die einstige Privatbibliothek des Philosophen und Theologen William Ernest Hocking (1873 – 1966) barg einen bibliophilen Nibelungenhort. Erstausgaben, frühe Schriften, Manuskripte, Schreiben fast aller namhafter europäischer und von diesen beeinflusster amerikanischer Philosophen.

Jahre verbringt Kaag erst allein, dann mit seiner Kollegin Carol Hay, um die Bücher zu sichten, zu sortieren und zu katalogisieren. Und immer findet Kaag in dem aufgezeichneten philosophischen Denken Parallelen zu seinem eigenen Leben. Beides verknüpft er in einer intellektuellen, ja fast paradigmatischen, Art. Dabei findet er durch die Gedanken und Schriften von Charles Sanders Peirce, Josiah Royce, William James, Jane Addams und Walt Whitman zu seiner Gegenwart. Er räsoniert über die in der Bibliothek gefundenen Werke Kants und Hegels, Platons und Dantes, die durch ihr Denken die amerikanischen Philosophen beeinflussten und somit ihre Gedanken in sowohl in der „verschollenen Bibliothek“ wie bei Kaag und daher auch im „Bücherhaus“ hinterließen.

Es ist die Unendlichkeit des Denkens, des Gedankens, die Kaag hier darstellt und die immer wieder erinnert an die Erzählung von Jorge Luiz Borges‘ „Die Bibliothek von Babel“. Nur, dass entgegen der Unendlichkeit der Bücher in Borges Text die Bibliothek von Kaag endlich ist. Hockings Erben bestellen einen Gutachter, um den Wert der Bücher zu ermitteln. Für Kaag ein blasphemischer Buchhalter, der „die Philosophie, diese gewaltige Liebesafäre mit der Weisheit, auf einem Kalkulationsbogen summiert zum Zwecke steuerlicher Absetzbarkeit“.

Hockings Erben schenken einen Teil der Bibliothek der University of Massachusetts Lowell. Dort verschwinden sie fast wie der Nibelungenhort, der nach Siegfrieds Tod von Hagen von Tronje im Rhein versenkt wurde. Und wie auch Hagen von Tronje nur weiß, wo der Hort liegt, kennen außer Kaag nur wenige den Ort, wo die Hocking-Bücher aufbewahrt werden. Sie kamen aus einer vergessenen Bibliothek und gingen in eine Bibliothek, die inzwischen schon wieder vergessen wäre. Wenn nicht Kaag daran erinnerte: „Ich besuche sie oft unter dem Licht der Neonröhren. Manchmal nehme ich Studenten mit.“ Aber eine richtige Bibliothek ist es nicht: „Es gibt keine wachsamen Bibliothekare und nicht einmal richtige Arbeitstische.“ Aber das stört weder die Studenten noch Kaag, der sich erinnert, wie er die Bücher in „West Wind“ – der verschollenen Bibliothek – fand und was sie blieben: „Unbezahlbar, aber verletzlich. Ein bisschen wie das Leben selbst.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 26.07.2020

Talk Radio

Radio Girls
0

Ich lese gern im Bett, bin aber die letzten Monate wenig dazu gekommen. Weil es kein Buch gab, über dem ich nicht eingeschlafen bin. Geändert haben das erst die "Radio Girls". Ein gänzlich unaufgeregt ...

Ich lese gern im Bett, bin aber die letzten Monate wenig dazu gekommen. Weil es kein Buch gab, über dem ich nicht eingeschlafen bin. Geändert haben das erst die "Radio Girls". Ein gänzlich unaufgeregt spannender Roman über die Anfänge der BBC, Frauenrechte und sich langsam auflösende Männerträume über ihre gesellschaftliche Vorherrschaft.

Im Jahr 1922 wurde die BBC gegründet als British Broadcasting Company Ltd.von einem Konsortium aus sechs amerikanischen und britischen Elektrogeräteherstellern, die durch das Angebot von Radiosendungen den Absatz ihrer neuen Radiogeräte steigern wollten. Den Posten des Generaldirektors bekam John Reith. Seine Vision war ein Sender, der neben Bildung und Information auch Unterhaltung bieten sollte. 1926 kam Hilda Matheson zur BBC in die Bildungsredaktion und geriet schon bald, weil politisch linksliberal, in Konflikt mit dem streng konservativen Reith. Matheson verließ die BBC 1931 und die "Radio Girls" beleuchten romanhaft diese fünf Jahre durch den Blick von Maisie Musgrave. Ihre Figur ist fiktiv, Reith und Matheson dagegen haben ihren Platz in der Geschichte der BBC.

Die Kanadierin Musgrave, die ihres Akzentes wegen gern als Amerikanerin bezeichnet wird, besteht auf ihrer kanadischen Herkunft, besuchte die Sekretärinnenschule und bewirbt sich auf eine BBC-Anzeige. Sie wird auf Intervention von Reith eingestellt und muss sich von Stund an von dessen hochnäsiger Sekretärin herumkommandieren lassen, die ihr mehr als einmal sagt, sie gehöre eigentlich ihrer mangelhaften Bildung und Herkunft wegen gar nicht zur BBC. Ein halber Tag Arbeit für Reith, ein halber Tag in der "Vortragsabteilung" wie die von lesbischen, unkonventionellen Hilda Matheson geleitete Redaktion genannt wird. Dort saugt Maisie alles auf, was sie an Wissen erwischt. Der Job als Sekretärin ist bald nicht genug, ihr Ehrgeiz erwacht, gefördert durch Hilda Matheson, die sich bald zu ihrer Mentorin emporschwingt. Die war (nicht nur im Buch) vor der BBC Sekretärin von Lady Nancy Astor, die bereits 1919 in britische Parlament gewählt worden war, und die erste Frau, die dieses Amt auch antrat und ausfüllte. Sie setzte sich für das allgemeine Frauenwahlrecht und die Gleichstellung von Frauen im Staatsdienst ein.

Für politische Gesprächsrunden holte Matheson ihre frühere Arbeitgeberin oft ins Radio und prallte deswegen mit Generaldirektor John Reith zusammen, der mit Frauen in leitenden Positionen seine Probleme hat. Und die BBC, so hebt die Autorin mehrfach hervor, sei in dieser Zeit die einzige Institution gewesen, die dies zugelassen habe. Nichtsdestotrotz ist die Moral Messlatte auch für den beruflichen Werdegang.

In das Leben des verheirateten Chefingenieurs Eckersley, der ein Verhältnis mit einer ebenfalls verheirateten Frau hat und sich ihretwegen scheiden lässt, mischt sich Reith derart massiv ein, dass der Ingenieur schließlich kündigt. Im realen Leben werden John Reith dagegen mehrere außereheliche Affären, darunter auch zu mindestens einem Mann, nachgesagt, die die Autorin Sarah-Jane Stratford allerdings außen vor lässt.

Dafür streut Stratford so wenige Jahre nach dem ersten Weltkrieg, der für viel noch ein Trauma bedeutet, den beginnenden Aufstieg der Nazis in Deutschland ein. Den Versuch der "British Union of Fascists" mit Hilfe einflussreicher Wirtschaftsbosse vom Kontinent die Gewalt über die britischen Medien - auch der bei den Hörern ständig beliebter werdenden BBC - zu übernehmen, um damit die öffentliche Meinung zu manipulieren, wird vor allem durch das inzwischen bis zur Leidenschaft gewachsene Engagement der Maisie Musgrave für den Journalismus vereitelt.

Autoren wie T. S. Elliott, H. G. Wells, Virginia Woolf, Vita Sackville-West und viele andere zeitgenössische Literaten, die die (echte) Hilda Matheson kannte und zur BBC für Vorträge und Buchbesprechungen holte, spielen auch in "Radio Girls" eine Rolle. Das Buch ist eine Biografie der BBC, beleuchtet einen kurzen Ausschnitt des kurzen Lebens der Hilda Matheson, beschreibt die Anfänge des britischen Radios und stellt insgesamt eine Hommage an die Frauen dar, die halfen, die BBC zu dem zu machen, was sie heute noch ist.

Das Coverbild ist vom Stil an die Zeit angelehnt, wirkt als Blickfang, hat aber mit dem Thema nur soviel zu tun, als ein kirschroter Schmollmund über einem Vintage-Mikrofon abgebildet ist. Mich erinnerte der im Pinup-Stil gehaltene Frauenkopf eher an die Andrew-Sisters als an eine Radio-Sprecherin, die er wohl eher darstellen soll.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 08.11.2020

Beliebt bei Beerdigungen: Always Look at the Bright Side of Life

Book of Songs. Die Playlist für jede Lebenslage. Die wahren Geschichten hinter den 500 ultimativen Hits der Popmusik
0

„Das Book of Songs, die Playlist für jede Lebenslage“ umfasst Kurzporträts von angeblich fast 500 Songs. Gezählt habe ich sie natürlich nicht. Aber es ist eine Liste von Songs aus den vergangenen 60 Jahren, ...

„Das Book of Songs, die Playlist für jede Lebenslage“ umfasst Kurzporträts von angeblich fast 500 Songs. Gezählt habe ich sie natürlich nicht. Aber es ist eine Liste von Songs aus den vergangenen 60 Jahren, die in Kapitel mit – nunja … unorthodoxen - Überschriften unterteilt ist. Wie zum Beispiel „Songs mit großartigem Intro“. Oder „Songs über Geschwister“. Oder „Songs, die eigentlich Kurzgeschichten sind“. Oder „Songs, die in Filmen vorkommen“. Dagegen fehlen Kapitel mit „Songs, die Filme bekannt machten“ oder „Songs, die unser Leben beeinflussten“.
Die Porträts der Songs sind leider so kurz gefasst, dass sie nur einen – ja, notdürftigen Blick auf die Entstehungsgeschichte zulassen. Und nicht alles ist 100-prozentig korrekt wiedergegeben.
Mir fiel auf, dass im Kapitel „Songs über Prostitution“ auch „Just a Gigolo“ aufgeführt ist und dessen Ursprung korrekterweise mit Österreich angegeben ist. Allerdings führt Autor Colm Boyd den Text auf ein Gedicht zurück, was eben nicht stimmt, denn es war ein zu seiner Zeit (1924) schon bekannter Librettist und Schlagertexter (Julius Brammer), der den Text schrieb. Der allerdings erst 1929 vertont wurde.
Und Ja, der von Colm Boyd erwähnte Bing Crosby veröffentlichte tatsächlich 1931 eine englische Version. Aber zeitgleich brachte ihn auch Leo Reimann heraus. Beiden Versionen gemein ist, dass sie nur noch wenig mit dem ursprünglichen Text von Julius Brammer gemeinsam haben. Denn Brammer befasste sich mit dem Niedergang der KuK-Monarchie, dem gesellschaftlichen Werteverfall des Militärs und seiner Offiziere nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg, und der einst bewunderte Leutnant muss sich nun als „Eintänzer“ verdingen, um seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Diese Eintänzer oder Gigolos waren in Tanzlokalen oder auch Tanzschulen angestellt, um mit den Frauen zu tanzen, die es nach den Verlusten der Männer im Krieg in der Überzahl gab. Das hatte erst mal nichts mit dem zu tun, was man heute unter „Callboy“ als Synonym für käufliche Sexualität versteht. Selbst der spätere Filmregisseur Billy Wilder (Some like it hot, 1-2-3) arbeitete Ende der 20er Jahre in Deutschland als Eintänzer.
Zwar sind die Kurzporträts der Songs geeignet, einen ersten kurzen Überblick zu geben, gleichzeitig sind sie aber recht oberflächlich. Nicht alle halten einer tiefer gehenden Überprüfung stand. Im Kapitel „Songs übers Älterwerden“ steht zu dem Lied von Jim Croce „If I could save Time in a bottle“, er, Jim Croce, sei vom Lauf der Zeit inspiriert gewesen, als er den Song geschrieben habe. Was immer das bedeuten mag. Klar ist aber, dass er das Liebeslied nicht für seine Frau schrieb, sondern für seinen Sohn. Das geht auch aus dem Buch von Croce‘s Witwe Ingrid („Thyme in a Bottle – Memories and Receipes“) hervor. Es war, als habe Jim Croce die Vision gehabt, nicht viel Zeit mit seinem Sohn Adrian James verbringen zu können, denn Jim starb 1973 bei einem Flugzeugabsturz.
Insofern sind die Songporträts mit Vorsicht zu behandeln und sollten immer nur als Ansatz für weitergehende Überprüfungen und tiefergehende Forschung genutzt werden.
Andererseits bietet das Buch auch einige ebenso merkwürdige wie skurrile Geschichten rund um die bekanntesten Lieder der neueren Musikgeschichte. So soll beispielsweise der Song „Always Look at the Bright Side of Life“ (aus Monty Pythons „Leben des Brian“) in Großbritannien ein bei Beerdigungen sehr beliebtes Lied sein. Zu „Sound of Silence“ von Simon & Garfunkel schreibt Colm Boyd, dass der junge Paul Simon seine Texte am liebsten im Badezimmer geschrieben habe. Der Akustik wegen: „Der geflieste Raum sorgte für die perfekte Akustik für den Klang seiner Stimme und seiner Gitarre.“

Das in Halbleinen gebundene Hardcover-Buch ist im Prestel-Verlag erschienen und mit Tuschezeichnung von Patricia Ghijsens-Ezcurdia angereichert, die dem 260 Seiten umfassenden Buch eine optische Opulenz verleihen und es als Porträt-Portfolio der dargestellten Sänger interessant machen.
Ein Manko ist, dass ein Register fehlt, das die vorgestellten Songs alphabetisch listet. So ist die Suche nach einem bestimmten Song immer verbunden mit endloser Blätterei.
Positiv ist allerdings, dass die einzelnen Kapitel mit einem Spotify-Code versehen sind, mit dem sie sich schnell und problemlos über den Streaming-Dienst abrufen lassen.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 07.11.2020

The Loop - eine düstere Dystopie

The Loop. Das Ende der Menschlichkeit (The Loop 1)
0

„The Loop“ ist ein dystopischer Thriller. Und wie die meisten dystopischen Thriller erzählt er dem Leser die düstere Vision einer „Was wäre wenn …“ Geschichte.
Vorausgeschickt: Das Erstlingswerk des Briten ...

„The Loop“ ist ein dystopischer Thriller. Und wie die meisten dystopischen Thriller erzählt er dem Leser die düstere Vision einer „Was wäre wenn …“ Geschichte.
Vorausgeschickt: Das Erstlingswerk des Briten Ben Oliver ist spannend, auf neudeutsch sagt man auch ein „Pageturner“, ein Buch also, das den Leser fesselt und ihn daher animiert, eine Seite nach der anderen umzublättern, um weiter zu lesen. Das macht er gut und unterhaltsam.
„The Loop“ - die Schleife – ist ein ein kreisförmig gebautes Jugendgefängnis, in dem die zum Tod verurteilten unter 18 Jahre alten Insassen 24 Stunden am Tag in Einzelhaft sitzen. Lediglich eine Stunde am Tag erhalten sie eine Art Hofgang. Die Zelle öffnet sich und bietet ihnen Zugang zu einem beidseitig mit hohen Mauern abgegrenzten Hof. Mit ihren Nachbarn können sie sich zwar unterhalten, sie können sie aber nicht sehen. Dass die Mauern nicht überstiegen werden, darauf achten die von „Happy“ gesteuerten Drohnenwächter.
Happy ist die allmächtige Instanz. Sie überwacht die Gefangenen, über die jeweils in den Zellen installierte Monitore wird das Leben der Inhaftierten reguliert. Vom Frühstück bis hin zur täglichen „Energiernte“, bei denen den Gefangenen Körperenergie entzogen wird, mit der sich „The Loop“ speist.
Luke Kane übersteht die Tortur nur mit Hilfe der Wächterin Wren. Sie kommt einmal am Tag zu den Gefangenen, unter denen sie ihre Lieblinge hat. Luke gehört dazu. Sie versorgt ihn regelmäßig mit Büchern, und er überbrückt damit die Langeweile und Eintönigkeit. Und die Angst vor dem nächsten „Aufschub“. Durch medizinische Experimente wird den Todeskandidaten jeweils ein halbes Jahr Aufschub vor ihrer Exekution gewährt. Wer sich allerdings weigert, wird darauf hingewiesen, dass die Vollstreckung unverzüglich erfolge. Aber vom „Aufschub“ kehren nicht alle Probanden zurück.
Die Welt ist nach dem verheerenden Atomkrieg – dem dritten Weltkrieg, den niemand gewann, aber alle verloren – in Teilen unbewohnbar. Wo die Atombomben explodierten, liegen die verseuchten, unbewohnten Roten Zonen. Es gibt eine Weltregierung, aber zwei soziale Schichten von Menschen. Die „Regulären“, Menschen zweiter Klasse, und die nahezu unsterblichen „Modifizierten“ mit kinetischen Organen, künstlichen Herzen und Lungen, für die die Insassen in „The Loop“ als Versuchskaninchen bei den jeweiligen „Aufschüben“ dienen.
Nach dem Krieg ist die Welt in Regionen aufgeteilt, und Luke Kane lebt in Region 86, die von Oberwächter Gaylen Rye autokratisch regiert wird. Und dieser Bursche hat Ähnlichkeit mit Donald Trump: „Eigentlich hatte man Gaylen Rye eine deutliche Wahlniederlage vorhergesagt. Doch er gewann haushoch“, beschreibt ihn Ben Oliver. Gaylen Rye sei ein Mann, der genau wisse, wie man seine politischen Gegner gegen einen neuen, gemeinsamen Feind vereine und dies zum eigenen Vorteil nutze. Na, klingelt‘s?
Doch eines Tages versagt das Stromnetz, den Insassen des Loop gelingt die Flucht, und sie gelangen in die Stadt, wo sie feststellen, dass die Bevölkerung mit etwas infiziert wurde, das sie in mordlüsterne „Grinser“ und „Blinzler“, beides erkennbare äußere Symptome der Infektion, verwandelte. Auf der Suche nach dem Gegenmittel geraten Luke Kane und seine Freunde in einen Alptraum, bei dem bald auch der Leser nicht mehr erkennt, was ist Realität und was ist Wahnvorstellung.

Das Buch ist optisch ungewöhnlich, der Schnitt blau eingefärbt, das Cover in seiner Grundfarbe ebenfalls blau und aufwändig mit je einer Coverklappe an Vor- und Rückseite versehen, macht es auch haptisch was her.
Aber man muss sich auch darüber im Klaren sein: Es ist weder hohe Literatur noch von der Idee eine neue Erfindung. Ben Oliver hat das Rad der Dystopie nicht neu erfunden. Eher einen neuen Reifen aufgezogen, und man muss sehen, wie lange das Profil reicht. Denn das Projekt ist als Trilogie angelegt. Der zweite Band wird auf englisch bei Amazon unter dem Titel „The Block“ schon angeboten.
Noch ein Wort zu deutschen Ausgabe von „The Loop“. Ich bin bekennender Anhänger der Kommasetzung aus der Zeit vor 1996. Und da gibt es in „The Loop“ einige Missstände. Dass nun zwei mit und oder oder verbundene Hauptsätze nicht mehr durch Komma getrennt werden, mag noch akzeptiert und der Zeit schuldet werden. Dass Übersetzerin Birgit Niehaus aber den erweiterten Infinitiv mit zu mal durch Komma trennt, mal nicht, in diesem speziellen Falls also Kommas scheinbar willkürlich streut, geht gar nicht. In solchen Fällen rate ich immer: Entweder konsequent oder inkonsequent. Aber nicht ständig hin und her.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere