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Veröffentlicht am 01.12.2020

Nur wer die Vergangenheit kennt...

Marseille.73
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Frankreich und die Immigranten, ein Thema, das bis heute nichts an Brisanz verloren hat, steht einmal mehr im Mittelpunkt ihres neuen Romans und nimmt uns mit in das Marseille Anfang der siebziger Jahre, ...

Frankreich und die Immigranten, ein Thema, das bis heute nichts an Brisanz verloren hat, steht einmal mehr im Mittelpunkt ihres neuen Romans und nimmt uns mit in das Marseille Anfang der siebziger Jahre, für viele Menschen aus dem Maghreb auch heute noch erste Station auf ihrem Weg in ein vermeintlich besseres Leben. Die Stadt ist ein Pulverfass, auf der einen Seite die algerischen Einwanderer, auf der anderen Seite die repatriierten Franzosen, die Pied-noir, die gegen Ende des Algerienkrieges zurück in ihre Heimat drängen.

Mittendrin Daquin, der Commissaire aus Paris, der Außenseiter aus dem Norden, der nicht weiß, wie der südfranzösische Hase läuft, von seinen Vorgesetzten misstrauisch beäugt und deshalb mit Aufträgen betraut, bei denen er sich eine blutige Nase holen soll. Wie beispielsweise bei der Überwachung der Marseiller UFRA, einer rechtsextremen Gruppe von Algerienheimkehrern, denen es nach ihren feucht-fröhlichen Zusammenkünften besonderes Vergnügen bereitet, im Immigrantenviertel die "Indianer“ aufzumischen.

Im Sommer/Herbst 1973 brennt nicht nur in der Hafenstadt die Luft. Die Situation eskaliert, rassistische Gewalttaten häufen sich. Innerhalb von sechs Monaten werden mehr als fünfzig Algerier ermordet. Erschossen, erschlagen, davon ca. 20 allein in Marseille. Und es sind nicht nur die Pied-noir, die dafür verantwortlich sind. Polizei, Justiz und Presse sind mitschuldig, aktiv und passiv daran beteiligt, verschließen die Augen, lassen Ermittlungen ins Leere laufen.

Die Historikerin Dominique Manotti ist eine schonungslose Chronistin, legt die Finger auf die Wunden der französischen Gesellschaft. Entstanden vor langer Zeit, nie vollständig verheilt und immer wieder aufbrechend. Sie schreibt wider das Vergessen und schafft so eine Verbindung zu den rassistischen Exzessen unserer Gegenwart, nicht nur in Frankreich. Unbedingt lesen!

Veröffentlicht am 24.11.2020

Zwischen gestern und heute

Dorfroman
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Tradition und/oder Moderne, zwischen diesen beiden Polen pendeln die beiden Romane, die ich bisher von Christoph Peters gelesen habe, ein Thema, das ihn auch in seinem „Dorfroman“ beschäftigt.

In der ...

Tradition und/oder Moderne, zwischen diesen beiden Polen pendeln die beiden Romane, die ich bisher von Christoph Peters gelesen habe, ein Thema, das ihn auch in seinem „Dorfroman“ beschäftigt.

In der unmittelbaren Nähe eines verschlafenen Ortes am Niederrhein soll ein Kernkraftwerk, ein „schneller Brüter“ gebaut werden, ein Vorhaben das für tiefe Risse in der dörflichen Gemeinschaft sorgt. Auf der einen Seite die Zauderer, die an den Beziehungen und den gewachsenen Strukturen des dörflichen Lebens festhalten wollen, auf der anderen Seite die Fortschrittsgläubigen, die auf Veränderung und wirtschaftlichen Wohlstand hoffen. Und dann gibt es noch eine dritte Gruppe von außerhalb, die Anti-Atomkraft-Aktivisten, von beiden Seiten misstrauisch beäugt, die den Bau um jeden Preis verhindern wollen und mit ihren politischen Aktionen zusätzliche Unruhe in das Dorf bringen.

In diesem Spannungsfeld wächst der Ich-Erzähler auf, der identisch mit dem Autor ist. In drei Zeitebenen – Kind, Teenager, Erwachsener – beschreibt er nicht nur die durch den Kraftwerksbau ausgelösten Veränderungen seiner Heimat, das Auseinanderbrechen dörflicher Strukturen, sondern auch seine persönliche Entwicklung. Die Auseinandersetzungen mit den Eltern, das allmähliche Hinterfragen unumstößlicher Autoritäten, die erste Liebe, die Entwicklung eines politischen Bewusstseins, die Abkehr und die Heimkehr.

Peters‘ melancholischer Rückblick ist nicht nur eine Mischung aus Coming-of-Age Roman und Beschreibung einer politischen Sozialisation, sondern auch ein bemerkenswertes Zeitzeugnis. Und das werden am ehesten diejenigen bestätigen können, die wie der Autor in diesen Jahren aufgewachsen sind. Und übrigens, Kalkar, der „schnelle Brüter“, wurde zwar gebaut, ging aber niemals ans Netz.

Veröffentlicht am 17.11.2020

Mein Sachbuch-Highlight in 2020

The Five
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Zwischen dem 31. August und 9. November 1888 werden im Londoner East End mindestens elf Frauen bestialisch ermordet aufgefunden. Fünf der Opfer, auch als „The Five“ bezeichnet, sind zweifelsfrei einem ...

Zwischen dem 31. August und 9. November 1888 werden im Londoner East End mindestens elf Frauen bestialisch ermordet aufgefunden. Fünf der Opfer, auch als „The Five“ bezeichnet, sind zweifelsfrei einem Täter zuzuordnen. Für die Skandalpresse ein gefundenes Fressen, die dem unbekannte Mörder den Namen „Jack the Ripper“ gibt. Die Spekulationen über dessen Identität beschäftigen Polizei und Öffentlichkeit, und auch heute noch sind unzählige Historiker und Kriminologen damit beschäftigt, dessen Name und Motiv zweifelsfrei zu klären.

Was jedoch unumstritten ist, sind die Namen der Opfer, allesamt Frauen aus der Arbeiterschicht, die aber keineswegs, wie so oft kommuniziert, alle ihren Lebensunterhalt durch Prostitution gesichert haben: Mary Ann „Polly“ Nichols, Annie Chapman, Elizabeth Stride, Catherine Eddowes und Mary Jane Kelly.

Der Werdegang der Frauen ähnelt sich. Die Schulbildung ist, wenn überhaupt, nur rudimentär, die Arbeitsstellen beschränken sich auf Fabriken oder Haushalte. Das eigentliche Ziel ist die Sicherheit durch Heirat und Mutterschaft. Die Armut sitzt mit am Tisch, Gewalt in der Ehe ist gang und gäbe, Fehlgeburten wegen mangelhafter ärztlicher Versorgung eher die Regel als die Ausnahme. Falls eine Frau, warum auch immer, dazu gezwungen ist, sich selbst zu versorgen, landet sie entweder als Obdachlose auf der Straße oder bestenfalls im Armenhaus und muss praktisch jede Arbeit annehmen, um ihren Lebensunterhalt zu sichern. Und manchmal entscheidet sie sich, wie Mary Jane Kelly, für die Prostitution. Alkoholismus ist weit verbreitet, hilft der Rausch doch, das erbärmliche Leben zumindest für kurze Zeit zu vergessen. Fusel wärmt, gerade dann, wenn kein Schlafplatz für die kalte Nacht verfügbar ist, und er betäubt, schenkt tiefen Schlaf. Manchmal zu tief, zumindest für die fünf Frauen, die Opfer des Rippers wurden.

Anhand ausgiebiger Studien von primären und sekundären Quellenmaterialien, aufgeführt in der umfangreichen Bibliografie am Ende des Buches, zeichnet die amerikanische Historikerin Hallie Rubenhold nicht nur die Lebenswege dieser fünf Frauen nach, sondern vermittelt auch einen eindringlichen Überblick über die Lebensbedingungen der proletarischen Frauen während des Viktorianischen Zeitalters. Die Schilderung des Lebens im East End, die Armenhäuser, die Bordelle, als das ist sehr eindringlich und mit viel Gefühl für Umgebung und Atmosphäre beschrieben und zeichnet ein lebendiges, ein beeindruckendes Bild dieser Zeit, die für viele Frauen, wie für Polly, Annie, Elizabeth, Catherine und Mary Jane, die Hölle auf Erden war. Auch wenn man sie weder im Leben noch im Tod wertgeschätzt hat, gibt ihnen die Autorin mit dieser lesenswerten Sozialreportage ihre Würde zurück. Für mich ohne Frage das Sachbuch-Highlight in 2020.

Veröffentlicht am 11.11.2020

Lebendige Vergangenheit

Vergeltung
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Es sind meist historische Ereignisse, die der produktive englische Autor Robert Harris als Grundlage für seine Romane wählt, oft aus der jüngsten Vergangenheit. So auch in seinem neuesten Werk „Vergeltung“, ...

Es sind meist historische Ereignisse, die der produktive englische Autor Robert Harris als Grundlage für seine Romane wählt, oft aus der jüngsten Vergangenheit. So auch in seinem neuesten Werk „Vergeltung“, in dem die Entwicklung und der Einsatz der nationalsozialistischen „Vergeltungswaffe 2“, kurz „V2“, bei den Luftangriffen auf England Mittelpunkt der Handlung ist.

Im Herbst des Jahres 1944 wird London erstmals mit der V2 bombardiert, aber das ist erst der Anfang. Sie ist tückisch, fliegt sie doch lautlos mit Überschallgeschwindigkeit und kann deshalb vor dem Einschlag weder von Radar noch Aufklärern entdeckt und geortet werden Die Resultate sind verheerend, unzählige Menschen fallen diesen Angriffen zum Opfer.

Fünf Tage, zwei unterschiedliche Sichtweisen, wobei der Autor nicht in die Freund-Feind-Gut-Böse Falle tappt, sondern sensibel und deshalb umso eindringlicher mit dem Thema umgeht. Hier der Ingenieur Rudi Graf, Freund und Mitarbeiter Wernher von Brauns, der an den mobilen Startrampen in Scheveningen für die größtmögliche Verwüstung am Zielort verantwortlich ist. Dort Kay Caton-Walsh, Offizierin der Women’s Auxiliary Air Force, (Frauenhilfsdienst der britischen Luftwaffe), die anhand von Fotos den Abschussplatz der V2 ausfindig machen und die Flugbahn berechnen soll. Harris erzählt von gekaperten Kindheitsträumen, von moralischer Verantwortung und der Desillusionierung seiner Protagonisten, von den Schrecken des Krieges, den ausgemergelten Zwangsarbeitern, die unter menschenunwürdigen Zuständen im Außenlager die V2 montieren. Und nicht zuletzt von Wernher von Braun, dem Opportunisten und elitären Günstling der Nationalsozialisten, dessen Mitmenschlichkeit durch seinen wissenschaftlichen Ehrgeiz auf der Strecke geblieben ist.

Ein Stück lebendiger Vergangenheit, gut recherchiert, wie immer routiniert geschrieben, hochspannend durch den Wettlauf gegen die Zeit, durch die der Roman eine ganz besondere Dynamik entwickelt. Lesen!

Veröffentlicht am 10.11.2020

Zur Lage der Nation

Brandsätze
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„Brandsätze“ist nicht nur ein hochaktueller sondern auch ein höchst brisanter Roman, lenkt er unseren Blick doch auf eine zutiefst gespaltene amerikanische Gesellschaft, deren Leben nicht nur von Vorurteilen ...

„Brandsätze“ist nicht nur ein hochaktueller sondern auch ein höchst brisanter Roman, lenkt er unseren Blick doch auf eine zutiefst gespaltene amerikanische Gesellschaft, deren Leben nicht nur von Vorurteilen und Diskriminierung sondern auch von Angst im täglichen Miteinander geprägt ist. Diffuse Ängste, die Reaktionen provozieren, die über Generationen hinweg Familien verändern können und eine Pyramide von Vorurteilen, bei denen die Hautfarbe eine nicht unwesentliche Rolle spielt.

Zwei Familien, Täter und Opfer, ihr Schicksal verzahnt. Beide kommen zu Wort, wobei letztendlich bei genauem Hinsehen beide Familien Opfer sind. Opfer einer Gesellschaft, deren Wohlstand sich auf systemischen Rassismus gründet und der auch heute noch immer gelebt wird.

1991, South Los Angeles. Latasha Harlin. 15 Jahre alt und schwarz, geht in einen Mini-Market, um sich etwas zu trinken zu kaufen. Das Geld in der Hand, bereit zu zahlen, packt sie die Flasche in ihren Rucksack und wird daraufhin von der koreanischen Ladenbesitzerin des Diebstahls verdächtigt. Es kommt zu einem Wortgefecht und einem Handgemenge, das Mädchen reißt sich los, geht Richtung Ausgang und wird daraufhin von ihr in den Hinterkopf geschossen. Latasha ist auf der Stelle tot.

Wenn du schwarz bist, zählt dein Leben in den Vereinigten Staaten nichts. Die Vergangenheit und Gegenwart beweisen es tagtäglich, so auch in dem in den darauffolgenden Prozess. Die Ladenbesitzerin wird zu einer Bewährungsstrafe, gemeinnütziger Arbeit und 500 $ Strafe verurteilt. Soweit der reale Hintergrund, vor dem Steph Cha (Tochter koreanischer Immigranten) in ihrem Roman die Geschichte zweier Familien erzählt, die durch ein Tötungsdelikt auf unheilvolle Weise miteinander verbunden sind.

2019, Los Angeles. In den Straßen schwillt die Wut wegen wiederholter rassistischer Übergriffe durch die Polizei. Ein Vermummter schießt auf eine Koreanerin, die mit ihrer Tochter auf dem Heimweg ist. Es stellt sich heraus, dass das Opfer vor Jahren ein schwarzes Mädchen namens Ava getötet hat und damit quasi ungeschoren davon gekommen ist. Keine Frage für die Polizei, dass der Schütze Rache nehmen wollte. Und das grenzt die Zahl der Verdächtigen auf die Familie Avas ein.